Sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich Lernen versus kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten

  • [ironie]Ich weiß nicht, was du hast: In Kunst können sie doch sicher etwas Malen und dafür dann mindestens die 4 bekommen? Und in Musik mal was singen?
    Bei uns gibt es noch den Sachunterricht, da können sie dann mündlich auch noch was ausgleichen. Oder sie sind sportlich? Man muss die Stärken eben suchen!
    [/ironie]
    Ja, das widerspricht sich. Leider wandelt sich die Ansicht zu LRS + Rechenschwäche derzeit auf Basis finanzieller Möglichkeiten. Das ist sehr ätzend. Das ganze wird dann als "kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten" (ICD-10-Diagnose F81.3) umschrieben.
    Mir wurde in Bezug auf meinen einen Schüler gesagt, dass die Schule (speziell ich) schuld sei, wenn er innerhalb von 3 Jahren nicht vom Niveau Klasse 1 auf das Niveau Klasse 5 kommt. Ganz toll.


    Dafür muss eigentlich ein eigener Thread her!!
    Finde ich sehr interessant.
    Wie sind eure Erfahrunge damit?
    Genau diese ICD-10 Diagnose F 81.3. ist mir jetzt auch untergekommen.
    Heißt das mit anderen Worten, man soll das Kind dann mit dem Nachteilsausgleich durchziehen (Lesen, Rechtschreiben als Note aussetzen), Mathe vielleicht die 5, aber Englisch, SU und andere Fächer auf 4 heben???
    Ist das so gewollt, dass es weniger LB Kinder gibt??

  • Ja, die Kinder werden bei uns durchgezogen oder "mitgeschleift".
    Lesen / Rechtschreiben: Note aussetzen oder entsprechender Nachteilsausgleich (längere Bearbeitungszeit, Nachschlagewerke zur Kontrolle, größere Schrift, einfacherer Satzbau, teilweises Ersetzen schriftlicher durch mündliche Leistungen). Das wird auch in allen anderen Fächern, in denen gelesen und geschrieben wird, umgesetzt: Sachunterrichtstests, Musiktests, Englisch...
    Mathematik: Note aussetzen (bei uns möglich) oder Nachteilsausgleich (mehr Zeit, Übersichten über Umrechnungen oder Einmaleinstabellen, Addition und Subtraktion nur ohne Übergänge, in schweren Fällen rechnen die Kinder in einem sehr viel kleineren Zahlenraum, 100 statt 1 Million z.B.)


    Wir hatten bisher wenige dieser Schüler mit dieser Diagnose. 1 bis 2 pro Jahrgang. In meiner jetzigen Klassenstufe sind es nun weitaus mehr, davon 2/3 in meiner Klasse. Das hat etwas mit der Klassenzusammensetzung zu tun und wurde notgedrungen in Kauf genommen. Ich empfinde es als ein "Durchschleifen" und ich sehe immer nur diesen finanziellen, personellen, materiellen Mangel und die Kurzsichtigkeit der Eltern vor mir. Ganz schlimm empfand ich VERA, denn da müssen diese Kinder mitmachen und werden normal gewertet. Meine Klasse zieht dadurch die gesamte Schule noch mal nach unten. Spannenderweise sind meine Schüler im Bereich "Muster und Strukturen" - also dem Bereich, der logisches Denken und damit einen Bereich der Intelligenz mittestet - viel schwächer als die Parallelklassen.

    SCHOKOEIS!


    Ich lese und schreibe nach dem Paretoprinzip.

  • Das Thema brennt mir wirklich unter den Nägeln.


    Also nochmal zum Verständnis:
    Es gibt Kinder, die sind in allen Fächern schwach, werden aber nicht als lernbehindert bezeichnet, weil der IQ vielleicht doch noch als "normal" gilt oder weil sie irgendein ärztliches Gutachten haben, wo das drin steht.
    Und diese Kinder werden dann mit dem Nachteilsausgleich für LRS durchgezogen.


    Ich finde das wirklich hoch interessant. War das schon immer so, oder kam das erst in den letzten Jahren?
    Bin da echt ziemlich baff. Bisher dachte ich immer, LRS oder Dyskalkulie wäre eine Teilleistungsstörung und man kann nicht beides haben. Aber wenn man sich den "LRS-Erlass" für NRW anguckt, steht da auch nichts von Teilleistungsschwäche drin, oder?
    Und immer mehr Kinder sollen LRS haben, obwohl sie insgesamt schon sehr schwach sind. Das ist also dann wirklich so legitim??

  • F 81.3.

