Anspruch und Selbstzweifel

  • Hallo allerseits,


    vor 7 Wochen habe ich hochmotiviert mein Studium begonnen (Englisch/Wipo mit dem Ziel LA -Gym). Leider hielt diese Motivation nur so lange an bis ich merkte, dass gefühlt alle anderen deutlich mehr Ahnung von der Thematik haben als ich, was (besonders in Wipo) darin resultierte, dass ich mich von Anfang an nicht wirklich getraut habe, mich in irgendeiner Form an den Seminaren zu beteiligen. Meine gesamte Schulzeit lang habe ich nie verstanden, wie man stundenlang schweigend in einem Kurs sitzen kann, jetzt bin ich schlauer.
    Dazu muss man sagen, dass ich nach dem Abi direkt an die Uni gegangen bin (was 95% meiner Mitstudierenden offenbar nicht getan haben). Ich sitze also mit Leuten im Seminar, die teilweise über 30 sind, schon ein Studium (häufig auch irgendwas in Richtung Wirtschaft) abgeschlossen und gearbeitet haben und sich jetzt neu oriertieren wollen. Natürlich haben die mehr Grundwissen als ich, aber das will nicht in meinen Kopf rein. Mir ist auch bewusst, dass ich vor dem Seminar noch gar nicht viel über das Thema wissen muss. Leider kenne ich das von mir aus der Schule aber anders und habe jetzt Angst, in den Klausuren verdammt schlecht abzuschneiden oder sie gar nicht zu bestehen. Die ersten Klausuren sind im Dezember und diese Ängste hatte ich vom ersten Tag an. Ich bin leider Perfektionistin, das ist mir bewusst (und ein Abischnitt von 1,0 trägt auch nicht gerade dazu bei, dass man das Studium ganz entspannt ohne Erwartungen an sich beginnt. Ich habe die gesamte Schulzeit über mit Versagensängsten gekämpft, diese Ängste sind mir also nicht neu. Dabei ist es auch wenig hilfreich, dass wir von einigen Dozenten immer wieder gesagt bekommen, dass teilweise 50% der Studenten durch die erste Klausur fallen. Sehr motivierend.


    Ich zweifle nicht an meiner Fächer- und Berufswahl, nur leider an meinen Fähigkeiten. Da macht man sich früher oder später natürlich auch weiterführende Gedanken bzgl. des Refs. oder der Ausübung des Berufes. Ich habe eben etwas Angst, dass dieses Gefühl des "Nicht-Könnens" noch sehr viele Jahre bleibt.


    Rein theoretisch weiß ich, dass ich mit dem Studium eigentlich keine größeren Probleme haben dürfte. Die Vorbereitungen für die Seminare machen mir keine Probleme, die Seminare selbst auch nicht und mit den Aufgaben die man so bekommt, komme ich auch klar. Das Inhaltliche ist nicht das Problem, meine Psyche ist das Problem und eben der Eindruck, dass alle viel mehr wissen und viel mehr Erfahrung haben als ich.


    Was möchte ich jetzt eigentlich von euch? Vor allem Erfahrungswerte. Ging es euch im Studium auch mal so? Geht das irgendwann weg? Kann man das irgendwie beschleunigen? Ist es normal, dass man von vielen Dingen noch nie etwas gehört hat? Und vielleicht am Wichtigsten: Wie komme ich von diesem ewigen Perfektionismus weg? Letztens gab es hier einen Faden in dem es um Perfektionismus und Burnout ging. Da ich ungern in 10 Jahren auch so einen Faden eröffnen möchte, frage ich jetzt.


