Gedichtanalyse ist schon ein bssichen sinnvoll, glaube ich

  • Ich krame noch mal Nainas Tweet von vor ein paar Jahren heraus, der damals zu Aufsehen führte:

    Zitat

    Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen.Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.

    Ich finde, die Beschäftigung mit Sprache, etwa anhand von Gedichten, ist schon sehr sinnvoll. Bei Gedichten ist die Sprache halt sehr konzentriert, da findet man viel, vor allem Metaphorik. Wenn Jan Wagner ein Metronom beschreibt: "dieser unerbittliche takt / des metronoms mit seinem eichensarg,/ aus dem ein dürrer totenfinger kam", dann will er mit dem Bild mehr sagen als dass das Metronom aus Eichenholz ist, eine länglich-rechteckige Form hat (oben offen) mit einem langen dünnen Stengelchen drin.


    Natürlich kommt es auf den Kontext an. Bei einem Bericht über "kreditkartengroße Akkus für medizinische Geräte" (gerade gegoogelt) geht es wohl nur um die Größe der Geräte. Wenn ich ein Treffen einer bestimmten Szene beschreibe, auf der "kreditkartengroße Schnittchen" serviert werden (aus meiner Sammlung von Bildern), dann geht es nicht darum, dass die Häppchen dort (kramt Geodreieck heraus) 8,5 x 5,3 cm groß und sehr flach waren. Sachlich richtiger wären vermutlich ohnehin "butterkeksgroße Schnittchen" gewesen, aber ich kenne mich in der Gastroszene nicht genug aus.


    Schüler und Schülerinnen kommen in der Mittelstufe dann vielleicht mal mit: "Sie können doch gar nicht wissen, ob der Autor sich das dabei gedacht hat." In der Oberstufe dann nicht mehr.

    Seit 2004 unter dem gleichen Namen im Forum, weitgehend ohne ad hominem.

  • Ich betrachte diesen peinlichen Tweet eher auf der Metaebene.


    Wer bei der Gedichtinterpretation aufgepasst hat, hat insbesondere auch an seinem Leseverständnis gearbeitet. Dann sollte man auch in der Lage sein die genannten Punkte durch Recherche und genaues Lesen sich selbst anzueignen.

  • Zumal ich ein kurzes Gedicht innerhalb einer Doppelstunde lesen und inhaltlich erfassen kann. (Ich weiß, man kann sich auch wochenlang mit einem einzigen Gedicht beschäftigen.)
    So ein 16-seitiger Mietvertrag ist nicht so schnell in aller Tiefe überflogen.
    Es geht bei Gedichten um Lesetechniken. Textverständnis. Auch von komplexeren Texten, die nicht in "Alltagssprache" verfasst sind. (Und nebenbei ist ein wenig Literatur und Kultur ja auch nicht so schlecht.

  • Ich habe es gehasst und weiß bis heute nicht, wofür das so richtig gut sein soll, außer dass die meisten Deutschlehrer (oh Wunder!) eben Gedichte mögen und darüber im Unterricht lamentieren können. Sorry, ich bin da durch meine Deutschlehrer von Klasse 11-13 echt geschädigt. Sie haben mir deutsche Literatur ordentlich verleidet, indem sie sich ständig an dem ganzen "in dem Bild steckt ja so viel drin als die Worte" aufgegeilt haben! Ich fand's gähnend langweilig und irgendwie auch belanglos. In Engflisch habe ich gerne Literatur gelesen, weil man die Sprache nicht so dermaßen seziert hat.

  • Zu meiner Schulzeit wurden auch die „üblichen Verdächtigen“ Erlkönig, Zauberlehrling & Co. wochenlang durchgenudelt... gottseidank wurden mir dadurch Gedichte nicht verleidet, ganz im Gegenteil. Heute gibt es ja so viel schöne und aktuelle Lyrik, auch abseits des fast schon omnipräsenten Jan Wagner. Gedichte müssen ja nicht zwingend Jahrhunderte gelagert werden, bis sie gut werden - man kann sie auch ganz frisch geniessen ;)

  • Heute gibt es ja so viel schöne und aktuelle Lyrik, auch abseits des fast schon omnipräsenten Jan Wagner. Gedichte müssen ja nicht zwingend Jahrhunderte gelagert werden, bis sie gut werden - man kann sie auch ganz frisch geniessen ;)

    Das mag stimmen. Mein Deutschlehrer war jedoch Fan von Rainer Maria Rilke. Ganz ehrlich: Welcher normale Mensch kann (in dem Alter) irgendetwas mit diesem schwülstigen Mist anfangen?

