Reflexion über das Verhalten: "Warum fragen Sie nur mich?!"

  • Hallo, vielleicht bin ich zu ungeschickt, aber der Fall ist folgender: Ich muss bzw. will in Abständen mit (m)einem Inklusionskind (e-s) reflektieren, wie es sich selbst wahrgenommen hat und wie ich es wahrgenommen habe. So auch am Ende der Klassenfahrt vor wenigen Tagen. Wir kamen ins Gespräch über das Ende der Klassenfahrt und ich fragte, wie die Fahrt den gefallen habe und dann auch wie viele Punkte sie sich denn gebe würde, ob sie sagen würde, sie habe gut mit der Gruppe zusammenge"arbeitet" etc. Statt einer Einschätzung kam aber: "Warum fragen sie das nur mich?" - Ich fragte dann die Ko-Klassenleitung, wie sie sich selbst einschätzen würde usw. und diese begründete, warum sie sich soundsoviel Punkte geben würde und wo sie nicht so gut war usw. Eine Einschätzung war aber auch im Anschluss von dem Kind nicht zu erhalten.
    Wie soll ich auf Fragen wie "Warum nur ich?" antworten? In der Grundschule war diese Einschätzung meines Wissens täglich auf dem Plan, derzeit ist 2x in der Woche eine U-Begleitung bzw. ein Gespräch mit einer Sozialpädagogin die Regel - eigentlich müsste sich das Kind also bewusst sein, dass es in Abständen/regelmäßig reflektieren soll.

  • Die Frage ist gar nicht mal so unwichtig, denn hast du schon mal darüber nachgedacht, dass man solche Reflexionsprozesse, z.B. zum Thema "Wie gut gelingt mir Gruppenarbeit?", auch mit allen anderen durchführen könnte? Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle anderen sich immer sozial erwünscht und zielorientiert verhalten. Im Ref wurden uns damals diese Metareflexionsphasen eingeprügelt und heute finde ich sie gar nicht so schlecht in der Praxis.


    Ich vermute langsam, dass es bei solchen Fragen am Förderschwerpunkt ES liegt. Das Kind fühlt sich meistens schon so, dass irgendwas an ihm falsch ist und er es nicht ändern KANN - und dann kommt nun bei dir die Situation Übergang von der GS, wenn ich das richtig verstanden habe, hinzu. In der weiterführenden Schule hat ja jeder erst mal theoretisch eine neue Chance und er fohlt sich so, als wenn du ihm die nimmst - u.U. auch vor den Auen der restlichen Klasse?


    Hast du es schon mal mit der Antwort a la "Wir führen hier die Arbeit der Grundschule weiter" versucht?


    Ich kenne deine Klasse nicht, daher entscheide du, was zutreffen könnte und worüber du nachdenken könntest.

  • Nein, ich mache das nicht vor den Augen der Klasse. Das Kind hat im Übrigen auch mitbekommen, dass ich mit jedem über sein Verhalten gesprochen habe, gelobt habe, wenn jemand sich gut verhalten hat, und bemängelt und Alternativen gezeigt, wenn sich jemand nicht gut verhalten hat. Ich habe das Kind auch schon vor der ganzen Klasse für soziale Dinge gelobt, aber es weigert sich bisher im Privatgespräch komplett, über sich - sowohl im Guten wie im Schlechten - zu sprechen bzw. sagt, es könne nicht sagen, was gut und was schlecht ist. Auch bei anderen nicht.

  • Habs noch nicht so ganz verstanden. War das ein 4-Augen-Gespräch?


    Möglicherweise wird dem Kind seine Sonderrolle jetzt bewusst oder bewusster und es hinterfragt sie eben.
    Ich versuche bei solchen Gesprächen immer den Hilfs- bzw Unterstützungscharakter hervorzuheben und beginne mit einem Lob (mir ist aufgefallen, dass du in letzter Zeit öfter gut mit anderen zusammen gearbeitet hast etc.)

  • Das habe ich ja auch wiederholt gemacht, auch vor der Klasse gelobt (z.B. dass die Klasse dadurch so sauber ist, dass es immer rumräumt und fegt), habe es im Zweiergespräch gelobt, wenn etwas gut gelaufen ist oder auch Alternativen gezeigt, wie man sich statt mit Spucken auch anders zur Wehr setzen kann. Aber es verweigert halt konsequent, sich selbst zu bewerten - positiv und negativ. Ich verspreche mir durch die Reflexion auch das Erkennen von Zusammenhängen. Wenn es heißt "Keiner mag mich" und auf die Frage, mit wem es denn gerne mehr machen würde, nur zurückkommt "Keine Ahnung, keiner ist blöd, keiner ist nett", dann kommt man nicht weiter.