    Ach, dass es dafür jetzt eine eigene ICD-10 gibt, wusste ich gar nicht. Bisher habe ich in solchen Fällen immer zwei Atteste bekommen.
    Aber die Diagnose Lernbehinderung ersetzt das in meinen Augen nicht. Denn ich habe durchaus Schüler, deren Rechtschreibung ziemlich ok ist, die aber keine Aufgabenstellungen verstehen und auch große Probleme mit der Logik haben. - Auch und gerade in Sachfächern. Die wissen schlicht nicht, was sie tun sollen. (Auch dann nicht, wenn man die Aufgabenstellung einfacher formuliert oder mündlich erklärt.) Sie können auch selbst keine mündlichen oder schriftlichen Erklärungen abgeben.


    Ich empfinde es übrigens gar nicht so, dass das so vom Schulamt, der Bezirksregierung oder so gewollt ist. Es sind die Eltern, die den Nachteilsausgleich einfordern.
    Allerdings testen wir am Beginn der 5. Klasse alle Kinder auf LRS und bieten für die ersten Jahre eine Förderung in der Schule an. Meine Erfahrung damit ist, dass es viele Kinder gibt, die während dieser Förderjahre so gute Fortschritte machen, dass man die Diagnose aufheben und den Nachteilsausgleich aussetzen kann. Dann war es in meinen Augen aber auch keine echte LRS, sondern sie haben es - aus welchen Gründen auch immer - in der Grundschulzeit nicht angemessen gelernt.
    Einige Kinder aber machen kaum Fortschritte. Die schreiben auch in der 10. Klasse noch ein und dasselbe Wort in einem Satz auf zwei verschiedene falsche Arten, bringen aber in allen anderen Bereichen gute Leistungen. DAS ist echte LRS.


    Dyskalkulie bringt in NRW dem Schüler übrigens keinen Nachteilsausgleich. Die Diagnose nützt dem Kind nur psychologisch und gibt dem Mathelehrer zu verstehen, dass das Kind nicht etwa unwillig ist, sondern wirklich nicht kann. Was der dann allerdings damit anfangen soll, ist niemandem klar.

    Dödudeldö ist das 2. Futur bei Sonnenaufgang.

  • F81.3 ist der Alleskönner unter den Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Das Kind ist normal intelligent, wird normal beschult und kann trotzdem weder lesen, noch schreiben, noch rechnen. Neu ist das auch nicht (der ICD-10 ist von 1992 (mit kleineren Änderungen über die Jahre), aber es wird gerade vor allem in Deutschland neu entdeckt, das nicht alles an Intelligenz und Beschulung liegt (Hinweis: Eltern und Erziehung o.O).

    If you look for the light, you can often find it.
    But if you look for the dark that is all you will ever see.

  • Das mit der ICD-10 Diagnose weiß ich auch erst seit kurzem.
    Bei uns sind es noch nichtmal die Eltern, die das einfordern, das ist ja das Erstaunliche! Das kommt zum Beispiel vom SPZ oder von sonstigen Ärzten. Natürlich greifen Eltern das dann gerne auf, aber bei uns war das zum Glück nicht so.


    Mir scheint es so, als sei auch die LRS Feststellung und der Umgang mit LRS - trotz Erlass in NRW - nicht eindeutig geregelt und von Schule zu Schule anders gehandhabt.
    Ein Kind, das befriedigende bis ausreichende Leistungen im Rechtschreiben hat, kann doch keine LRS haben? Oder es stimmt was an der Leistungsbewertung nicht.

  • F81.3 ist der Alleskönner unter den Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Das Kind ist normal intelligent, wird normal beschult und kann trotzdem weder lesen, noch schreiben, noch rechnen. Neu ist das auch nicht (der ICD-10 ist von 1992 (mit kleineren Änderungen über die Jahre), aber es wird gerade vor allem in Deutschland neu entdeckt, das nicht alles an Intelligenz und Beschulung liegt (Hinweis: Eltern und Erziehung o.O).


    Wo soll das bloß noch hinführen...

  • Ein Kind, das befriedigende bis ausreichende Leistungen im Rechtschreiben hat, kann doch keine LRS haben? Oder es stimmt was an der Leistungsbewertung nicht.

    Richtig. Und bei unseren hauseigenen Testungen bekommen diese Kinder auch die Diagnose nicht. Dann aber werden die Eltern aktiv und lassen das Kind bei einem Kinder- und Jugendpsychiater testen, der stadtbekannt dafür ist, dass jedes Kind, das ihm vorgestellt wird, die Diagnose auch bekommt. Wenn die Eltern dann das Kind zum Logopäden schicken und mir das bescheinigen können, muss ich den NTA gewähren.
    Ich habe Eltern, die mir sogar ins Gesicht sagen, dass sie wissen, dass LRS nicht die richtige Diagnose ist, und dass sie einfach möchten, dass das Kind mehr Zeit bei Klassenarbeiten eingeräumt bekommt, weil es dann zu besseren Ergebnissen komme. Wenn ich mich dann querstelle, habe ich sechs Jahre zermürbender Kämpfe vor mir, für die mir die Energie und Zeit fehlt (siehe Herkunfts-Thread).