    Viele Grüße
    Nachgedacht

  • Hallo, ich bin nach der Schule auch direkt an die Uni und war dann dementsprechend auch mit 25 fertige Lehrerin. Wipo ist Politik und Wirtschaft, oder? Dann hast du die gleiche Fächerkombi wie ich. Mir ging es in den Politik Seminaren ähnlich wie dir. Da saßen Cracks drin, die Sachen wussten, von denen ich im Leben noch nie was gehört hat. Ich muss aber gestehen, dass mich mancher Inhalt auch gar nicht so recht interessiert hat und ich eben nur da war, weil ich den entsprechenden Schein brauchte.
    Ich habe dann halt für die Klausuren gelernt, aber nicht in herausragendem Maße. Bestanden habe ich trotzdem jede Klausur oder Hausarbeit auf Anhieb.


    In Politik ist dieser EIndruck tatsächlich nie komplett weggengen. Bis heute ist das auch das Fach, welches ich deutlich weniger gern als Englisch unterrichte.


    Vom Perfektionismus solltest du drigend versuchen wegzukommen. Spätestens im Ref, wird es sonst schwer für dich. Viele Tipps davon wegzukommen, kann ich dir gar nicht geben. Ich bin ehrlich gesagt alles andere als perfektionistisch. Trotzdem habe ich eine 1,8 im 2. Staatsexamen geschafft. Ich habe immer versucht dabei zu leben und ich finde das wichtigste, was man immer im Hinterkopf behalten muss ist, dass man Arbeitet um zu leben und nicht umgekehrt.


    Alles Gute

  • Ich würde an einer Stelle mal die ersten Prüfungen abwarten und schauen, was diese Schwätzer dann sagen. In der Regel offenbart sich, dass meist gar nicht so viel dahinter ist, wie es den Anschein erweckt ;)

  • Ich weiß ja nicht, wie das heute ist, aber bei mir damals saßen in Vorlesungen (!) Leute aus dem ersten und achten Semester gleichzeitig drin. Wenn der Prof dann sagte "Das muss Ihnen eigentlich ein Begriff sein", nickten die im 8. Semester und die Erstsemester schauten ratlos ... In Seminaren war die Bandbreite dann 1-4 Semester (also alles vor der Zwischenprüfung) und 5-10 Semester (Hauptstudium) - auch da gab es natürlich eine große Bandbreite an Vorwissen bei den höheren Semestern.

  • Ich habe zwar eine Fremdsprache studiert, aber da ging es mir ähnlich: Im ersten Semester sprudelte es aus manchen direkt heraus, ich tat mir sehr schwer beim Formulieren, später hat sich herausgestellt, dass die nur irgendwas daher redeten und von sprachlicher Korrektheit keine Spur war.

  • Ich schließe mich den anderen an. In Seminaren und Vorlesungen sitzen Leute aus verschiedenen Semestern und mit unterschiedlichen Hintergründen, dass man da nicht überall mitreden kann, ist verständlich.
    Warte erst mal ab, wie die Klausuren im Dezember laufen, manchmal reden die Leute viel, bekommen dann aber schriftlich nicht viel hin.


    Jetzt mal zu deinen Fragen (habe sie einfach mal durchnummeriert)

    1. Ging es euch im Studium auch mal so?
    2. Geht das irgendwann weg?
    3. Kann man das irgendwie beschleunigen?
    4. Ist es normal, dass man von vielen Dingen noch nie etwas gehört hat?
    5. Und vielleicht am Wichtigsten: Wie komme ich von diesem ewigen Perfektionismus weg? Letztens gab es hier einen Faden in dem es um Perfektionismus und Burnout ging. Da ich ungern in 10 Jahren auch so einen Faden eröffnen möchte, frage ich jetzt.

    1. und 2. Oh ja, wird aber mit der Dauer des Studiums besser.
    3. Wenn du möchtest, kannst du zusätzlich zur geforderten Literatur natürlich noch weiterführende Literatur lesen (einfach mal den Dozenten fragen, was er empfiehlt)
    4. Ja, sonst müsste man ja nicht studieren :)
    5. Du sagst selbst, dir ging es in der Schule schon ähnlich, überlege dir, was hat dir da geholfen? Wer kann dich unterstützen? Lies mal im Burnoutfaden, da gibt es einige Tipps zur Selbsthilfe. Wenn es nicht besser wird, dann solltest du dir lieber zu früh als zu spät professionelle Hilfe holen. An jeder Uni gibt es z.B. Psychologen die sich mit solchen Fällen auskennen.

