ADHS ohne Ritalin in den Griff bekommen

  • Oh sorry, wusste ich tatsächlich nicht. und meine Frage bildete auch tatsächlich nicht ab, was in meinem Kopf beim Lesen angekommen war und zwar ‚wenn ein Kind ADHS hat, ist die Mutter schuld, sie hat vermutlich in der Schwangerschaft getrunken‘.

    Sind Eltern von Kindern mit Verhaltensproblematiken nicht anders gewohnt. Da stehen regelmäßig noch ganz andere Verdächtigungen im Raum. Das ist oft der Grund, warum die Eltern irgendwann für uns "nicht mehr greifbar" sind. Wenn Elterngespräche zur sinnlosen Tortur für die Eltern werden, gehen sie nicht mehr hin.

    Dödudeldö ist das 2. Futur bei Sonnenaufgang.

  • Ich stimme dir zu Buntflieger, was du als nützliche Hinweise unten schreibst (anders geht das Zitieren bei mir gerade nicht). Ich würde noch hinzufügen:


    • Auch wenn es schwierig ist, dem Kind Liebe/Zuwendung/Achtung entgegenbringen. Ein guter Draht zum Kind und ein sich-angenommen-fühlen seinerseits erleichtern die Situation.
    • Und für sich selbst: Alles nicht zuuu ernst nehmen.


    Das mit der Medikamentengabe würde ich allerdings nicht übernehmen wollen.

    Hier einige nützliche Hinweise aus ADHS-Pedia:


    • Selbstregulation und Selbstreflexion aktiv anregen: Aufkeimendes negatives Verhalten im Ansatz unterbrechen und zur Selbstreflexion anregen, jedoch auf Moralisierung verzichten.
    • Aufstellen fester und indiskutabler Regeln für den Unterricht: das Regelwerk überschaubar halten, die Einhaltung jedoch konsequent durchsetzen.
    • Kleine Fortschritte hervorheben: Fortschritte des Kindes bewusst wahrnehmen und hervorheben, auch vor der Klasse. Dabei die Fortschritte nicht betont mit den initialen Leistungsmängeln kontrastieren lassen. Überschwänglichkeit vermeiden, authentisch bleiben.
    • Die Individualität der persönlichen Lerndispositionen berücksichtigen und anerkennen.
    • Bei Stillarbeit Fragen an den Sitznachbarn nach Möglichkeit nicht als ablenkendes Verhalten bewerten und sanktionieren, sondern als positive soziale Interaktion mit Lerneffekt.
    • Klare und unmissverständliche Anweisungen geben: Dabei stets vom Schüler die Arbeitsanweisung wiedergeben lassen, um das Verständnis zu überprüfen.
    • Sicherstellen einer angstfreien Lernatmosphäre: Bloßstellung auch bei störendem Verhalten auf jeden Fall vermeiden.
    • Aufgaben überschaubar halten: Aufgaben in Abschnitte unterteilen, Zwischenziele erkennbar aufschlüsseln, um das Lösen komplexer Aufgaben zu erleichtern und Prinzipien erkennbar zu machen (Kleinschrittig-strukturierende Vorgehensweise).
    • Konsequente Überprüfung der Notierungen der Hausaufgaben.
    • Strafen und Vorwürfe nach Möglichkeit vermeiden, dabei den symptombedingten Ursprung des Problemverhaltens sich selbst vergegenwärtigen. Bei Notwendigkeit wertschätzend kritisieren, jedoch ohne zu moralisieren.
    • Zeichen vereinbaren, um den Schüler im Falle von Träumen in das Unterrichtsgeschehen zurückzuholen.
    • Aufgrund der zumeist geringen Ambiguitätstoleranz von ADHS-Kindern Doppeldeutigkeiten und / oder Ironie vermeiden.

    Quelle: https://www.adhspedia.de/wiki/ADHS_und_Schule


    der Buntflieger

  • Medikamente wollten oben genannte Eltern ja nicht geben - und Medikamente jeglicher Art solltest du, Buntflieger, als Lehrer auch nicht verabreichen, wenn sie nicht in dem Moment akut lebensrettend sind, aber das hatten wir schon anderswo.