  • Jeder kennt es:



    Über allen Gipfeln
    ist Ruh ...



    Das Gedicht hat 8 Zeilen.




    Vor Jahren habe ich unter einem Pult ein 4-seitiges Geheft aus unserem LK Deutsch gefunden, in dem dieses kurze Gedicht nach allen Regeln der Interpretationskunst verhackstückt wurde.



    Unter den Überschriften



    Semantische Besonderheiten
    Exkurs
    Syntaktische Besonderheiten
    Klangliche Besonderheiten
    Rhythmus und Metrum
    Graphische Besonderheiten (Vers- Strophenbildung)
    Sprecher
    Adressat



    stand jeweils ein Absatz von etwa einer halben Seite.



    Am Ende des letzten war zu lesen:



    Abschließend sei noch einmal angemerkt, dass die vorangehenden Bemerkungen nicht für eine Interpretation gehalten werden dürfen. ... ...
    Beispielsweise ist der Kontext des Gedichtes völlig unberücksichtigt geblieben, und auch die methodische Verkettung einzelner Analyseschritte hätte in einer Interpretation stärker ausgeprägt sein müssen, damit ein in sich abgerundeter Analysetext entstanden wäre.




    An dieser Stelle konnte ich nicht anders als zu denken: "Aber so ein Gedicht bringen sie nicht zustande"

  • Ich finde den Erlkönig und den Zauberlehrling tatsächlich toll ^^


    Wenn ich Lyrik in der 9 behandle, nehmen wir jedoch aktuelle Songtexte auseinander. Das finden die dann auch (recht) interessant.


    Das heißt ja nicht, dass die Schule nicht mit Kooperationspartnern zusammenarbeitet und z.B. die Bank in die Schule kommt und Kontoführung erklärt oder die Versicherung vorbei kommt etc...

  • Bei Gedichten ist die Sprache halt sehr konzentriert, da findet man viel, vor allem Metaphorik.

    Im Prinzip ist das der Ansatz, den ich meinen Schülern gegenüber auch vertrete: Wer literarische Texte analysieren kann und verstehen kann, mit welchen Mitteln sie bestimmte Wirkungen beim Leser erzeugen, der kann mit den gleichen Methoden/Werkzeugen auch Manipulation in allen möglichen anderen Texten (Zeitungsartikeln, Kommentare, Reden, Werbung etc.) erkennen. Literarische Texte und v.a. Gedichte sind dazu besonders gut geeignet, weil die Sprache sehr verdichtet ist, d.h. es ist relativ leicht, hier zu sehen, wie Sprache gezielt eingesetzt wird.
    Wichtig ist dann aber natürlich der Sprung zu Sachtexten, der seit dem G8 in Bayern ja auch konsequent aber der Unterstufe gemacht wird. Soweit also erstmal alles okay.


    Ein zweiter wichtiger Punkt ist, und da komme ich ein wenig von Gedichten weg hin zu anderen literarischen Texten, dass Erzähl- und Darstellungstraditionen seit dem antiken Drama über alle Epochen hinweg Eingang in unsere aktuellen Erzählformen gefunden haben. Auch Motive der verschiedenen Epochen. Ich erkläre den Begriff "Katharsis" mit dem guten Gefühl, das man als Kinobesucher hat, wenn man das Kino verlässt, auch wenn gerade Jack unter tragischen Umständen mit der Titanic untergegangen ist oder wenn man gerade zwei Stunden lang zugesehen hat, wie Jigsaw in Saw Menschen gefoltert hat. Ich erkläre das Humanitätsideal, indem ich aufzeige, warum Han Solo am Ende doch umdreht und beim Angriff gegen den Todesstern hilft. Ich erkläre das retardierende Moment mit jeder beliebigen Romantic Comedy, wo kurz vor dem Happy End doch noch irgendwas schiefgeht etc. etc. etc.
    Das ist dann alles stark vereinfacht, aber es zeigt, wie Motive und Strukturelemente aus der Literaturgeschichte bis heute in unseren Rezeptionserwartungen prägen und warum wir gewisse Handlungsentwicklungen als "vorhersehbar" abtun und warum Game of Thrones genau deshalb in späteren Staffeln so nachgelassen hat.