    Gerade in Elternzeit, deshalb fast nur stille Mitleserin :essen:

  • Mir erging es ähnlich, als ich mit dem Anglistikstudium begonnen habe. Ich habe damals ein recht gutes Abi ohne viel Aufwand abgelegt und auch in Englisch immer konstant mühelos gute Noten erzielt und war neben einer Muttersprachlerin der stärkste im Kurs. Dementsprechend dachte ich, ich hätte schon ein gewisses Sprachniveau. Als ich dann aber in die Uni kam, trat Ernüchterung ein und ich saß mit Leuten im Raum, die teilweise ein Jahr lang schon im englischsprachigen Ausland gelebt haben und auch entsprechend Englisch sprachen. Mich hat das Ganze jedoch motiviert, einfach an meinen Kenntnissen zu arbeiten und mich zu verbessern. Das meiste hat sich einfach im Laufe der Zeit ergeben: Je mehr man sich wissenschaftlichen Texten ausliefert, desto einfacher fällt es einem und du wirst sehen, dass das alles machbar ist. Lass dich nicht von sowas unterkriegen und mach einfach dein Ding. Achte dabei aber gleichzeitig auf dich und deinen Körper und mach auch mal Dinge, die nichts mit der Uni zu tun haben. Das macht den Kopf frei und das Lernen funktioniert besser und auf der anderen Seite wird man sonst Banane.

  • Danke erst einmal an alle für die Antworten. Ist ja schonmal schön zu hören, dass es anderen offenbar genauso ging.

    Wipo ist Politik und Wirtschaft, oder? Dann hast du die gleiche Fächerkombi wie ich. Mir ging es in den Politik Seminaren ähnlich wie dir. Da saßen Cracks drin, die Sachen wussten, von denen ich im Leben noch nie was gehört hat. Ich muss aber gestehen, dass mich mancher Inhalt auch gar nicht so recht interessiert hat und ich eben nur da war, weil ich den entsprechenden Schein brauchte.
    Ich habe dann halt für die Klausuren gelernt, aber nicht in herausragendem Maße. Bestanden habe ich trotzdem jede Klausur oder Hausarbeit auf Anhieb.

    Ja genau, Wipo ist Wirtschaft und Politik. Das meiste was wir machen interessiert mich inhaltlich schon, nur haben wir eben genau solche Leute dabei, die einem das Gefühl geben sie wüssten alles. Kann auch mit dem was @DeadPoet gesagt hat zusammenhängen. Das kann gut sein, dass manche schon einige Semester weiter sind. Ändert aber leider nichts daran, dass ich ein schlechtes Gefühl habe, weil ich so vieles einfach noch nicht weiß/wissen kann.


    5. Du sagst selbst, dir ging es in der Schule schon ähnlich, überlege dir, was hat dir da geholfen? Wer kann dich unterstützen? Lies mal im Burnoutfaden, da gibt es einige Tipps zur Selbsthilfe. Wenn es nicht besser wird, dann solltest du dir lieber zu früh als zu spät professionelle Hilfe holen. An jeder Uni gibt es z.B. Psychologen die sich mit solchen Fällen auskennen.


    Das ist ja das Problem, in der Schule kam mir das nicht so schlimm vor wie es jetzt gerade der Fall ist (Außer als es auf die Abiprüfungen zuging, aber da dachte ich, dass das danach vorbei wäre und fand es deshalb auch noch erträglich). Ich vermute, ich habe über die Zeit einfach gelernt, damit zu leben, bzw. bin dem Problem irgendwie aus dem Weg gegangen, weil ich sowieso keine Lösung gesehen habe. Das klappt jetzt aber leider nicht mehr (mal ganz davon abgesehen, dass Verdrängung auch nicht die allerbeste Methode ist, aber eben für einen bestimmten Zeitraum sehr effektiv).