  • Ich habe gerade auch so einen ähnlichen Fall (auch ES), der, sowie er bemerkt, dass man mit ihm über sein Problem (und so es durch Lob!) sprechen will, zumacht. Ich versuche, ihn nicht als besonders herauszustellen, sondern in innerhalb einer Gruppe positiv aufgefallener Kinder zu loben. Für mich las es sich so, als wenn du nur ihn lobst, aber andere zu diesem Zeitpunkt nicht?


    Ich beiße mir an diesem Schüler auch die Zähne aus zur Zeit. Die Aussage "Keiner mag mich" lässt ja schon tief blicken. Vielleicht solltest du in der Klassengemeinschaft noch mehr fürs soziale Lernen tun?


    Hast du schon "abgeklärt" ob bei dem Schüler zu Hause gerade was los ist?

  • "Warum fragen sie das nur mich?" - Ich fragte dann die Ko-Klassenleitung, wie sie sich selbst einschätzen würde usw. und diese begründete, warum sie sich soundsoviel Punkte geben würde und wo sie nicht so gut war usw. Eine Einschätzung war aber auch im Anschluss von dem Kind nicht zu erhalten.
    Wie soll ich auf Fragen wie "Warum nur ich?" antworten?


    Das Kind spürt deine Unsicherheit. Das ist der entscheidende Punkt- du lässt dich verunsichern. Dieses Kind ist ein Kind und du darfst Fragen stellen, eine Auswertung verlangen, Verhaltenspläne machen und sanktionieren, wie du es für pädagogisch richtig hältst. Je sicherer du bist, desto sicherer wird dieses Kind sein.


    Frage: "Warum fragen Sie das nur mich?"


    mögliche Antworten:


    1. Deine Interpretation ist, dass dieses Kind permanent sinnvolle Gespräche mit dir umgeht und sich dabei um Kopf und Kragen diskutiert. Die Antwort könnte daher knapp ausfallen:
    "Ich habe dir eine Frage gestellt, bitte antworte."


    2. Du hast wirklich und ehrlich das Gefühl, dass Kind macht sich um seine Sonderrolle sorgen- die Antwort könnte dann eine knappe Erklärung sein:
    "Ich habe alle gefragt, jetzt frage ich dich."


    3. Du hast einen guten Zugang zum Kind und sprichst über deine Gefühle: "Weil ich vor 4 Wochen überlegt hatte, dich gar nicht mitzunehmen, weil andere Kinder Angst vor deinen Wutausbrüchen hatten. Ich bin froh, dass du dabei warst und dass es so gut geklappt hat, jetzt bin ich ehrlich auf deine Einschätzung gespannt!"





    Wenn es heißt "Keiner mag mich" und auf die Frage, mit wem es denn gerne mehr machen würde, nur zurückkommt "Keine Ahnung, keiner ist blöd, keiner ist nett", dann kommt man nicht weiter.


    Ich finde deine Gegenfrage gut, weil sie konkret ist. Bleib da dran.
    Du könntest zum Beispiel auch spiegeln. Kind: "keiner mag mich, alle sind doof". Lehrer: "du hast das Gefühl, dass niemand dich mag?" oder "du findest, dass alle Menschen blöd sind?" Und Antwort abwarten- auf Spiegelsätze reagiert jeder.


    Und abschließend: du bist keine Therapeutin. Diese Familie braucht dringend einen Therapeuten aber du bist keiner. Du bist die Lehrerin, die Struktur gibt, gleiche Tagesabläufe bietet, Mathe- oder Deutschkenntnisse vermittelt, konsequent ist und sich ehrlich für das Kind interessiert. Das ist konkrete Hilfe, denn du bist jeden Tag da und das ist wirklich eine ganze Menge im Leben dieses Kindes.
    Aber: spontane Wunder passieren in der Schule nicht.

  • bzw. sagt, es könne nicht sagen, was gut und was schlecht ist. Auch bei anderen nicht.

    Dann gib ihm etwas vor. "Was lief gut" ist tatsächlich schwer für jemanden, der die letzten Jahre immer nur gehört hat, dass er ein Arschloch ist.


    Wenn das Kind ein Ziel für die Stunde bekommt ("ich gebe eine Antwort, anstatt mit einer Gegenfrage zu antworten"/ "ich melde mich"/ "ich spreche freundlich"/ "ich lege sofort mit der Arbeit los"/ "ich frage nach, wenn ich nicht weiter weiß"... oder was weiß ich, was bei euch Thema ist) und es für soundsoviel "hat geklappt" in eine Schatzkiste greifen darf- vielleicht hat dieses Kind dann auch Lust, mitzuspielen.