    Hallo Kathie,


    wenn das ärztlich und elterlich abgeklärt und die Haftung schriftlich ausgeschlossen wurde, spricht da nichts dagegen, dass ich dem Kind die ärztlich verordneten Medikamente aushändige. In der Grundschule dürfte das natürlich eher Thema sein als in Sek. I, aber wenn Eltern diese Unterstützung benötigen, würde ich mich da nicht verweigern.


    Generell kann aber keine Lehrkraft dazu gezwungen werden.


    der Buntflieger

  • Sind Eltern von Kindern mit Verhaltensproblematiken nicht anders gewohnt. Da stehen regelmäßig noch ganz andere Verdächtigungen im Raum. Das ist oft der Grund, warum die Eltern irgendwann für uns "nicht mehr greifbar" sind. Wenn Elterngespräche zur sinnlosen Tortur für die Eltern werden, gehen sie nicht mehr hin.


    Hallo Jule13,


    das war von mir in keiner Weise so gemeint. Du ziehst das komplett aus dem Kontext heraus, indem ich es erwähnte. Es ging um die Frage, weshalb die Intelligenz von AD(H)S-Betroffenen etwas niedriger ist im Schnitt. Dabei können die genannten Faktoren mit eine Rolle spielen.


    Es handelt sich nicht um "Verdächtigungen", sondern um wissenschaftlich gut belegte Zusammenhänge. Dass es natürlich völlig inakzeptabel wäre, solche Dinge im Rahmen eines Elterngesprächs zu thematisieren, versteht sich von selbst. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Kollegen derartig unprofessionell vorgehen würden.


    der Buntflieger

  • Ich meine, bei diagnostizierter LRS gibt es einen Ausgleich, bei Dyskalkulie bekommen die SuS mehr Zeit und Hilfsmittel bei Tests. Bei ADHS kann ich die SuS bei Tests evtl. vor die Tür setzen (weniger Reize?), aber gibt es da sonst irgendeinen "Bonus", den man verpasst bei nicht gestellter Diagnose?

    Ja, man kann als Schule mit der ADHS-Diagnose einen offiziellen Nachteilsausgleich gewähren.


    Zeitverlängerung bei Klassenarbeiten, besondere Bereitstellung der Aufgaben (alle Aufgaben einzeln oder kleinschrittigere Aufgaben) und besondere Platzwahl.
    Es kann aber auch andere Teile des Unterrichts betreffen, das kommt dann auf den Schulleiter an, würde ich sagen.



    Ad Medikamentengabe:


    Ich habe vor einigen Jahren eine Klassenfahrt einer 8. Klasse begleitet. Am Tag der Abfahrt gab mir die Mutter eines Schülers eine Packung Medikinet in die Hand mit den Worten "Das ist ein Betäubungsmittel. Das nehmen besser Sie in Ihre Obhut."
    Ich habe mir dann die Medikamentengabe erklären lassen und dem Schüler jeden Morgen die Packung mit zum Frühstück gebracht. Er hat sich eine Pille rausgenommen, danach habe ich sie wieder in meinem Zimmer im Schrank eingeschlossen.

  • Ich hab in einer Abschlussklasse drei diagnostizierte ADHSler sitzen. Die sind natürlich schon volljährig, kennen ihr Problem und dementsprechend sind sie gut zu "ertragen". Einer von den drei Jungs hat einen Nachteilsausgleich, er hat bei schriftlichen Prüfungen mehr Zeit zur Verfügung. Mit Unterrichtsstörungen muss man wirklich anders umgehen denn die sind permanent. Die Jungs geben sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten allerbeste Mühe aber länger als 2 min am Stück kann keiner von ihnen die Klappe halten.


    Im Taekwondo hatten wir mal einen jungen Mann mit ADHS der sich standhaft weigerte sein Medikament zu nehmen. Der war echt gemeingefährlich empathielos und wenn man im Radius seiner Beinlänge stand lief man immer Gefahr im nächsten Moment eins davon an den Kopf zu bekommen. Ein Kollege hat einen Sohn, der ohne Medikament wohl ähnlich ätzend wird. Ich hatte den im Unterricht und konnte mir das gar nicht vorstellen, ich war völlig überrascht, als sein Vater mir beim Mittagessen mal beiläufig von der Diagnose erzählte.

