Leistungsdruck

  • @Wollsocken80 Da ich mich mit dem Schweizer Schulsystem überhaupt nicht auskenne: wie gestaltet sich der Übertritt von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen in der Schweiz? Gibt es da eine Übertrittsnote, die man erreichen muss oder dürfen die Eltern selbst entscheiden?

    @Wollsocken80 Hoffe, es ist okay wenn ich antworte - korrigiere bzw. ergänze mich gerne. :)
    Wie in D gibt es in der Schweiz kein einheitliches System, aber die häufigste Variante ist: 6 Jahre Primarschule, dann 3 Jahre Sekundarschule (hier Leistungsdifferenzierung in G (entspricht grob Hauptschule) und E (entspricht grob Realschule)). Nicht selten sind Primar- und Sekundarschule auch im selben Gebäude bzw. Campus, die klassische "Volksschule". Gymnasien sind überwiegend als Kurzzeitgymnasien (4 Jahre; Langzeitgymnasien ähnlich wie in D gibt es auch, aber selten) organisiert. Die Lernenden der "Sek", die das wollen, bewerben sich an einem Gymnasium (meist Kantonsschule, im Volksmund "Kanti", genannt) und müssen eine Aufnahmeprüfung bestehen. Sie wechseln dann spätestens nach dem Ende "Sek" ans Gymnasium, manchmal auch schon nach der 2. Klasse. Typischerweise ist der Übertritt in die Sek II per Aufnahmeprüfung geregelt (ausser in der beruflichen Grundbildung, aber hier braucht man ja sowieso einen Vertrag mit einem Ausbildungsbetrieb).

  • Das System finde ich super!

  • Die Aufnahmeprüfung gibt es zumindest im harmonisierten Bildungsraum Nordwestschweiz nicht mehr.

  • Apropos Aufnahmeprüfung: Dass immer mehr Unis dem Abi bzw. den Abinoten nicht mehr trauen und Aufnahmetests schreiben lassen, ist meiner Auffassung nach nur der Gipfel des Eisbergs.
    Ein Teilnehmer bei Maischberger hat es ganz passend gesagt: Er sieht mittlerweile einen großen Unterschied zwischen Studienberechtigung und -befähigung.
    Und die von ihm genannten Lift-Kurse an den Unis sind für mich ein weiteres Zeugnis dafür, dass das System kränkelt.

  • Ich bin überzeugt, dass das Thema Lesen den Unterschied macht zwischen Abitur und "Abitur".


    In Deutschland lesen 25% der Erwachsenen (annähernd) täglich, 25% mindestens einmal wöchentlich, 18% mindestens einmal monatlich, der Rest gar nicht. Das sind keine katastrophalen Zahlen, aber für eine Bildungsnation ist das doch recht schwach. An den Gymnasien lesen durchschnittlich immerhin 10% der Kinder und Jugendlichen gar nicht privat, an mancher Innenstadtschule natürlich deutlich mehr und meiner Erfahrung nach dann oft auch nicht (viel) für die Schule. Der Rest liest schon, aber möglicherweise für eine Schulform, in der inhaltlich und methodisch das Sprachliche im Vordergrund steht und die auf eine akademische Laufbahn vorbereiten soll, zu wenig.


    Es gibt ein relativ enges Zeitfenster, in dem Kinder zu Lesern werden oder eben nicht, nämlich zwischen acht Jahren, sofern sie dann schon schnell genug lesen können, um Lesen als Genuss zu empfinden (keine Selbstverständlichkeit, hängt vom frühzeitigen Vorlesen, dem Medienverhalten, der Konsequenz beim häuslichen Lesenüben etc. ab) und zwölf Jahren, bevor das Leseinteresse insbesondere bei den meisten Jungs in der Pubertät immer stärker nachlässt. Wer als Kind schnell und gut lesen gelernt hat, wird diese Fähigkeit auch in der Pubertät weiter ausbauen können, wer sich am Ende der Orientierungsstufe immer noch schwer tut, eher nicht. Interessant ist dann die Verteilung der Lesekompetenzstufen bei VERA 8. Die Welten, die Vielleser von Weniglesern trennen, sind ausgesprochen eindrucksvoll, und zwar unabhängig von der Herkunftssprache und dem Bildungshintergrund des Elternhauses. Wer wirklich viel liest, hat mit 14 Jahren keine Nachteile mehr, wer nicht oder nicht genug liest, quält sich oft durch die Schule, versteht seine Schulbücher und den Sinn manchen Oberstufenkurses nicht und tut sich im Studium enorm schwer. Die Abbrecherzahlen gehen sicher zu einem nicht unerheblichen Teil darauf zurück, dass Texte nicht tief genug verstanden werden und nicht zügig genug rezipiert werden können. Das betrifft überraschend oft auch Akademikerkinder.


