Gedicht: Vers und / oder Zeile?

  • Zu meinen Schul- und ich meine auch Unizeiten hieß es bei einem Gedicht immer nur "Vers". Inzwischen findet man in den Deutschbüchern öfters auch "Zeile" - für mich klingt das aber 'falsch'. Sprecht ihr von "Versen" oder von "Zeilen"?

    • Offizieller Beitrag

    Ich sprech von Versen und erklär den Schülern auch immer, dass das Vers heißt. Wenn dann in den Deutschbüchern Zeile steht, sag ich, dass das eine Vereinfachung ist, die ich in der Arbeit aber nicht lesen möchte und wir uns in der korrekten Sprache im Umgang mit Gedichten üben wollen. Liegt aber auch daran, dass das bei mir auch immer in Schule und Uni als Vers galt und nicht als Zeile.

  • So mache ich es bisher auch, "Zeile" kann ja allenfalls eine Verkürzung von "Verszeile" sein. Ich weiß aber eben nicht, wie sehr man darauf bestehen kann, wenn die Deutschbücher es zunehmend anders zeigen...

  • Für mich ist "Zeile" viel zu allgemein! Prosatexte sind ja auch oft mit Zeilen(!)nummerierung versehen, bei lyrischen Texten bestehe ich auf dem Fachbegriff "Vers".

    • Offizieller Beitrag

    Ich bestehe auch auf dem Begriff "Vers" und sollte mir ein Schüler mit dem Buch-Argument kommen, werde ich ihm erzählen, dass er
    a) den Test schreiben muss, der von mir entworfen und korrigiert wird, er sich also nach meinen Vorgaben zu richten hat und
    b) dass auch in Büchern gelegentlich mal Fehler vorkommen.
    Liebe Grüße
    Hermine

  • Ok. (*tiefdurchatme*)


    Der genaue Unterschied zwischen "Vers" und "Zeile" ist kategorial, der erste Begriff bezieht sich auf Metrik und Versmaß, der zweite auf den gedruckten Textsatz. Etymologisch zeichnet der Begriff - von lat. "vertere", "wenden" - das Bild des Ochsengespanns, das am Ende der Ackerfurche wendet und auf parallelem Wege zurückgeht. Der Begriff des Verses in der klassischen Terminologie stellt eine eine Sammeleinheit dar, in der eine nach der Zahl der betonten und unbetonten Silben definierte Rhythmusfolge eingeordnet ist: Pentameter, Hexameter etc. In diesem Begriffsverständnis bezeichnen "Zeile" und "Vers" allerdings keineswegs das gleiche. Das Hildebrandslied enhält in moderner Transkription z.B. jeweils zwei von einer Zäsur getrennte Verse in einer Zeile (von Zeile zwei an):

    Zitat

    Ik gihorta dat seggen,
    ðat sih urhettun - ænon muotin,
    Hiltibrant enti Haðubrant - untar heriun tuem.


    Die Manuskripte alter Lyrik zeigen niemals einen Textsatz, bei dem Verse zeilenweise angegeben werden. Meines Wissens gibt es das erst seit Beginn der Frühmoderne. Das Beowulf-Lied z.B. ist einem fortlaufenden Fließtext individueller Worte geschrieben, wobei ein Vers zeilenübergreifend im Manuskript niedergeschrieben sein kann. Noch schöner und beeindruckender sieht man das Problem z.B. hier in einem spätantiken Manuskript der Georgica von Vergil:


    [Blockierte Grafik: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/82/Vergilius_Augusteus%2C_Georgica_141.jpg]


    In der scriptura continua, die man hier sieht, wird der Begriff der Zeile genauso wie der der visuellen Wortgrenze bedeutungslos, weil die Textstruktur und damit Vers und Versmaß nur noch nach morphologischen Gesichtspunkten festgestellt werden kann - was eine Zeile ist und was nicht, wird zu einem Zufallsprodukt, dass von der Hand des Schreibers und der Größe der Schreibfläche abhängt.


    Bei Lyrik, die nicht mehr den klassischen Konventionen von Vers und Versmaß folgt - und das ist seit dem Beginn der Moderne bei den wichtigen Lyrikern ein nicht unbeträchtlicher, wenn nicht gar der überwiegende Teil - wird es allerdings sehr problematisch von "Versen" zu reden, wenn man sich auf vertikal angeordnete Textelemente des Gedichts bezieht. Wo sind die Verse bei diesem wunderbaren poème en prose von Baudelaire? Ich hänge mich mal aus dem Fenster und behaupte, dass es überhaupt keinen Vers enthält.