  • Wir geben auch Medikamente. Bekommen die entweder von den Eltern direkt und/oder bei Heimkindern von den Erziehern. Bei Epileptikern (andere Geschichte!) gehen wir nie ohne Medis, die auchin der Schule immer griffbereit sein müssen, aus dem Haus. Ich hab nicht nur einmal den Notarzt angerufen. Handy ist immer dabei!

  • Mal ne Frage an die, die sich auskennen: Haben es wirklich häufiger Jungs oder wird es bei denen nur häufiger diagnostiziert? Ich hatte in meinen Klassen bisher nur Jungs damit, eine Kollegin hat es als Erwachsene.

  • Ja, man kann als Schule mit der ADHS-Diagnose einen offiziellen Nachteilsausgleich gewähren.
    Zeitverlängerung bei Klassenarbeiten, besondere Bereitstellung der Aufgaben (alle Aufgaben einzeln oder kleinschrittigere Aufgaben) und besondere Platzwahl.
    Es kann aber auch andere Teile des Unterrichts betreffen, das kommt dann auf den Schulleiter an, würde ich sagen.

    Gibt es da irgendwo etwas Schriftliches, auf das man sich berufen kann?

  • Gibt es da irgendwo etwas Schriftliches, auf das man sich berufen kann?

    Auf der Webseite dieses Vereins findet sich ein nicht ganz aktueller, dennoch sicherlich hilfreicher Überblick über Regelungen der Bundesländer zum Nachteilsausgleich. Zu BW speziell:



    Wir hatten vor kurzem einen Fall einer auditiven Wahrnehmungsstörung, da lief das unproblematisch über den Weg ärztliche Diagnose+ Attest- elterlicher Antrag auf Nachteilsausgleich- Klassenkonferenz (in deren Rahmen wir überhaupt erst definieren mussten, wie ein Nachteilsausgleich sinnvollerweise aussehen kann, um tatsächlich ein solcher sein zu können). Ich denke, mit einer entsprechend vom Schülerwohl aus denkenden SL sollte das auch bei AD(H)S unproblematisch sein, in jedem Fall muss die Klassenkonferenz einen diesbezüglichen elterlichen Antrag ernst nehmen und kann ihn nicht einfach abweisen. Was dann im Einzelfall sinnvoll ist, dafür gibt es- wie sonst auch bei Nachteilsausgleichen- keine offiziellen Vorgaben, da jeder Einzelfall anders ist. Rücksprache mit z.B.der schulpsychologischen Beratungsstelle und/oder dem für euer Sprengel zuständigen Beratungslehrer kann aber ergänzend zu eurem Wissen als Lehrkräfte über eure SuS und deren Lernverhalten/Auswirkungen von Beeinträchtigungen, sowie den ärztlichen und elterlichen Hinweisen sicherlich helfen.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Leider werden in der "ADHS-Diskussion" immer verschiedene Krankheitsbilder durcheinander geworfen und gerne auch chemisch therapiert - obwohl es in vielen Fällen falsch ist.


    Organisch verursachtes ADHS wird durch eine Störung am synaptischen Spalt der Signalübertragung im Gehirn ausgelöst. Dieser liegt bei den Betroffenen unter "Dauerfeuer" und dieses kann durch Ritalingabe eingestellt werden. Bei diesem - nur von wirklichen Fachleuten diagnostizierbaren Befund - ist Ritalin wirklich notwendig und unumgänglich.


    Die meisten Pseudo-ADHS-Krankheitsbilder sind psychisch und durch Erziehungs- / Sozialisationsfehler bedingt. Hier kann nur Psychotherapie / Erziehungshilfe oder ein Eingriff in die herrschenden Lebensumstände (Jugendhilfe etc) greifen. Ritalin oder andere Psychopharmaka sind hier nur "überdeckend" wirksam und lösen das vorliegende Problem nicht, sind somit nicht hilfreich, werden von Eltern jedoch gerne favorisiert, weil die Schuld am Verhalten von ihnen weg zum Kind geschoben wird.

