"Warum man Gedichte analysiert"

    • Offizieller Beitrag

    Liebste DeutschkollegInnen,
    nach den Herbstferien werde ich in meiner EF mit der Lyrikeinheit startet und mir schwebt zum Einstieg oder zumindest irgendwann zum Beginn der Reihe, den SchülerInnen einen Text zu geben, der zeigt, warum man in der Schule Gedichte analysiert bzw. warum Gedichte ganz toll sind.
    Ob das ein Sachtext oder ein literarischer Text (Auszug) ist, ist gerade irrelevant. Hat vielleicht jemand von euch einen solchen Text im Kopf oder gar auf Lager?
    Irgendwie ist mir selbst nicht ganz klar, was ich suche, aber ich dachte, vielleicht gibt es ein Mittel, dass die SchülerInnen selbst merken, was sie davon haben (entweder durch einen Sachtext "ahah, vielleicht stimmen ja die ganzen Argumente" oder durch einen literarischen Text, der durch einen Perspektivenwechsel auch was bringen würde.)
    Vielen Dank im Voraus für alle Impulse eurerseits!
    chili


    PS: Warum ich das unterrichte, weiß ich sehr wohl, ich suche halt nach Quellen, die einen anderen Blickwinkel bringen bzw. den SchülerInnen nicht als "Text von Frau Chili" vorgelegt wird.

  • Nicht ganz zu deiner Frage, aber trotzdem ein interessanter Text:


    Bertolt Brecht (1889-1956)
    Über das Zerpflücken von Gedichten (1938)


    Der Laie hat für gewöhnlich, soferner ein Liebhaber von Gedichten ist, einen lebhaften Widerwillen gegen das, wasman das Zerpflücken von Gedichten nennt, ein Heranführen kalter Logik,Herausreißen von Wörtern und Bildern aus diesen zarten blütenhaften Gebilden.
    Demgegenüber muß gesagt werden, daßnicht einmal Blumen verwelken, wenn man in sie hineinsticht. Gedichte sind,wenn sie überhaupt lebensfähig sind, ganz besonders lebensfähig und können dieeingreifendsten Operationen überstehen. Ein schlechter Vers zerstört einGedicht noch keineswegs ganz und gar, so wie ein guter es noch nicht rettet.Das Herausspüren schlechter Verse ist die Kehrseite einer Fähigkeit, ohne dievon wirklicher Genußfähigkeit an Gedichten überhaupt nicht gesprochen werdenkann, nämlich der Fähigkeit, gute Verse herauszuspüren.
    Ein Gedicht verschlingt manchmal sehrwenig Arbeit und verträgt manchmal sehr viel. Der Laie vergißt, wenn erGedichte für unnahbar hält, daß der Lyriker zwar mit ihm jene leichtenStimmungen, die er haben kann, teilen mag, daß aber ihre Formulierung in einemGedicht ein Arbeitsvorgang ist und das Gedicht eben etwas zum Verweilengebrachtes Flüchtiges ist, also etwas verhältnismäßig Massives, Materielles.Wer das Gedicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich nicht nahe. In derAnwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses. Zerpflücke eine Roseund jedes Blatt ist schön.


    aus: Bertolt Brecht, Schriften zur Literatur und Kunst, WerkausgabeSuhrkamp, Bd. 19, 1967, S. 392 f.

    • Offizieller Beitrag

    Nachmachen lassen! :


    ;)

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  • Ich finde den Austausch sehr interessant - allerdings beschäftigen sich all die Texte und Beispiele mit der Frage, warum Poesie eine tolle Sache ist und man sich unbedingt damit beschäftigen sollte; das ist ja auch eine Meinung, die ich uneingeschränkt unterschreibe!


    Aber die Frage, warum man Gedichte analysiert, ist ja eine ganz andere. Und ich vermute, dass die Lerner den Unterschied auch sehen. Für mich persönlich habe ich zwar einige Rationalisierungen hergestellt, warum man denn nun diese seltsame und lebensferne Textsorte "Gedichtanalyse" beherrschen sollte, aber so richtig zufriedenstellend begründen kann ich das nicht - zumindest nicht ehrlich vor mir selbst.


    Ich weiß letztlich nicht, warum die Schule verlangt, dass man Gedichte analysiert.

    • Offizieller Beitrag

    ja, das Problem habe ich auch.
    bei den rhetorischen Mitteln / Stilmitteln merken schon die SchülerInnen, dass sie selbst durch andere Formulierungen etwas anderes erreichen können, also doch Teilziel erreicht.
    beim Metrum hört aber ehrlich gesagt der Spass auf. und das ist genau die Baustelle, die mir auch am meisten am Schaffen macht, da "meine muttersprachliche Lyrik" das nicht (in der Form) hat und ich also blöd gesagt immer denke "wenn die Franzosen ohne auskamen, warum sollte es für die Deutschen so wichtig sein?!"
    (natürlich bin ich da nicht in einer bockigen Haltung, aber mich hat tatsächlich die Schönheit des Metrums noch nicht überzeugen können :( )

  • Gedichte sind gemalte Fensterscheiben!
    Sieht man vom Markt in die Kirche hinein,
    Da ist alles dunkel und düster;
    Und so siehts auch der Herr Philister.
    Der mag denn wohl verdrießlich sein
    Und lebenslang verdrießlich bleiben.


