Gibt es einen Zwang zur Differenzierung? Probleme mit einem Kollegen

  • Ich nehme an, meistens der fehlende HS10, den die Ausbildungsbetriebe gerne mindestens sehen würden. Kommt sicher auf die Region an.

    Bei uns werden, gerade im gewerblichen Bereich, händeringend Azubis gesucht. Die Betriebe kommen da mit der Auftragslage kaum hinterher. Die Azubis, die sie bekommen sind teilweise dauerhaft vom Unterricht freigestellt, weil sie im Betrieb gebraucht werden. Sitzenbleiben leistet sich da auch kein Betrieb, denn im Endeffekt ist da die Arbeitsleistung wichtiger als die schulische Leistung.


    Die Sitation ist doch dem Problem sehr entgegenkommend.

  • svwchris: Ich verstehe absolut dein Problem und frage mich, ob es überhaupt eine Lösung hierfür gibt. Denn im Prinzip gibt es nur zwei Handlungsmöglichkeiten: 1. Unterricht herunterbrechen und da anknüpfen, wo die Schüler stehen. 2. Den Schuh wie bisher weiterziehen, sodass am Ende des Schuljahres alle zu erreichenden Unterrichtsziele erreicht wurden.
    Bei der Nr. 1 hätten die Schüler zwar Lernzuwachs und eine angenehme Lernatmosphäre, sie müssten aber mit dem Widerspruch leben, dass sie am Ende dennoch eine 5 oder 6 erhalten würden, da sie die angestrebten Unterrichtsziele nicht erreichten (wobei man natürlich fairerweise dazu sagen muss, dass ihnen nie die Chance hierzu gegeben wurde, da das Niveau von Anfang an zu niedrig angesetzt wurde). Das wäre, wie als wenn ein Fahrschüler von seinem Lehrer immer nur Positives hört, entsprechend motiviert in die Fahrprüfung geht und in dieser durchfällt - da wäre ich mächtig sauer auf den Fahrlehrer, weil dieser im Prinzip nicht mit offenen Karten spielte.
    Bei der Nr. 2 hättest du ggf. hohe Durchfallquoten und eine demotivierte Schülerschaft, weil ihnen die Option auf Erfolgserlebnisse fehlt. Die Schüler hätten zwar theoretisch eine realistische Chance auf eine 1 und der Lehrer kann von sich behaupten, die angesetzten Unterrichtsziele erreicht zu haben und die Schüler angemessen auf Übergänge und Prüfungen vorbereitet zu haben, aber das dürfte in dem Zusammenhang auch nur bedingt zufriedenstellen, oder?

  • Leider hat unser Lehramtsstudent die 3. Möglichkeit vergessen und diese ist heute wohl die häufigste Alternative:


    Der Unterricht wird heruntergebrochen, um alle Schüler mitzunehmen. Leider werden in Folge des vereinfachten Unterrichts dann auch die Prüfungsanforderungen heruntergeschraubt, da es sonst ja sehr unbequem wird, wenn man Klausuren mit so vielen 5ern und 6ern zurückgeben muß. Am Ende haben alle Schüler formal auf dem Papier den Abschluß bekommen und können trotzdem nichts. So schlagen sie dann in der weiterführenden Schule bzw. Klasse auf, sind wieder in keinster Weise in der Lage dem eigentlich zu fordernden Niveau zu folgen und das Spielchen beginnt von vorne.


    Und am Ende wundern sich alle, daß die Wirtschaft sagt, daß die heutigen Schüler nicht ausbildungsreif sind usw. usw. ... Kuschelpädagogik mag kurzfristig für den einzelnen Lehrer bequem sein, langfristig führt sie aber zu gewaltigen Problemen.


    Meine damaligen Universität pfeift so z.B. inzw. schon auf die Allgemeine Hochschulreife als Zugangsvoraussetzung, Fachhochschulreife reicht. Aber dafür sortieren sie in den ersten beiden Semestern selber aus, weil die Zeugnisse der angehenden Studenten eh nichts mehr über deren Leistungsfähigkeit aussagen. So kommt es dann, daß in manchen technischen Studiengängen von 1600 Studienanfängern am Ende nur 32 Absolventen übrig bleiben. Über 50% sind schon nach den Weihnachtsferien weg, die schreiben nicht eine einzige Klausur an der Uni, weil sie selber schon erkennen, daß sie das geforderte Niveau nicht ansatzweise erreichen. Ist es das, was die Kuschelpädagogen hier wollen?