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

  • Bei diesem - nur von wirklichen Fachleuten diagnostizierbaren Befund - ist Ritalin wirklich notwendig und unumgänglich....
    Die meisten Pseudo-ADHS-Krankheitsbilder sind psychisch und durch Erziehungs- / Sozialisationsfehler bedingt.
    ...


    Psychopharmaka sind hier nur "überdeckend" wirksam und lösen das vorliegende Problem nicht, sind somit nicht hilfreich, werden von Eltern jedoch gerne favorisiert, weil die Schuld am Verhalten von ihnen weg zum Kind geschoben wird.


    Hallo alias,


    dir unterläuft aus meiner Sicht ein entscheidender Denkfehler: Eltern dürfen ihren Kindern nur dann die genannten Medikamente verabreichen, wenn eine entsprechende Diagnose "von wirklichen Fachleuten" vorliegt.


    Dann aber sind es nicht die Eltern, von denen ausgehend irgendeine "Schuld ... weg zum Kind geschoben wird", wie du schreibst. Sie folgen lediglich der medizinisch anerkannten Therapieempfehlung. Punkt.


    Das von dir so benannte "Pseudo-ADHS-Krankheitsbild" gibt es nicht. Nun gut, aus pseudowissenschaftlicher Sicht mag es das geben, aber eben nicht außerhalb jener Kreise.


    Schuldzuweisungen an Angehörige halte ich jedenfalls für höchst problematisch und die Mär von den bösen Eltern, die ihren Kindern nicht genügend Aufmerksamkeit, Liebe und Gelegenheit für "echte Erfahrungen" etc. (Hüther) böten, sollten wir unbedingt kritisch hinterfragen. Derartiges Geschwätz hat schon viel zu viel Schaden angerichtet.


    der Buntflieger

  • ... die Mär von den bösen Eltern, die ihren Kindern nicht genügend Aufmerksamkeit, Liebe und Gelegenheit für "echte Erfahrungen" etc. (Hüther) böten, sollten wir unbedingt kritisch hinterfragen.

    Bedeutet das, dass du anzweifelst, dass es solche Eltern gibt?

    • Offizieller Beitrag

    Alias hat insofern Recht, alsdass die Diagnose ADHS oft voreiligt gestellt wird. Das ist die Generalexkulpation für alles künftige Fehlverhalten des Kinder bzw. der Fehler in der Erziehung durch seine Eltern.
    Diese Diskussion hatten wir aber weiter oben schon einmal.


    Es gibt Eltern, die nicht konsequent erziehen - und deren Kinder verhalten sich auf eine Weise, die dem Verhalten von ADHS-Kindern ähnlich sein kann.

  • dir unterläuft aus meiner Sicht ein entscheidender Denkfehler: Eltern dürfen ihren Kindern nur dann die genannten Medikamente verabreichen, wenn eine entsprechende Diagnose "von wirklichen Fachleuten" vorliegt.

    Das ist falsch. Ein Kinderarzt darf ADHS diagnostizieren und Ritalin verordnen ohne besondere Kompetenz. Ein psychologischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche darf es nicht einmal diagnostizieren, aber dürfte (und könnte in vielen Fällen) es durchaus (ohne Medikamente) therapieren. Was ist eigentlich deine Erklärung für die massiv gestiegene Prävalenz dieser Erkrankung? Meine ist, dass hier teilweise Verhalten pathologisiert wird, das einfach jungentypisches Verhalten ist, wenn man dem nicht durch Strukturen (Erziehung) entgegenwirkt. Wenn ich denen nicht sage was sie tun sollen, springen sie halt wie Primaten durch den Klassenraum und benehmen sich wenig sozialadäquat. Man kann ihnen natürlich Betäubungsmittel geben, dann wirkt das Problem gedämpft...man könnte auch den traditionelleren Weg gehen und erziehen...


    Daneben stehen die paar Hanseln (die es immer schon gegeben haben wird), bei denen tatsächlich eine Störung im Gehirn gibt. Die brauchen Verhaltenstherapie und Medikamente, weil mir neu wäre, dass man mit Erziehung etwas gegen neurologische Störungen machen könnte...

    If you look for the light, you can often find it.
    But if you look for the dark that is all you will ever see.

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