So, jetzt hat es mit der Antwort doch länger gedauert, als gedacht.
In meinem Umfeld gab es im letzten Monat zwei ADHS-Diagnosen. Einmal ein fast erwachsenen Mädchen. Da war die Diagnostik ganz einfach: Sie benötigte im Vorfeld einen IQ-Test, dann gab es einen Konzentrationstest unter Zeitdruck, wobei aus Zeilenweise b, p, q, d ein Buchstabe herausgesucht werden muss. Die anamnestischen Daten steuerte die Mutter bei. Der Psychiater meinte, dass der Test und die Infos der Mutter ausreichen würden, eine vollumfängliche ADHS-Diagnostik jedoch 144 Tests umfassen würde. Die Zeugnisse waren unauffällig, was bei Mädchen durchaus sein kann, da diese sich überangepasst zeigen.
Diagnose Nummer 2: Aus der Verwandtschaft, fast vierzig jähriger Mann. Da reichte das Auftreten und die Grundschulzeugnisse und er hatte im den frühen Teenagerjahren mal Ritalin bekommen.
Aus meinem beruflichen Feld kenne ich unterschiedliche ADHS-Bögen, die ich als Lehrkraft ausfüllen darf(, ebenso unterschiedliche ASS Bögen).
Auch hatte ich schon mehrfach den Fall, dass bei höchstauffälligen Kindern die ADHS-Medikation aufdosiert wurde, gewechselt wurde, erneut gewechselt wurde und es gab fast keine Veränderung. Da ist das Nervensystem so dermaßen auf Alarm, dass sie sich keine Ruhe gönnen können. All diese Kinder hatten ein hartes Heranreifen vor der Geburt und auch in den ersten Lebensjahren und eben auch entsprechende Bindungsstörungen.
Aus meiner Erfahrung aus dem Bereich esE ist ADHS als erste Diagnose sehr häufig. Später entwickeln sich dann noch oft noch weitere Auffälligkeiten und Diagnosen. Manches wird ja auch erst ab dem Erwachsenenalter diagnostiziert.
Kurzzusammenfassung: Ich habe den Eindruck, dass unterschiedlich genau diagnostiziert wird und dass es Sinn macht, die Diagnose immer mal wieder zu hinterfragen.
In unserer Einrichtung gibt es regelmäßig Mediauslassversuche. Das ist im Setting Schule unschön (bis fürchterlich), aber für den jungen Menschen notwendig. Interessant ist es dann, wenn man bemerkt, dass derjenige gar keine ADHS-Medikation (mehr) braucht oder der Jugendliche begreift, dass er mit Medikation doch noch eine halbe Sekunde mehr Zeit hat eine Entscheidung zu treffen anstelle einen schlechten Impuls zu folgen. Gerade in dem Alter hadern einige mit der Medikamenteneinnahme.
Von einem ADHS-Kongress habe ich folgendes mitgenommen: Es wurden Gehirnscans gezeigt von ADHSler, Nicht-ADHSlern und ADHSlern mit entsprechender Medikation. Mit Medikation feuerten die Hirnareale ähnlich wie bei Nicht-ADHSlern, während die der unbehandelten ADHSler nur halb so groß im Bereich des Lernens waren. Der Referent meinte, dass es notwendig sei, den Kindern neben Therapie auch Medikamente zu geben, so dass sie die Chance haben die verpasste Hirnentwicklung nachzuholen oder zu zumindest verbessern. Das hat mich sehr bewegt, da ich zwar wusste, das der Großteil meiner Schülerschaft ADHS-Medis bracht, ich jedoch dachte, dass sie diese nehmen, damit sie in der Schule einigermaßen funktionieren. Wenn man aber mitdenkt, dass nur so das Hirn die Chance hat ein Entwicklungsdefizit zu verbessern, ist es eine andere, förderlichere Sichtweise.
Smartphones sind für heranwachsende ADHSler nochmals anregender, jedoch auch für den Rest der Kinder und Jugendlichen so spannend, dass sich Süchte hieraus entwickeln können. Wenn Kinder und Jugendliche in unsere Einrichtung aufgenommen werden, haben wir seit Corona wirklich enorme Handythematiken: versteckte Zweithandys, große Probleme sich davon zu trennen, Internetsprech. Die Kinder sind es weniger gewohnt Primärerfahrungen zu sammeln, haben kaum Konzentration für ein Brett- oder Kartenspiel. Das verändert sich aber im Laufe der Wochen und Monate. Dennoch ist meiner Meinung nach etwas "dauerhaft futsch im Hirn", da manches nicht so einfach nachgeholt werden kann, so dass es sich automatisiert.
Meiner persönlichen Meinung nach gibt es auch viele Kinder mit Entwicklungstraumata, die ADHS-Verhaltensweisen zeigen. Diese Kinder wären früher in reizarmerer Umgebung herangewachsen, hätten Orte des positiven Rückzugs entdeckt und sich so gut in ihr Umfeld eingefügt. Diese Momente der Achtsamkeit, der Ruhe, fehlen zunehmend.