    Zitat

    LE CHIEN ET LE FLACON
    « — Mon beau chien, mon bon chien, mon cher toutou, approchez et venez respirer un excellent parfum acheté chez le meilleur parfumeur de la ville. »
    Et le chien, en frétillant de la queue, ce qui est, je crois, chez ces pauvres êtres, le signe correspondant du rire et du sourire, s’approche et pose curieusement son nez humide sur le flacon débouché ; puis, reculant soudainement avec effroi, il aboie contre moi en manière de reproche.
    « — Ah ! misérable chien, si je vous avais offert un paquet d’excréments, vous l’auriez flairé avec délices et peut-être dévoré. Ainsi, vous-même, indigne compagnon de ma triste vie, vous ressemblez au public, à qui il ne faut jamais présenter des parfums délicats qui l’exaspèrent, mais des ordures soigneusement choisies. »


    Oder die concrete poetry - ist in diesem schönen Gedicht von e.e.cummings "in Just-" tatsächlich ein Vers? Warum sollte das so sein? Abgesehen davon, bei der Beschreibung eines solchen Gedichtes sich aus kategorialen Gründen auf eine rein klassische Terminologie zu beschränken, würde den begrifflichen Zugang zu wesentlichen Formelementen der Texte verschließen.


    [Blockierte Grafik: http://bluebicicletta.files.wordpress.com/2011/03/in_just_ee_cummings_1.jpg]


    Ganz ähnlich bei meinem persönlichen Lieblingsgedicht, "The land of fuck" von Erica Jong - hier ein Ausschnitt:


    "too long" ist kein Vers - es handelt sich um eine Zeile, die zwei Worte enthält und die je nach Rezeptionsart eine optische oder eine rezitative Zäsur am Anfang und am Ende impliziert, wobei die Entscheidung, welche der beiden Silben betont wird, der Interpretation überlassen bleibt. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den letzten Beiden Zeilen durchaus um Verse, nämlich um jambische Dimeter. ("daDAdaDA ^ / daDAdaDA v", die Pfeile zeigen Stimmhebung und -senkung an.)


    Die klassische Terminologie der Poetik ist hier also nur sehr begrenzt hilfreich und die Frage, ob es sich bei einer Texteinheit um eine Zeile, einen Vers oder um beides gleichzeitig, nämlich eine Verszeile handelt, ist keineswegs trivial und sicherlich nicht so aus dem Handgelenk zu bestimmen: für Schüler selbst der Oberstufe dürfte das schwierig bis unmöglich sein, für manche Kollegen, die sich im Rahmen ihres Studiums nur mit den Grundlagen der Poetik beschäftigt haben, wohl immerhin sehr problematisch.


    Zusammenfassend - eine didaktische Reduktion, die als Lerninhalt die Aussage hat, dass Zeile und Vers zwar prinzipiell das gleiche sind, dass man bei Gedichten aber den Begriff Vers benutzen muss, weil das eben der Fachbegriff ist, ist bis an die und vielleicht sogar bis jenseits der Grenze der Fehlerhaftigkeit verkürzend. Als Literaturwissenschaftler habe ich bei solchen Aussagen extremes Bauchgrimmen.


    Aber wo tragen diese Überlegungen jetzt didaktisch hin? Ich denke, im Vordergrund stehen beim Umgang mit Gedichten nicht so sehr terminologische Klimmzüge, sondern die Überlegung, dass die Schüler einen Verständniszugang zu den Inhalten von lyrischen Texten und zu den ästhetischen Qualitäten eines Gedichtes erlangen sollen. Die poetologische Begrifflichkeit ist da nichts weiter als ein begriffliches Werkzeug. Terminologische Genauigkeit sollte da gelehrt werden, wo fehlende terminologische Präzision zu Missverständnissen führen kann. Der Unterschied zwischen "Strophe" und "Vers" ist wichtig und für Schüler ohne Probleme nachzuvollziehen, auch wenn die beiden Begriffe im populären Sprachgebrauch regelmäßig miteinander identifiziert werden. Anbetracht der Kontraktion "Verszeile" und anbetracht der Tatsache, dass der populäre, vereinfachende Sprachgebrauch beim Umgang mit Gedichten völlig unproblematisch zu begrifflicher Eindeutigkeit wird finde ich die Verwendung von "Zeile" nicht sonderlich dramatisch. Wenn der Schüler von Zeile 5 des Gedichts redet, weiß jeder was gemeint ist. Wo ist das Problem? Mein literaturwissenschaftliches Begriffsverständnis wird dadurch jedenfalls nicht angekratzt.


    Nele

    Einmal editiert, zuletzt von neleabels ()

  • Wow, da hatte wohl jemand Langeweile... :D


    Aber danke! Soviel habe ich darüber nicht gewusst...

