Lernbehinderte Kinder fördern und fordern

  • Hallo!
    Die Überschrift trifft es vielleicht nicht ganz, aber mir fiel keine bessere Formulierung ein.


    Ich mache mir in letzter Zeit immer häufiger Gedanken darüber, ob es richtig ist, Kinder mit dem Förderschwerpunkt Lernen derart zieldifferent zu unterrichten, dass sie zum Beispiel im 4. Schulbesuchsjahr immer noch im Zahlenraum bis 20 rechnen.
    Bisher dachte ich, die Grundlagen müssen so gut es geht gesichert sein, alles andere bringt doch nichts. Aber die meisten dieser Kinder werden den Zehnerübergang vermutlich niemals verstehen, sie werden immer zählend rechnen und auch niemals die Aufgaben bis 20 automatisieren, da sie eben einfach eine geringe Merkfähigkeit haben. Egal, wie viele Jahre man in diesem Zahlenraum verweilt.


    Wann ist denn dann der Zeitpunkt, zu sagen, wir nähern uns jetzt mal größeren Zahlenräumen an? Natürlich kann man gewisse Aufgabenformate einfach auf größere Zahlenräume übertragen und auch lernbehinderte Kinder können mehrstellige Zahlen schriftlich addieren, eben schematisch und ohne Verständnis.
    Aber bringt es das? Wo setzt man denn da an, was ist zielführend?
    Ich finde das unheimlich schwer, gerade in Mathe und Deutsch.Im Grunde müssten diese Kinder Alltagsfertigkeiten lernen, aber das können wir in der Schule unter den Bedingungen nicht leisten.


    Mich würde interessieren, wie ihr mit dem Förderschwerpunkt Lernen an euren Schulen umgeht und wie sehr diese Kinder wirklich zieldifferent unterrichtet werden.

  • Es gab da mal ein interessantes Filmchen von einem Lehrer, der mit lernbehinderten Jugendlichen nur HartzIV-Anträge ausgefüllt und Sonderangebote verglichen hat. Seine Überzeugung: ich muss sie auf Arbeitslosigkeit und prekäres Leben vorbereiten. Interessant dabei war, wie frustriert die Teenies waren, sie fragten sich, warum sie denn überhaupt in die Schule gehen und wofür es sich zu leben lohnt. Fühlten sich aufgegeben.


    Ich muss nach dem Lehrplan der Lernförderschule unterrichten und stoße selbst da immer wieder an die Grenzen, denn ja, auch mit 15 zählen die meisten unterm Tisch mit den Fingern. Trotzdem kommt dann irgendwann der Zahlenraum bis 1 Mio, Bruch- und Prozentrechnen, Flächeninhalt- und Volumenbestimmung. Und wenn wir wochenlang mit Messbechern und Zehnerstangen hantiert haben, wissen sie immer noch nicht, wie viel ein dreiviertel Liter ist und schon gar nicht, warum die Null bei 1,01 was anderes bedeutet, als bei 1,10.


    Dasselbe gilt für andere Fächer: wenn ich niemals aus meiner Heimatstadt raus war, wie soll ich dann ein Konzept von Deutschland oder gar Europa entwickeln? etc.


    Trotzdem, oder gerade deswegen, bin ich für gemeinsames Beschulen von Kindern mit und ohne Lernbehinderung. Die Förderschule mit ihrem Sonderlehrplan erreicht nichts, was die Grund-/Oberschule nicht auch erreichen könnte. (Vorausgesetzt, die Grund-/Oberschule hat einen Anspruch an sich selbst, jenseits von Faktenwissenauswendiglernen.)


    Für dich zur Orientierung: geh nach dem Lehrplan der Schule zur LF vor. Gib sie nicht auf, irgendwas bleibt trotzdem hängen. Aber erwarte auch nicht zu viel, Enttäuschung ist sonst vorprogrammiert.