    Ein dritter Punkt ist dann tatsächlich so etwas wie das Bildungsideal. Ich bin durchaus der Meinung, dass Bildung einen gewissen Selbstzweck hat und eine Abiturient sollte gewisse Texte gelesen haben, gewisse Autoren kennen und eine Grundidee von der literaturhistorischen Entwicklung haben.

  • Ist das nicht wie in jeder Kunst? Ich kann einem Musikstück lauschen und mich wohlfühlen, ich kann auch Musiktheorie lernen und wenn ich das perfektioniere, selbst komponieren. Wenn ich aber weder Musikstücke, den Aufbau, Komponisten, Einordnung in Zeiträume... kennenlerne, entgeht mir die Möglichkeit, Musik zu verstehen. Und auch, meinen Verstand zu bilden, den Textanalyse und Musiktheorie sind ja sehr rationale Vorgänge.


    Auch wenn alle Jugendlichen Musik konsumieren, würde trotzdem keiner anzweifeln, dass man sich mal theoretisch damit auseinandersetzen darf, um sie besser zu verstehen, selbst zu produzieren und neue Musikstile kennenzulernen. Oder nicht? Ich denke, wenn man das alles anzweifelt, ist Lehrer eh der falsche Beruf. Denn jedes Thema wird in der Schule analysiert. So gesehen dürfte man sonst keine Matheaufgabe lösen lernen oder Plattentektonik in Geo kennenlernen, sondern die Schüler nur an der Freude der "Faszination Mathematik" und aufregenden Vulkanausbrüchen ergötzen, in dem man die Mathelösung gleich mitliefert und Vulkanfotos anguckt.

  • In der Grundschule wird der Lebensweltbezug zu Recht sehr hoch gehalten, da das Verknüpfen der Lerninhalte leichter hält. Mir ist es unbegreiflich, wieso dieses Konzept auf den weiterführenden Schulen derart missachtet wird (ich beziehe mich natürlich nur auf meine eigenen Erfahrungen als Schüler). Nein, ich würde Gedichte nicht komplett aus dem Lernplan schmeißen, aber diese dominante Rolle, die Gedichte einnehmen, halte ich für völlig bescheuert. Textverständnis ließe sich auch an relevanten, der Lebenswelt der SuS entspringenden Texten üben. Warum nicht mal Artikel aus der Bild, der Zeit, dem Focus und dazu noch einen Relotius-Artikel vergleichen und analysieren? Warum nicht mal die Sprache der AfD genauer anschauen anstatt sich zum xten Mal durch einen Andreas Gryphius ( :uebel: ) durchzukauen? Vielleicht könnte man auch mal versuchen, den Text einer aktuellen wissenschaftlichen Studie zu verstehen und daraus einen Artikel zu schreiben. Wie wär's mit einer Einführung in den Umgang mit Quellen, korrektes Zitieren, also etwas, das für fast alle Gymnasiasten relevant wird?


    Das sind alles so Sachen, die ich gerne gelernt hätte. Stattdessen erinnere ich mich vor allem an stinklangweilige alte Schinken und ein Gedicht nach dem nächsten, das mich als Jugendlichen genauso wie meine Mitschüler stets 0,0 interessiert hat.