    Kommt aber nur einmal herein!
    Begrüßt die heilige Kapelle;
    Da ists auf einmal farbig helle,
    Geschicht und Zierat glänzt in Schnelle,
    Bedeutend wirkt ein edler Schein,
    Dies wird euch Kindern Gottes taugen,
    Erbaut euch und ergetzt die Augen!
    Johann Wolfgang von Goethe



    Schönheit erkennt man erst vollständig, wenn man analytische Kriterien anlegen kann, könnte eine These sein, die die aufgeworfene Frage beantwortet.
    Ich bin auch kein Freund von akribischer Analyse, die man durchführt bis das Gedicht in allen Einzelheiten und quasi tot vor einem liegt. Aber es ist ja die Frage, wie man mit den Schülern an die Thematik herangeht und wenn man den Schülern vermitteln kann, dass schon eine geringfügige Variation in Wortwahl, Satzbau o.ä. eine andere Wirkung hervorruft, dann ist man doch schon ein gutes Stück des Weges gegangen. ;)

    There is a difference between knowing the path and walking the path. (Matrix)

  • Ich finde den Austausch sehr interessant - allerdings beschäftigen sich all die Texte und Beispiele mit der Frage, warum Poesie eine tolle Sache ist und man sich unbedingt damit beschäftigen sollte; das ist ja auch eine Meinung, die ich uneingeschränkt unterschreibe!


    Aber die Frage, warum man Gedichte analysiert, ist ja eine ganz andere. Und ich vermute, dass die Lerner den Unterschied auch sehen. Für mich persönlich habe ich zwar einige Rationalisierungen hergestellt, warum man denn nun diese seltsame und lebensferne Textsorte "Gedichtanalyse" beherrschen sollte, aber so richtig zufriedenstellend begründen kann ich das nicht - zumindest nicht ehrlich vor mir selbst.


    Ich weiß letztlich nicht, warum die Schule verlangt, dass man Gedichte analysiert.

    Ich denke, dass man zu dem Urteil "Poesie ist eine tolle Sache" eigentlich erst kommen kann, wenn man "Poesie" auch analysiert (hat). Denn wie willst du eine These wie "Poesie ist wertvoll" vertreten, wenn du keine rationalen Argumente für die These anbringen kannst. Die kannst du meines Erachtens aber erst formulieren, wenn du "Poesie" analysiert hast.


    Hm, weiß nicht, ob ich meinen Gedanken richtig rüberbringe. Zweiter Versuch: Wenn man über ein Gedicht sprechen will, muss man irgendeine Art von Verständnis dieses Gedichts haben. Zu sagen "Ich weiß zwar nicht, worum es in diesem Gedicht geht, aber der Inhalt sagt mir nicht zu." oder "Ich weiß zwar nicht, wie das Gedicht aufgebaut ist, aber die Komposition ist sehr gelungen." ist widersprüchlich.


    Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass es auch spannende und sinnvolle, kreative Zugriffe auf Gedichte gibt, aber auch die zielen irgendwie auf ein (wenn auch intuitives) Verständnis ab.


    Analyse würde ich als Überprüfung eines (Vor-)verständnisses sehen, oder als Bewusstmachen/Klären des eigenen Verständnisses eines Gedichts. Sich Rechenschaft ablegen über das eigene Verstehen.


    Und genauso, wie man kein Interesse an unbegründeten Vorurteilen haben sollte, sollte man auch kein Interesse an unbegründeten Urteilen/Thesen über Gedichte haben.


    Deswegen Analyse. Wie exzessiv man das im Unterricht betreibt, steht auf einem anderen Blatt. Aus meiner Erfahrung heraus kann ich sagen, dass es immer wieder Schüler/Kurse gibt, denen das wirklich liegt.

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    • Offizieller Beitrag

    Hm, weiß nicht, ob ich meinen Gedanken richtig rüberbringe. Zweiter Versuch: Wenn man über ein Gedicht sprechen will, muss man irgendeine Art von Verständnis dieses Gedichts haben.

    Warum?
    Ich stehe in modernen Kunstmuseen manchmal vor Dingen, die ich null kapiere (Was ist das? Was soll das?). Deren Arrangement oder Licht/Farbgebung aber irgendetwas bei mir anklickt und die ich dann mit "großartig" kommentiere. Ich habe auch mal ein arabisches Gedicht vorgelesen gehört in einem Film, das ich auch nullkommajosef verstanden habe, dessen Klang, Rhytmus, Ästhetik aber wunderbar zur Atmosphäre des Films passte und irgedwe ein intuitives Verständnis zugänglich machte - ähnlich wie Musik "eine tolle Sache". Um letzteres Ziel zu erreichen braucht mal also kein tieferes Verständnis, dann muss Poesie nur "Knöpfe drücken". Damit würde ich auch immer einsteigen in eine Reihe.