    Bei den Azubis in den technischen Berufen sieht es ähnlich aus. Klar ist es bitter einen Azubi im 3. Versuch durchfallen zu lassen, weil er dann endgültig draußen ist. Aber wenn er als Elektriker, Gas-/Wasserinstallateur oder KFZ-Mechaniker besteht, arbeitet er danach an wirklich sicherheitsrelevanten Dingen und da sind Fehler einfach nicht akzeptabel! Oder anders: Als mich die Schulleitung mal fragte, ob das Durchfallen denn wirklich sein müsse, habe ich nur noch gefragt, ob er die Azuis an die Radbolzen seines privaten PKWs und an die Gasinstallation in seinem privaten Wohnhaus ran lassen würde ohne Aufsicht, weil wenn sie bei uns bestehen, dann dürfen sie ja. Danach kam nur noch das große Schweigen!

  • plattyplus: Ich sage mal so: Bei kleinen Kindern kann ich diese Vorgehensweise noch irgendwie vorstehen (wobei auch an manchen Grundschulen inzwischen deutlich mehr Wert auf eigenverantwortliches Lernen durch Wochenplan-, Portfolioarbeit und Selbstevaluation gelegt wird), bei Jugendlichen - die sich einem Abschluss, der schlichtweg die Beherrschung bestimmter Kompetenzen attestiert, nähern (unabhängig, ob Berufs-, H/R-Abschluss oder Abitur) - jedoch nicht mehr. Ich erinnere mich noch an eine Unterrichtssituation in der 10. Klasse (E-Phase), in der unsere Deutschlehrerin zu uns meinte, dass sie hier Übungsmaterial zu Sek I-Themen (ich meine, dass da sowas wie Kommasetzung oder Konjunktiv dabei war) habe und wir können uns davon nehmen und es eigenständig beareiten, wenn wir Bedarf hieran hätten. 5 Minuten später und es ging mit dem normalen Unterricht weiter. Das hat auch keinen von uns damals gestört, weswegen ich nicht glaube, dass es nötig ist, den Unterricht in den entsprechend höheren Jahrgangsstufen derart herunterzubrechen - man schneidet sich nur selbst ins eigene Fleisch und schadet den Schülern eher noch als dass man ihnen hilft (siehe dein Beispiel mit den Azubis in technischen Berufen).

  • Hier wird teilweise Differenzierung und zieldifferenter Unterricht durcheinander geworfen.
    Natürlich könnte dein Kollege einzelnen Schülern Basismaterial zur Verfügung stellen, welches sich konkret auf deren fehlendes Wissen bezieht. Diese Grundlagen müssten dennoch zusätzlich zu den aktuellen Themen bearbeitet werden. Er darf sie nicht zieldifferent unterrichten und andere Arbeiten stellen. Ein zieldifferenter Unterricht gilt nur für Schüler mit entsprechendem Förderbedarf. Deine Vorstellung von Differenzierung (Hauptsache sie haben einen Lernzuwachs und schaffen es vielleicht in Runde 2) ist also keinesfalls möglich. Sicherlich haben die Fachschaften ein internes Curriculum erstellt und auch daran muss sich der Kollege halten.
    So viel zur rechtlichen Lage. Rein vom kollegialem Umgang: Ich stelle den Unterricht meiner Kollegen nicht in Frage, besonders nicht, wenn ich lediglich Schüleraussagen als Basis habe. Was soll das Ziel des Gesprächs sein? Unmut? Wenn mich Kollegen auf diese Art ansprächen, fände ich das mehr als anmaßend.

  • Ich schließe mich größtenteils MrsPace und plattyplus an. Folgendes ist mir noch wichtig:


    1. Ich arbeite mich nicht ab an der verlangten Quadratur des Kreises!


    2. Auch mit geschenkten Abschlüssen können wir Schüler nicht vor der Konkurrenz am Arbeitsmarkt schützen!



    Egal ob Ihr realistische Noten gebt und Euch damit unbeliebt macht, oder Schüler obwohl sie kaum Deutsch, Lesen und Schreiben können, bestehen lasst (wie es von der Politik scheinbar implizit verlangt wird) - lasst Euch nicht kaputt machen von Mehrarbeit!

  • Erkundige dich doch mal, ob es nicht möglich ist, dass die Schüler nicht in Englisch geprüft werden müssen, wenn sie erst 1 oder 2 Jahre hier sind. Das ist hier bei uns möglich. Dann ist die 1. Fremdsprache die Herkunftssprache und es gibt spezielle Herkunftssprachenprüfungen für Schüler, die zu kurz in Deutschland sind.
    Vielleicht gibt es so eine Möglichkeit ebenfalls in eurem Bereich.

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