    Dödudeldö ist das 2. Futur bei Sonnenaufgang.

  • ich dummer sekundarlehrer habe immer gedacht, dass teilleistungsstörungen sich gerade dadurch definieren, dass der iq normal oder hoch ist, aber eben in diesem teilbereich die leistungen wegbrechen? wenn ein kind logik und mustererkennung so gar nicht kann, dann dürfte der iq-test nicht hoch ausfallen, ergo gar keine teilleistungsschwäche diagnostiziert werden?! wer schreibt solche diagnosen? ist ja gruselig. in bayern entscheidet am gym einzig und allein die schulpsychologin über ntas.

  • Bei uns läuft das teilweise unter 'Wahrnehmungsstörungen' die sich ja auf alle Hauptfächer auswirken. Unsere SPZ sind da gaaanz weit mit vorn. Nachteilsausgleich in allen Hauptfächern- ganz großes Kino!!!!
    Aber leider gibt das Schulgesetz das her....

  • ja-natürlich! Aber mit demselben schulischem Endergebnis.
    Hiervwird eben die Wahrn.störung als Teilleistungsschwäche definiert und so läuft das Kind weiter gezwungen mit...

  • Im Grunde versucht ihr gerade eine Definition von "Lernbehinderung" festzulegen. Die gibt es so nicht. Bzw. es gibt ganz viele verschiedene. Und im schulischen Rahmen (wo die "Lernbehinderung" ja einzig relevant ist, später kräht kein Hahn mehr nach diesem Begriff), legt jedes Bundesland seine Formalitäten fest, wie ein lernbehindertes von einem nicht lernbehinderten zu unterschieden wäre. Diese Grenze von soundsoviel IQ-Punkten existiert- so vermute ich- in keinem oder wenigen (?) Bundesländern noch schwarz auf weiß.


    Soweit ich weiß, lauten die Definitionen immer in der Art "...umfänglich, dauerhaft beeinträchtigtes Lernvermögen..." Wahrnehmung, Leistungsstand, Sozialverhalten, Arbeitsverhalten usw. usf. spielen bei den Gutachten mit rein. Also kurz: kommt in der Schule nicht klar, warum auch immer und was man da tun kann, soll die Förderschule bestenfalls herausfinden. Bei jedem Kind wird dann separat gegrübelt. Auch wenn ich den Ärger derer verstehe, die das Kind den ganzen Tag um sich haben und finden: "behindert!" brauchts halt noch mal unabhängige Personen, die drübergucken. Dass die Entscheidung dann wieder nicht objektiv ist, damit müssen Menschen leben, die finden, das Leben sei eine Statistik.


    Zuschreibungs- vs. Förderdiagnostik.
    EIGENTLICH (so ist es zumindest hier und in NRW, bin jetzt zu faul zum googeln), werden förderpädagogische Gutachten geschrieben, in denen die Fördermaßnahmen nicht der Förderort festgelegt werden sollen. Über den Förderort, an dem die Maßnahmen umgestzt werden sollen entscheidet die Schulbehörde. Eine Grundschullehkraft, die viele schwierige und schwache Kinder (ich sags mal so plakativ) hat, möchte logischerweise die Schwierigsten und Schwächsten aus der Klasse raus-> an der Förderschule (Sonderschule) haben. EIGENTLICH müsste sie aber, wenn das Gutachten nun geschrieben ist, die Fördermaßnahmen umsetzen, die Sonderschullehrkraft empfohlen hat :aufgepasst: . Ob der Förderort besser die Sonderschule wäre, entscheiden nicht die Grund- und nicht die SonderschullehrerInnen, sondern die Schulbehörde. Also die, die auch die Förderstunden verteilen (halbe Stunde pro Kind und Monat...). Letztlich natürlich von den Plätzen und der aktuellen Quote und den tatsächlich vorhandenen Lehrern etc. abhängig.


    So wollten es die empfehlungenschreibenden Universitäten, so ist es aber in der Realität noch nicht angekommen. Dass es in der Realtität bedeutet, dass Grundschulen erst mal ALLE in der Klasse sitzen haben und diesen Spagat mit 28 Kindern nicht befriedigend leisten können sollte jedem Kollegen klar sein.