    Das Verständnis - ob nun notwendig oder nicht, es ist halt im Lehrplan - gehe ich an, wenn ich die Schüler schon mehr auf der Gedichte-sind-was-Tolles-Seite gelockt hab (come to the dark side... ;) ). Und das gehe ich dann mit ihnen sportlich an: warum muss man den Mount Everest besteigen? Weil er DA ist. Und wer es geschafft hat, kann stolz auf sich sein. Es ist eine Leistung. Genauso "unsinnig" oder "sinnhaft", je nach Geschmack, ist ja die Frage, warum man Gechicklichkeitsspiele spielt oder Rätsel löst, Schach oder sostwas. Es ist halt DA. Man guckt sichs an. Man versucht, es zu verstehen. Es ist eine Herausforderung.

    WE are the music-makers, and we are the dreamers of dreams,
    World-losers and world-forsakers on whom the pale moon gleams
    yet we are the movers and shakers of the world for ever, it seems.

  • Und das gehe ich dann mit ihnen sportlich an: warum muss man den Mount Everest besteigen? Weil er DA ist. Und wer es geschafft hat, kann stolz auf sich sein. Es ist eine Leistung. Genauso "unsinnig" oder "sinnhaft", je nach Geschmack, ist ja die Frage, warum man Gechicklichkeitsspiele spielt oder Rätsel löst, Schach oder sostwas. Es ist halt DA. Man guckt sichs an. Man versucht, es zu verstehen. Es ist eine Herausforderun

    Genau so habe ich Gedichtanalysen als Schülerin immer betrachtet (und tue es bis heute): Als das Lösen eines Rätsels. Der praktische Nutzen einer Gedichtanalyse liegt dabei meiner Ansicht nach bei Null, da haben auch meine Deutschlehrer mich nie eines besseren belehren können. Man macht es, weil Gedichte da sind und analysiert werden können, und wenn man damit fertig ist, kann man womöglich stolz darauf sein, die verschiedensten Teile und Facetten des gesamten Werkes in ihrer Funktion und deren Zusammenspiel ganz genau verstanden zu haben und so letztendlich zu verstehen, "wie das Auto fährt". Dass dadurch der "Zauber" der auf mysteriöse Weise fahrenden Maschine verschwindet und man geneigt ist nur noch auf das eine komische Knarren im Motor (den unsauberen Reim, etc.) zu achten statt auf das Gesamtwerk, ist leider eine unschöne Nebenwirkung. Deswegen habe ich am liebsten Gedichte analysiert, die ich persönlich total doof fand - so konnte ich mir mit der Analyse nichts kaputt machen. Wenn ich heute gelegentlich mal einen Gedichtband in die Hand nehme oder nach Gedichten zu einem bestimmten Thema google fiele mir nie im Traum ein, ein Gedicht, das mir gefällt, zu analysieren*. Manchmal ist ein gefühlsmäßiges Verständnis, eine rational unbegründete Bewunderung für oder Verbundenheit mit etwas doch viel schöner als das rationale Verständnis eines jeden Details.


    * bei solchen, die mir missfallen, kann ich hingegen meist auf Anhieb einige "Formfehler" benennen - am schlimmsten sind Verstöße gegen das Metrum und unsaubere Reime - alias: die HipHop-Krankheit).

    Warum Trübsal blasen, wenn man auch Seifenblasen kann?

  • Es gibt diesen dicken Wälzer von Robert Gernhardt: "Was das Gedicht alles kann. Alles."


    Der Titel sagt es ja schon. Lohnt sich vielleicht, hineinzuschauen. Im Ton ist es nicht so meins, aber das ist ja jetzt nicht die Frage. Anfangs jedenfalls beschäftigt er sich mit der Frage, warum so viele Prominente so dümmlich auf die Frage nach ihrem Lieblingslyriker antworten ("Lieblings- was?").


    In einer Fotozeitschrift gibt es eine Rubrik mit der Frage: "Warum funktioniert dieses Bild?"


    Man sieht ein Foto und findet es toll, und wenn man keine Ahnung von Bildgestaltung hat, weiß man nicht, warum man es toll findet. Es gibt aber detaillierte Antworten darauf. So wie auch bei Musik, Architektur, Kunst.


    Bei Gedichten ist das ja ebenso, nur scheint dieses Gefallen noch etwas mehr von Person und Tagesform abzuhängen. Trotzdem, auch hier kann man sagen, warum es in einer bestimmten Art und Weise wirkt, und warum es viele Menschen mögen oder doch früher mochten. Warum es aufgehoben wurde, während andere vergessen wurden.


    Ottos Mops, der Bolero von Ravel: Hört man einmal, vergisst man nie wieder. Warum? Wenn man das versteht, versteht man sich selbst besser.

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