    • Offizieller Beitrag

    Nele: Sehr spannend und lehrreich. Danke!
    Ich persönlich könnte übrigens durchaus in dem Gedicht von Baudelaire Verse entdecken- aber das wird dann meine individuelle Lesart sein.
    Mit dem Einsatz deiner Erklärung im Unterricht bin ich allerdings völlig überfordert- wie du selbst schreibst, werden Schüler diese Erklärung nicht verstehen.
    Was aber, wenn die genannte "Zeile 5" nun eben doch ein Vers ist? Oder wenn beispielsweise die Hälfte der Klasse "Vers" schreibt und die andere "Zeile"? Wer hat dann Recht?
    (Ich weiß jetzt schon genau, dass es auf mein eventuelles "das ist eben beides richtig" Stirnrunzeln in Form von "Die hat doch keine Ahnung und versucht es nur zu vertuschen" geben wird)

  • Ich persönlich könnte übrigens durchaus in dem Gedicht von Baudelaire Verse entdecken- aber das wird dann meine individuelle Lesart sein.


    Na, tant mieux! Dann zeigt sich da ja sehr schön, wie Verse ein Strukturelement der fortlaufenden Sprache sind. Meiner Meinung nach gehört die rhythmische Strukturierung von Sprache von Versen eigentlich in das weitere Feld der Rhetorik. Elegant verfasste Prosa kann immer Verse enthalten und ohne Reimschema fällt das vielleicht nicht einmal auf.


    Zitat

    Mit dem Einsatz deiner Erklärung im Unterricht bin ich allerdings völlig überfordert- wie du selbst schreibst, werden Schüler diese Erklärung nicht verstehen.
    Was aber, wenn die genannte "Zeile 5" nun eben doch ein Vers ist? Oder wenn beispielsweise die Hälfte der Klasse "Vers" schreibt und die andere "Zeile"? Wer hat dann Recht?
    (Ich weiß jetzt schon genau, dass es auf mein eventuelles "das ist eben beides richtig" Stirnrunzeln in Form von "Die hat doch keine Ahnung und versucht es nur zu vertuschen" geben wird)


    Der ganze Sermon, den ich da oben abgelassen habe, ist vielleicht für einen Philologen so faszinierend wie für einen Philatelisten die Zackenzahl des grünen Doppelkreuzers von 1803 oder so ähnlich. Aber das ist gehört nun wirklich nicht in die Allgemeinbildung, auch nicht in die erweiterte. Wie gesagt, der Lyrikunterricht in der Schule hat nach meinem Verständnis das Ziel, dass Schüler der lyrischen Sprache etwas abzugewinnen lernen, vielleicht sogar damit ihre eigenen Sprachmöglichkeiten erweitern. Fachterminologie hat keinen Selbstzweck. Fechtermini werden geschaffen, damit man Beschreibungswerkzeuge an der Hand hat - der Unterschied zwischen Vers, Verszeile und Zeile wird dann relevant und der korrekte Gebrauch kritisch, wenn man zwischen rhythmisierter Sprache und Schriftsatz im konkreten Fall unterscheiden will. Ansonsten ist es im Regelfall wirklich gleichgültig - bei den meisten Gedichten in der Schule sind Verse Zeilen und Zeilen sind Verse.


    Für den Fall, dass eine Zeile tatsächlich mal kein Vers ist und der Schüler nennt es "Vers" - nun ja, so what? Sehr sinnvolle Dinge über ein Gedicht kann man auch in einer Sprache unterhalb vollwissenschaftlichen Präzisionsgrades sagen. In der Schule begegnet man doch regelmäßig starken fachwissenschaftlichen Verkürzungen, die völlig korrekt der viel wichtigeren didaktischen Reduktion geschuldet sind. Das war für mich im Referendariat sehr schwierig, gerade im Fach Geschichte. Bei der Lektüre von Schulgeschichtsbüchern hatte ich regelmäßig das Gefühl "Waaah! Das kann man so doch nicht sagen, das ist doch viel zu vereinfachend" oder "Jaaaaa, prinzipiell vielleicht, aber..." oder "*Stöhn* Hier zeigt sich wieder die ideologisierte Geschichtsauffasung von vor 30 Jahren, welcher verstaubte Studienrat ist denn dafür verantwortlich!?!" und so.


    Ganz praktisch sehe ich das gelassen. Wenn ich Lyrik unterrichte, benutze ich hauptsächlich den Begriff "Vers", wenn ich mal "Zeile" sage oder wenn Schüler den Begriff verwenden, ist es in Ordnung. Hätte ich ein Lehrbuch, würde ich mich der Einfachheit halber an den Sprachgebrauch des Lehrbuches halten. Sollte mich mal jemand nach dem Unterschied fragen (ist bis jetzt noch nicht vorgekommen) werde ich das so gut wie möglich erklären. Ansonsten verfahre ich beim Unterrichten wie immer damit, dass mir die Frage "plausibel oder unplausibel?" viel wichtiger ist als die Frage "richtig oder falsch".


    Nele

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