    Langer Rede kurzer Sinn: ein Kind hat heute "sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Lernen" o.ä. und ist nicht mehr lernbehindert. Der IQ ist dabei interessant (manchmal verirrt sich auch ein (über)durchschnittlich begabtes Kind zu uns). Aber nicht überall verpflichtend zu testen und v.a. wenig aussagekräftig für den Lernerfolg dieses Kindes. Sonst säße es nämlich nicht in der Diagnostik. Die Frage alleine sollte sein: was tun, damit dieses Kind wieder lernen kann?!

  • ist eine wahrnehmungsstörung nicht wieder was anderes?

    Die sind das Nonplusultra: Mit ihnen kann man alles erklären, z.b. auch, dass Kinder kippeln müssen. Oder dass sie eben das Abgeschriebene einfach nicht kontrollieren und verbessern können.

    SCHOKOEIS!


    Ich lese und schreibe nach dem Paretoprinzip.

  • Langer Rede kurzer Sinn: ein Kind hat heute "sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Lernen" o.ä. und ist nicht mehr lernbehindert. Der IQ ist dabei interessant (manchmal verirrt sich auch ein (über)durchschnittlich begabtes Kind zu uns). Aber nicht überall verpflichtend zu testen und v.a. wenig aussagekräftig für den Lernerfolg dieses Kindes. Sonst säße es nämlich nicht in der Diagnostik. Die Frage alleine sollte sein: was tun, damit dieses Kind wieder lernen kann?!

    Ach, stimmt, da war ich gestern zu schnell. Habe selbstverständlich den Threadtitel geändert.
    Und: Nein, der IQ ist nicht immer aussagekräftig für den Lernerfolg. Bei uns hat z.B. ein Kind sopäFöbeLE bekommen, das in Deutsch im RLP Grundschule mitkommt. Da aber bei uns der IQ für die Diagnostiker ausschlaggebend ist, hat es den Förderbedarf bekommen, die hauseigene Sopä schüttelt nur den Kopf.

    SCHOKOEIS!


    Ich lese und schreibe nach dem Paretoprinzip.

  • Der IQ ist nicht ausschlaggebend für den Lernerfolg? Das wird jetzt wieder ein anderes Thema, aber: Echt jetzt? Hast du mal in Grundschulklassen flächendeckend IQ, Leseverstehen und Rechenfertigkeiten erhoben und dir angeguckt wie eng das alles zusammenhängt? Natürlich gilt das nicht für jedes einzelne Kind, aber Statistik macht auch keine Aussagen über einzelne Kinder.

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  • Wenn hier schon über "Alleskönner" und "Nonplusultra" diskutiert wird...In Sachen IQ und der damit verbundenen Testung liegt doch der nächste Hase im Pfeffer begraben: Sofern die Testung nicht von offizieller Seite erhoben wird sieht das Ganze doch oft so aus (selbst erlebt bei diversen Kollegen).
    Der Test wird durchgeführt von schlecht vorbereiteten Sonderpädagogen, die gleichzeitig testen, protokollieren und im Manual nachlesen. Testbatterien sind nicht selten veraltete CFTs, HAWIKs oder SON-Rs, die sich in den Schränken der Medienräume finden lassen. Testsituationen gestalten sich anders, als sie im Manual vorgegeben sind.
    In den Gutachten wird dann trotz schwammiger Messungen der konkrete IQ-Wert als Tatsache verkauft. Bestenfalls liegt der Wert dann unter 70 und schon kann man, verschönert mit ein paar Aussagen über Lern-/Arbeitsverhalten, Wahrnehmung etc., den FSP Lernen festlegen.

  • realität hat immer mängel. deswegen den iq aus der diagnostik zu nehmen (was dann wieder so schön in die sparmaßnahmen passt, weil kein förderschwerpunkt, dafür ein paar ntas und "inklusion" = super, keine extrakosten vs. förderzentrum oder echte sonderschullehrer vor ort für mehr als ein paar minuten die woche) erscheint mir etwas voreilig, stichwort kind und bad und so. der iq ist schon ein sehr bewährtes konstrukt...

  • Ach, dieser IQ-Wert allein ist doch gar nicht aussagekräftig. Der wird aus verschiedenen getesteten Bereichen zusammengesetzt, die durchaus sehr, sehr unterschiedlich ausfallen können.
    Wenn also ein Kind einen IQ von 85 hat (Grenzwert), aber z.B. u.a. im Teilbereich Logik 110 und im Teilbereich Verarbeitungsgeschwindigkeit 60, heißt das nicht, dass das Kind nicht denken kann, sondern dass es sich auf einem Arbeitsblatt mit vielen Informationen nicht zurechtfindet. Die Gründe können sehr vielfältig sein. Der banalste wäre, dass das Kind eine Brille braucht. Wie valide wäre dann also das Testergebnis? :autsch:

    Dödudeldö ist das 2. Futur bei Sonnenaufgang.

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