    Aktuell versuche ich gerade, einfach mit Menschen darüber zu reden, in der Hoffnung, dass ich irgendwann merke, dass die Ängste, die ich habe, normal und unbegründet sind.
    Ich komme gerade aus einer 18 monatigen Therapiephase, in der das durchaus auch mal Thema war. Wirklich geändert hat sich diesbezüglich längerfristig aber nichts.

  • bis ich merkte, dass gefühlt alle anderen deutlich mehr Ahnung von der Thematik haben als ich

    Das ist normal. Immer kräftig lesen und nachdenken, dann legt sich das.


    Zitat

    was (besonders in Wipo) darin resultierte, dass ich mich von Anfang an nicht wirklich getraut habe, mich in irgendeiner Form an den Seminaren zu beteiligen.

    Ich weiß nicht, ob du eine Frau bist, aber das ist ärgerlicherweise so eine Frauensache. Männer haben keinerlei Schwierigkeiten, über Dinge zu reden, von denen sie keine Ahnung haben. Und das ist im Seminar auch gar nicht mal so schlecht, weil der Austausch und die Konfrontation mit der Realität seinerseits einen Lernweg darstellt. Das solltest du dir nicht entgehen lassen.


    Zitat

    Ich bin leider Perfektionistin

    Das solltest du dir abgewöhnen, vor allem bei deinem Berufsziel. Perfektionismus ist der Königsweg dahin, sich zu verzetteln und überhaupt kein Ergebnis zu erreichen. Und im Beruf reibst du dich mit Perfektionsismus kaputt. Vollkommen ineffizient und unbedingt zu vermeiden. Recherchiere, was das Pareto-Prinzip ist und arbeite danach.


    Zitat

    meine Psyche ist das Problem und eben der Eindruck, dass alle viel mehr wissen und viel mehr Erfahrung haben als ich.

    Sehr gut! Der erste und wichtigste Schritt ist dir schon gelungen, nämlich das Problem so einzugrenzen, dass du praktische Handlungsalternativen entwickeln kannst.


    Nele

  • .. Ist es normal, dass man von vielen Dingen noch nie etwas gehört hat? ..

    was nutzen dir Erfahrungswerte? Wenn die Hälfte sagte: "kenne ich auch" und die andere Hälfte: "nö, ich wusste immer schon alles". Wie bringt dich das weiter? Bereite dich doch einfach auf jedes Seminar vor und lies die angegebenen Bücher. Als Politikwissenschaftler vielleicht noch ab und an Zeitung ;) Mehr verlangt niemand.


    ...Und vielleicht am Wichtigsten: Wie komme ich von diesem ewigen Perfektionismus weg? ...

    Da kann ein Therapeut sicher besser helfen. Wenn dich dennoch Laienmeinungen interessieren: übe dich regelmäßig in Meditation. Kann man z.B. in Buddhistischen Zentren erlernen oder in teuren MBSR-Kursen und natürlich zu Hause jeden Tag trainieren. Nimm zunehmend wahr und bewerte nicht. "Die anderen" sind cool, redegwandt, schlau und witzig? Okay. Ich fühle mich dabei minderwertig, ungebildet, nicht schlagfertig? aha. Und jetzt gehe ich Mittach kochen.
    Das klingt jetzt etwas profan hier in 3 Sätzen hingeschrieben, aber Meditation ist wirklich ein fantastisches (und übrigens durchaus wissenschaftlich erwiesen hilfreiches) Mittel, um mit sich und seinem Leben klarzukommen. Je konkreter du lernst, wahrzunehmen, nicht zu bewerten und keine Änderung herbeizuwünschen, desto mehr kann Änderung stattfinden. Das hilft auch bei chronischen Schmerzen, Übergewicht und anderen Leiden, bei Ängsten aber besonders gut :bussi:

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