  • In der Grundschule wird der Lebensweltbezug zu Recht sehr hoch gehalten, da das Verknüpfen der Lerninhalte leichter hält. Mir ist es unbegreiflich, wieso dieses Konzept auf den weiterführenden Schulen derart missachtet wird (ich beziehe mich natürlich nur auf meine eigenen Erfahrungen als Schüler). Nein, ich würde Gedichte nicht komplett aus dem Lernplan schmeißen, aber diese dominante Rolle, die Gedichte einnehmen, halte ich für völlig bescheuert. Textverständnis ließe sich auch an relevanten, der Lebenswelt der SuS entspringenden Texten üben. Warum nicht mal Artikel aus der Bild, der Zeit, dem Focus und dazu noch einen Relotius-Artikel vergleichen und analysieren? Warum nicht mal die Sprache der AfD genauer anschauen anstatt sich zum xten Mal durch einen Andreas Gryphius ( :uebel: ) durchzukauen? Vielleicht könnte man auch mal versuchen, den Text einer aktuellen wissenschaftlichen Studie zu verstehen und daraus einen Artikel zu schreiben. Wie wär's mit einer Einführung in den Umgang mit Quellen, korrektes Zitieren, also etwas, das für fast alle Gymnasiasten relevant wird?


    Das sind alles so Sachen, die ich gerne gelernt hätte. Stattdessen erinnere ich mich vor allem an stinklangweilige alte Schinken und ein Gedicht nach dem nächsten, das mich als Jugendlichen genauso wie meine Mitschüler stets 0,0 interessiert hat.

    Genau das macht man doch in der Sek 1... Mir ist es noch nie so vorgekommen, dass lyrische Texte eine dominante Rolle einnehmen.

  • aber diese dominante Rolle, die Gedichte einnehmen, halte ich für völlig bescheuert

    Von einer dominanten Rolle kann keine Rede sein.


    Als wir im Fachbereich Deutsch unser jetziges / neues Schulinternes Curriculum erstellt haben, wurden Gedichte in der Entwurfsfassung fast vollständig ignoriert.
    In dem, was die verschiedene Jahrgangsteams einreichten, fanden sich:
    Klasse 5: ein eher "spielerischer" Umgang mit Gedichten (Jahreszeitgedichte, Metrum erspüren, Reimschema, Elfchen, ...)
    Klasse 6: nichts
    Klasse 7: nichts
    8, 9: nichts
    Klasse 10: Die Schüler können Gedichte umfassend analysieren und interpretieren (und erfassen/umsetzen/...). Nur wie sie diese Kompetenzen hätten erwerben sollen, das war aufgrund der vorangehenden Jahre irgendwie nicht ersichtlich.


    Ich denke (befürchte?), dass dieser Stellenwert, der Gedichten hier eingeräumt wurde, recht repräsentativ ist. War ja schließlich eine ganze (nicht zu kleine) Fachgruppe, die daran arbeitete. (Für das Fach Englisch kann ich ähnliches berichten, nur dass dort Gedichte noch weniger intensiv /wohl erst ab der 11. Klasse schriftlich "auseinandergenommen" werden.)


    Diese Diskussion um Gedichte ist mMn somit sehr übertrieben.


    Der mittlerweile doch schon in die Jahre gekommene Tweet zeigt aber, wie wichtig das zugrunde liegende Wissen ist. Schließlich bedient er sich durchaus stilistischer Mittel, die ihn so wirkungsvoll werden lassen.

  • Ich würde mal behaupten, dass die Intensität, mit der literarische Texte im Sprachunterricht behandelt werden, auch sehr von der eigenen Einstellung der Lehrer hierzu abhängt. Ich kann da eher für Englisch sprechen (aber in Ansätzen ist das auch auf Deutsch und Französisch übertragbar) und in den meisten Curricula (außer Sachsen und Bayern) gibt es Möglichkeiten, den Umgang mit diversen literarischen Gattungen auf ein Minimum zu beschränken. Es kommt dirchaus vor, dass die einzigen Texte, denen Schüler im Rahmen des Englischunterrichts der gesamten Sek I begegnen, diejenigen aus dem Lehrwerk sind. Das finde ich persönlich schade, da lyrische, epische und dramatische Texte in sehr elementarer Weise bereits im frühen Stadium des Fremdsprachenlernens eingesetzt werden können und meiner Meinung nach auch sollten.

Werbung