  • Das ist immer eine schwierige Frage, wann man von den üblichen Wegen abgeht, vor allem, wenn es sehr grundlegende Dinge sind, die sie nicht drauf haben, die man für alles weitere gut gebrauchen kann. Ich habe es davon abhängig gemacht, wie frustriert die Schüler damit waren, nicht voranzukommen. Es gibt in Mathematik zum Glück auch einige Themen, die nichts bis wenig mit Rechnen zu tun haben (z.B. Größen, Geometrie, Brüche, Sachaufgaben). Da kann man dann auch ganz gut differenzieren (notfalls mit Taschenrechner in den höheren Kalssen). Das ist dann mal eine Pause von den Themen, mit denen man sich schwer tut.
    Manche Schüler sind aber auch so schwach, dass das mit diesem einen Fach in diesem Leben nichts mehr wird. Die müssen eben einfach lernen mit diesem Frust klarzukommen. Das betrifft aber dann eher die höheren Klassen und kommt an allen Schularten vor.


    Ich bin - oh Wunder - in den höheren Klassen gegen eine Vermischung, weil die Gruppen zu unterschiedliche Bedürfnisse haben. Ich habe mein Ref an einer Förderschule Lernen gemacht und war in den höheren Klassen. In den Hauptfächern waren die beiden Klassen in Kurse differenziert und das war auch gut so. So konnten die fitten Schüler ihr Pflichtprogramm für den Hauptschulabschluss machen und ich konnte vor allem in der Abschlussklasse lebenspraktischeres mit den anderen machen: Brutto - Netto bei typischen Ausbildungs- und Fachwerkerberufen, Sozialversicherungen, Wie viel kostet eine Wohnung?, Wohnungsanzeigen, Rezepte hochrechnen und schlau einkaufen gehen. Das sind alles so Sachen, die man eben nicht so nebenbei in einer gemischten Gruppe machen kann. Hauptschülern täte das bestimmt auch gut, aber da ist alles einfach mit dem Pflichtkrams so zugeballert und die schwächeren Schüler brauchen dafür einfach ihre Zeit.



    Es gab da mal ein interessantes Filmchen von einem Lehrer, der mit lernbehinderten Jugendlichen nur HartzIV-Anträge ausgefüllt und Sonderangebote verglichen hat. Seine Überzeugung: ich muss sie auf Arbeitslosigkeit und prekäres Leben vorbereiten. Interessant dabei war, wie frustriert die Teenies waren, sie fragten sich, warum sie denn überhaupt in die Schule gehen und wofür es sich zu leben lohnt. Fühlten sich aufgegeben.


    Ich finde das völlig verzerrt, was du da schreibst. Kein Lehrer im Bereich Lernen wird "nur" so etwas machen, vor allem nicht mit der offensichtlichen Maßgabe "Aus euch wird eh nichts." Man arbeitet viel mit den Schülern auf Beziehungsebene, weil es teilweise nur der gute Draht zum Lehrer ist, der sie noch etwas machen lässt. Da entzieht man sich doch nicht die Grundlage durch diese Haltung. Aus meiner Erfahrung ist es eh fraglich, ob es wirklich die Lehrer sind, die sie abschreiben. Sie sind ja nicht blöd und wissen, dass ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlechter sind als für andere. Einige sehen das an den eigenen Eltern. Bei vielen ist es für die Zuversicht und das Selbstbewusstsein überhaupt förderlich, jeden Tag zu sehen, dass andere immens viel besser sind, man sich selbst aber abstrampeln kann, wie man will und es bringt nichts. Ein pauschales "Förderschulen sind Gift" ist einfach nicht wahr.

  • Puh...schwierig. Meine "L-Kinder" sind seit der 5. Klasse bei mir. Und vielleicht hatte ich da einfach Glück. Die laufen oft so mit, sind also nicht so sehr weit hinter den anderen zurück. (Nun ist meine Klasse auch nicht gerade leistungsstark, mal ganz zutückhaltend ausgedrückt).
    Jetzt sind sie in der 9. Klasse. Erst jetzt muss ich stärker differenzieren als bisher, weil es um die Abschlüsse geht.
    Bei einem Schüler wurde der Förderbedarf zu diesem Schuljahr aufgehoben. Der hatte sich immer mehr den Regelschülern anpassen können.
    Bei einem anderen Schüler haben wir den Bedarf erst in der 8. festgestellt
    Das Kind, dass durchgehend seit der GS das L hat ist ausgesprochen fleißig und kann allein dadurch viel rausholen. Aber leider nur auf den Punkt. Das ist ein paar Tage später alles wieder weg
    Sie kann recht problemlos normale Hauptschultests mitschreiben. Aber das mit der Abschlussarbeit könnte schwierig werden, selbst beim Förderschulabschluss.