    Schatzkisten sind bis in die 9. Klasse beliebt, wenn entsprechende Sachen darin liegen...

  • Dann gib ihm etwas vor. "Was lief gut" ist tatsächlich schwer für jemanden, der die letzten Jahre immer nur gehört hat, dass er ein Arschloch ist.
    Wenn das Kind ein Ziel für die Stunde bekommt ("ich gebe eine Antwort, anstatt mit einer Gegenfrage zu antworten"/ "ich melde mich"/ "ich spreche freundlich"/ "ich lege sofort mit der Arbeit los"/ "ich frage nach, wenn ich nicht weiter weiß"... oder was weiß ich, was bei euch Thema ist) und es für soundsoviel "hat geklappt" in eine Schatzkiste greifen darf- vielleicht hat dieses Kind dann auch Lust, mitzuspielen.


    Schatzkisten sind bis in die 9. Klasse beliebt, wenn entsprechende Sachen darin liegen...

    Vielen Dank für die Antwort. Eine kurze Rückfrage: Von was bezahlst du solche Schatzkisten? Von der Schule bekäme ich für so etwas keinen Cent und mein eigenes Geld will ich dafür nicht hinlegen. Ich könnte natürlich Dinge sammeln, die ich so bekomme, aber es laufen einem ja nicht ständig Sachen über den Weg.

  • Ich bezahle das tatsächlich selber. Ich kaufe etwa einmal im Jahr bei einem 99-Cent-Discounter Zeug für rund 7 Euro. Radiergummi in Form von Skateboards im 3er-Pack, Kugelschreiber, die aussehen wie eine Spritze, Bleistifte mit Zebramuster, Tattoos, die man auseinanderschnippeln kann, Maoam, Sammelkarten, so Zeug halt in größeren Packungen. Macht mir aber auch einfach Spaß...
    Oder auch sehr beliebt und kostenlos: Gutscheine für Hausaufgabenfrei/ Freiminuten am Klassen-PC/ einen Tag lang mit dem Handy in den Pausen Musikhören dürfen etc., also sonst eigentlich "verbotene" Dinge.

  • Ich bezahle das tatsächlich selber. Ich kaufe etwa einmal im Jahr bei einem 99-Cent-Discounter Zeug für rund 7 Euro. Radiergummi in Form von Skateboards im 3er-Pack, Kugelschreiber, die aussehen wie eine Spritze, Bleistifte mit Zebramuster, Tattoos, die man auseinanderschnippeln kann, Maoam, Sammelkarten, so Zeug halt in größeren Packungen. Macht mir aber auch einfach Spaß...
    Oder auch sehr beliebt und kostenlos: Gutscheine für Hausaufgabenfrei/ Freiminuten am Klassen-PC/ einen Tag lang mit dem Handy in den Pausen Musikhören dürfen etc., also sonst eigentlich "verbotene" Dinge.

    Finde ich eine tolle Idee :) Zum ersten Mal bereue ich, an einer Berufsschule zu sein...

  • Ich denke, dass du dem Kind auch sagen kannst, dass du diese Reflexionen für wichtig erachtest, falls Pausenbrots Vorschläge nicht funktionieren sollten. Das glaube ich zwar nicht, denn sie sind sehr gut.


    Wenn ein Kind positive Rückmeldungen direkt nicht aushalten kann, kannst du diese auch indirekt, über eine dritte Person, weitergeben. Den Rahmen musst du entscheiden, ob vor der Klasse oder nur in seiner Hörweite oder indem die dritte Person dem Kind das Wesentliche mitteilt. Du kannst beispielsweise der nächsten Lehrkraft sagen, was gut geklappt hat, oder der Begleitung. So muss das Kind nicht reagieren, bekommt aber trotzdem mit, was gut war.
    Die Reflexion kannst du auch für die nächste Zeit, beispielsweise bis zu den nächsten Ferien, selbst vorgeben. Da findet das Kind einen Orientierungsrahmen und lernt deine Einschätzung besser kennen. Es bekommt mehr Gefühl und Vokabular für eigene Rückmeldungen. Da kannst du klar sagen, dass du das jetzt bis XY machst, dann aber erwartest, dass es sich selbst einschätzt (gerne auch mit Unterstützung?) und du dann deine Einschätzung ihm mitteilst.

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