    Appelle gibt's ja genug, Möglichkeiten (öffentliche Bibliotheken, Onleihe, Buchbasare, Kinderflohmärkte) auch, jahrelange Impulse durch die Schule (Buchprojekte, Buchvorstellungen, Antolin, Klassenbibliotheken). Nicht jeder ist letzlich gewinnbar und das ist auch gar nicht nötig. Es gibt jede Menge anspruchsvolle, interessante und auch wirtschaftlich vielversprechende Berufsbilder, für die man nicht Kant oder Cicero gelesen haben muss. Nur wieso - UM HIMMELS WILLEN - muss es dann unbedingt das Gymnasium sein?

  • Frapper: Über die Bildungspolitik der AfD lässt sich natürlich streiten (und das ist ja auch gut so). Ich finde viele der genannten Punkte gut, habe mir aber im selben Augenblick auch noch einmal die bildungspolitischen Forderungen von den Linken, der FDP, der CSU und der SPD angeschaut. Ich konnte jetzt vom inhaltlichen Aufbau her einige Ähnlichkeiten entdecken. Der Schreibstil unterscheidet sich von Partei zu Partei: Manchmal wird relativ klar formuliert, was man will und was nicht, manchmal wird eher um den heißen Brei geschrieben, wobei einem dann nicht wirklich klar ist, wofür die Partei steht (z.B. tat ich mir schwer, die Meinung der FDP zum mehrgliedrigen Schulsystem und Förderschulen herauszulesen). Das Thema "Religionsunterricht" im nicht-christlichen Kontext führt eher ins OT, aber ich fand zu dem Punkt nur etwas bei der AfD. Bei der CSU ist es noch am ehesten indirekt beschrieben (Ablehnung Islam, Bekennung zur christlichen Prägung Bayerns), bei den anderen untersuchten Parteien fand ich keine Erwähnung.

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  • Nur wieso - UM HIMMELS WILLEN - muss es dann unbedingt das Gymnasium sein?


    Hallo Ratatouille,


    diese Frage ist leicht zu beantworten:


    "Hast du die Schule mit dem Realschulabschluss in der Tasche hinter dir gelassen, stehen dir damit schon einige Ausbildungsplätze offen. Denn auch wenn bei einem Ausbildungsberuf das Abitur empfohlen wird, kannst du mit einem Realschulabschluss ebenso eine Chance haben." (https://www.azubi.de/beruf/tipps/berufe-nach-abschluss)


    Wer möchte sich schon mit einer vagen "Chance" abspeisen lassen?


    Natürlich findet man mit einem sehr guten bis guten Realschulabschluss nach wie vor problemlos eine ordentliche Ausbildung. Vor allem in den Bereichen, die Nachwuchsprobleme haben (z.B. Handwerk). Aber wenn alle meine Freunde studieren, will ich dann im Freundes- und Bekanntenkreis der einzige Handwerker sein? Das Problem sitzt bei uns in den Köpfen und zwar ganz fest und tief.


    der Buntflieger

  • Stelle dir vor: Mit einem Bachelorabschluss ist man noch besser für eine Ausbildung qualifiziert. Oder warum nicht gleich mit einem Doktortitel? Man kann immer besser qualifiziert sein, aber wenn für eine Ausbildung ein Realschulabschluss vorausgesetzt wird, dann sollte es auch so sein, dass dieses Wissen nötig ist, um die Ausbildung gut absolvieren zu können. Und in einigen Ausbildungsberufen braucht man kein Wissen über Shakespeare oder Analysis - würde ich mal mutig behaupten.


    Wenn alle meine Freunde Deutsch/Geschichte für das Gymnasium, Philosophie oder Biologie studieren, muss ich es ihnen gleichtun? Mit 18/19 kann man ja auch für sich selbst denken und sich zumindest ein bisschen bemühen, Berufsbilder zu recherchieren und seine eigenen Stärken und Schwächen einigermaßen realistisch einzuschätzen. Ich wusste auch mit 18 nicht wirklich, wo ich beruflich mal hinwill, und hatte das Gefühl, dass die ganzen Angebote wie Berufsmessen u.ä. mir eher sagten, was ich nicht werden will. Auch ich hatte damals diesen Gedanken, dass ich ja studieren müsse - Abitur nicht verschwenden und so. Von daher glaube ich schon, dass da Jugendliche ggf. etwas stärker an die Hand genommen werden müssen; man sollte aber auch mit offenen Karten spielen und wer da blind zum Studium rät (am besten noch blind am Arbeitsmarkt vorbei), ohne die Stärken und Schwächen der Schüler wirklich zu kennen, schadet ihnen eher als dass man ihnen hilft. Und dennoch - ein gesunder Menschenverstand sollte trotz der Informationsflut in dem Alter dennoch vorhanden sein.