    Tsja, und seit kurzem habe ich eine Schülerin mit ganz großem L. Die kommt von der Förderschule (Förderbedarf seit Schulbeginn.) Und die kann im Prinzip gar nichts. Ich kann aber noch nicht einschätzen, ob das wirklich an den kognitiven Fähigkeiten liegt oder an der bisherigen Schule. (Zitat Förderlehrkrfat: Die werden da auch dumm gehalten.)
    Ich habe noch keine Ahnung, wie das da weitergehen soll. Wir können jetzt ja nicht mehrere Jahre Unterricht aufholen.


    Aber die Kinder mit L sollten schon mehr lernen als Alltagsfertigkeiten. Das wäte eher was für GE.


    Wir krababbel schon sagt: Orirntiere dich am Lehrplan für die Förderschule.


    Gibt es bei euch keine Förderschullehrer?

  • Aber die Kinder mit L sollten schon mehr lernen als Alltagsfertigkeiten. Das wäte eher was für GE.
    Wir krababbel schon sagt: Orirntiere dich am Lehrplan für die Förderschule.


    Gibt es bei euch keine Förderschullehrer?

    Das kommt drauf an, was du unter Alltagsfähigkeiten verstehst. Schau mal nach meinen Themen oben wie Brutto/Netto. Da steckt schon viel Mathematik dahinter (Prozentrechnung, Sachaufgaben). Mit GE-Schülern wird das sehr schwierig.


    "Orientier dich am Lehrplan" ist keine wirkliche Hilfe. Der TE ist aus NRW, wo ich studiert und Ref gemacht habe. Der letzte LE-Lehrplan war vor viereinhalb Jahren noch aus 1977. Muss ich mehr sagen. ;) Für LE sagt man im Allgemeinen Hauptschule minus 1 Jahr. Da in NRW die Förderschule Lernen bis Klasse 10 geht, kommt das auch hin, wenn die Schüler fit genug für den Hauptschulabschluss sind. Bei allen anderen muss man eben schauen, was geht.


  • ...Ich finde das völlig verzerrt, was du da schreibst. Kein Lehrer im Bereich Lernen wird "nur" so etwas machen, vor allem nicht mit der offensichtlichen Maßgabe "Aus euch wird eh nichts." ...

    Was ist daran verzerrt? Ich schrieb ja, ich sah einen Film, bei dem ein Lehrer genau so vorgegangen ist und diese Schüler das sehr wohl wahrgenommen haben.

    ...Brutto - Netto bei typischen Ausbildungs- und Fachwerkerberufen, Sozialversicherungen, Wie viel kostet eine Wohnung?, Wohnungsanzeigen, Rezepte hochrechnen und schlau einkaufen gehen. Das sind alles so Sachen, die man eben nicht so nebenbei in einer gemischten Gruppe machen kann.

    Das ist schon Hauptschulprogramm, mit Lernbehinderten macht man sowas auch, sie verstehen es aber trotzdem nicht wirklich.


    ...Sie sind ja nicht blöd und wissen, dass ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlechter sind als für andere. ...

    Die meisten SchülerInnen mit Lernbehinderung haben Berufswünsche von Tierarzt bis Automechaniker (=KfZ-Mechatroniker), was etwa gleich unrealistisch ist. Natürlich erklären wir ihnen 2 Jahre lang, was für sie in Frage kommt und sie werden nach der Schule von Maßnahme zu Maßnahme geschickt. Aber es gibt praktisch nur zwei Möglichkeiten: entweder Abbruch der Maßnahme, weil der/die Jugendliche nicht mehr kommt oder glückliche Umstände durch persönliche Kontakte und ungelernte Tätigkeit mit Mindestlohn.


    Dass das durch eine gemeinsame Beschulung eher nicht verändert wird mag sein, aber die Ressourcen sind trotzdem ein bisschen verschwendet. Auch wenn’s schwer zu akzeptieren ist, Frapper, schließlich verdienen wir ganz gut in dem System ;) .

  • Ich danke euch für eure Rückmeldungen! :top:
    Habe alle sehr interessiert gelesen. Man merkt, dass das kein einfaches Thema ist. Ich versuche mal, gesammelt auf alles zu antworten.