  • Natürlich findet man mit einem sehr guten bis guten Realschulabschluss nach wie vor problemlos eine ordentliche Ausbildung. Vor allem in den Bereichen, die Nachwuchsprobleme haben (z.B. Handwerk). Aber wenn alle meine Freunde studieren, will ich dann im Freundes- und Bekanntenkreis der einzige Handwerker sein? Das Problem sitzt bei uns in den Köpfen und zwar ganz fest und tief.

    Wer sich einschätzen kann, selber denkt und sich informiert bzw. entsprechende Eltern hat, ist eben klar im Vorteil, erwirbt die Hochschulzugangsberechtigung ohne unnötige Fremdsprachen, wenn ihm die nicht liegen, zieht als Meister im zulassungsbeschränkten Studienfach per Nichtabiturientenkontingent an der NC-Schlange vorbei oder steigt innerbetrieblich auf und studiert auf Kosten seines Arbeitgebers. Natürlich kann man sich auch mit ein bis zwei Ehrenrunden durchs Gymmi quälen, mit 3,8 Abischnitt Philosophie "studieren", weil nicht zulassungsbeschränkt und alle studieren und man keine Ahnung hat, was man eigentlich will und kann, um dann mit 24 oder 25 das Studium zu schmeißen und, wenn man Glück hat, doch noch gemeinsam mit 10 Jahre Jüngeren eine Lehre anzufangen.


    In Deutschland gibt es so viele Möglichkeiten. Und einen großen Teil der Jugendlichen in einer Zeit, in der sie richtig viele und teils schwierige Entwicklungsaufgaben bewältigen müssen, jahrelang derart zu entmutigen, das muss sich ein Land auch erst mal leisten können.


    Und so mancher Handwerker lacht die Lehrer aus, andere Akademiker sowieso.

  • In Deutschland gibt es so viele Möglichkeiten. Und einen großen Teil der Jugendlichen in einer Zeit, in der sie richtig viele und teils schwierige Entwicklungsaufgaben bewältigen müssen, jahrelang derart zu entmutigen, das muss sich ein Land auch erst mal leisten können.
    Und so mancher Handwerker lacht die Lehrer aus, andere Akademiker sowieso.


    Hallo Ratatouille,


    das ist vollkommen richtig: In Deutschland gibt es erstaunlich viele Möglichkeiten, aber - und das sagst du ja selbst - es ist nicht immer einfach, diese im Vorfeld zu sehen und zu nutzen.


    Die meisten SuS an unserer Schule sind nach dem Abschluss ohne Perspektive. Ein Großteil geht auf irgendwelche weiterführenden Schulen, nur ganz wenige beginnen eine Ausbildung.


    Und leider ist es in Deutschland durchaus nicht so, dass man jenseits der 30 noch gerne als Auszubildender, Studierender oder Abendschüler gesehen wird. Die meisten Fördertöpfe sind mit 30 Jahren dicht. Auch herrscht hierzulande eine komische Mentalität: Man neigt dazu, älteren Auszubildenden - bzw. Leuten auf dem 2. (Aus)Bildungsweg - vorzuwerfen, dass sie jüngeren die Plätze wegnehmen, was natürlich Quatsch ist.


    Kurzum: Es herrscht schon ein großer Druck, dass die Berufslaufbahn möglichst im ersten Anlauf passt und sitzt. Wahrscheinlich eine Frage der Mentalität, denn in anderen Ländern wird das bei Weitem nicht so eng gesehen. In Neuseeland ist es z.B. völlig normal, mit Mitte 40 beruflich nochmal was ganz anderes zu machen. Macht das hier jemand, steht er doch gleich unter enormem Rechtfertigungsdruck.


    Da macht man eben lieber vorerst gar nichts und wartet auf diversen Schulbänken ab, was sich ergibt - oder eben nicht. Ich kann das schon zum Teil verstehen.


    der Buntflieger

  • Und leider ist es in Deutschland durchaus nicht so, dass man jenseits der 30 noch gerne als Auszubildender, Studierender oder Abendschüler gesehen wird. Die meisten Fördertöpfe sind mit 30 Jahren dicht.
    ...
    Da macht man eben lieber vorerst gar nichts und wartet auf diversen Schulbänken ab, was sich ergibt - oder eben nicht.

    Das ist ja grade die Falle. Auch wenn man niemandem verdenken kann, dass er es nicht frühzeitig merkt/merken will, dass einem in Wahrheit gar nicht ALLE Türen offenstehen, bloß weil man irgendwie doch noch Abi gemacht hat. Sagt einem ja keiner, im Gegenteil. Das versteh, wer will.

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