    Wir haben einen Sonderpädagogen, mit dem ich auch gut zusammen arbeiten und ihn um Rat fragen kann, aber leider nur in sehr begrenztem Maße, da er für sehr viele Kinder und 2 Schulen zuständig ist. Als Klassenleitung ist man nun mal für alle Kinder verantwortlich, auch für die mit Förderbedarf, deshalb sollte man sich doch damit mal beschäftigen.



    Der „Lehrplan“ für LE ist in der Tat völlig veraltet, das ist lachhaft. Bisher habe ich tatsächlich auch versucht, es von der Frustration des Kindes abhängig zu machen, ob es an der Zeit ist, z.B. den Schritt in einen neuen Zahlenraum zu wagen, weil das ewige Verweilen im ZR 20 dazu führte, dass das Kind die Arbeit völlig verweigerte oder sogar anfing, zu stören. Das Verhalten ist ja nur nachvollziehbar. Aber wenn man dann einen Schritt weiter geht und es mit schwierigeren Dingen herausfordert, funktionierte es auch nicht. Dann kam doch wieder der Schritt zurück in den 20er Raum und das Kind arbeitete wieder dort. Ziemlich unbefriedigend das Ganze.



    Wenn ich das richtig verstanden habe (so sagte auch unser SoPä und ich lese es aus euren Beiträgen heraus), schaffen es manche LE Kinder tatsächlich, so dicht am Hauptschulstoff dran zu sein, dass der Förderschwerpunkt dann im letzten Jahr aufgehoben werden kann, so dass sie einen normalen Hauptschulabschluss machen können?! Ich erinnere mich an eine Diskussion im Forum dazu. Und alle, die das nicht schaffen, bekommen dann ein Zeugnis im Bildungsgang LE.



    Puh. Also wenn ich das so sehe, wird das LE- Kind, was ich im Kopf habe, wohl eher keinen Hauptschulabschluss schaffen. Vielleicht muss ich auch einfach meine Erwartungen zurückschrauben.

  • Das ist schon Hauptschulprogramm, mit Lernbehinderten macht man sowas auch, sie verstehen es aber trotzdem nicht wirklich.

    Meine SuS an der Förderschule haben es verstanden und ich hatte definitiv keine Überflieger. Auch an meiner jetzigen Schule wurde das mit den LE-Schülern gemacht, die SuS haben es verstanden und waren auch keine Überflieger. Was könnte das sein? :ka: Ach, ich glaube, jetzt fällt es mir ein! :idee: Ein Argument, warum die Förderschule doch gar nicht so verkehrt ist und die Inklusion kein Königsweg. Jetzt aber schnell weg ... :flieh:

  • @Frapper, das Problem ist, dass du ausschliesslich mit Schülern zu tun hast, die sich auf dem Niveau von Hauptschülern und darüber bewegen. Dass du mal irgendwo Praktikum gemacht hast, wo auch Kinder mit Lernförderbedarf anwesend waren, qualifiziert deine Argumente nicht automatisch zu stichhaltigen.


    Und die Frage der TE war ja die nach dem Fortschreiten im Lehrstoff und da kann sie sich halt nur am Lehrplan orientieren. Auch wenn der nicht immer passend ist. Das ist nicht befriedigend aber die Realität.

  • @krabappel:
    Für dich noch einmal als Zusammenfassung:
    Ich habe meinen Zivildienst an einer Schule für Körperbehinderte gemacht - Schülerklientel von schwerstmehrfachbehindert bis Regelschüler alles dabei. Diese Fachrichtung habe ich auch studiert, beide Praktika an solchen Schulen absolviert und hatte eine Vertretungsstelle vor dem Ref dort.
    Mein Ref war an einer Förderschule Lernen (LH) in NRW. Meine Lerngruppen reichten von schwachem LH-Schüler bis zum Hauptschüler (oder immerhin kognitives Potenzial dazu) und auch genau in solch einer gemischten Gruppe von 12 Schülern habe ich das oben beschriebene in Mathe gemacht.
    An meiner jetzigen Förderschule für Hören und Kommunikation habe ich eine LH-Klasse (5/6) geleitet und auch in anderen LH-Klassen unterrichtet. Jetzt unterrichte ich im Regelbereich. In meiner letzten Klasse hatte ich einen LH-Schüler neben den Regelkindern dabei. In meiner jetzigen Klasse habe ich auch eine Schülerin, wo es langfristig gut und gerne auf LH hinauslaufen könnte.
    Ich weiß schon, wovon ich schreibe - ich glaube sogar mehr als du!

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