Meine Erfahrungen ohne diesen "gleichschrittigen Frontalunterricht" sind sehr sehr bescheiden:
Kinder, die auch 4 + 1 zählend rechnen (mindestens die Hälfte), Kinder, die nicht lesen können, weil sie sich immer drücken können, Kinder, die in ihrer individuellen Arbeit einfach total überfordert sind.
Ich frage mich immer wieder, wie das gedacht ist:
28 Kinder, 5 bis 8 Jahre alt, befinden sich zusammengepfercht in einem kleinen Klassenraum, der zwar hübsch dekoriert ist, aber baulich fast in sich zusammenbricht.
Alle arbeiten dann 2 bis 3 Stunden täglich (den Rest kann man ja mit Musik, Kunst und Sport belegen) individuell an ihren Aufgaben.
Einer erarbeitet sich selbst eigenständig gerade die Zahlen bis 10, der nächste erarbeitet sich selber eigenständig die Addition von Zehnern im Hunderterraum, der nächste erarbeitet sich selber eigenständig gerade das synthetisierende Lesen. Konzentriert, leise und mit Lernerfolg.
Das klingt schön, aber das ist doch in vielen Schulen gar nicht möglich und erscheint mir mehr und mehr wie Tagträumerei mancher Verantwortlicher.
Real sieht es dann eher so aus, dass Dustin unter dem Tisch turnt, nach der 5. Ermahnung sitzt er für 10 Sekunden und beginnt von vorne. Justin führt über dem eigenen Stuhl und dem Schoß seines Nachbarn Seitwärtsrollen aus. Natascha kichert und kitzelt ihre Nachbarin Liliana ab. Auf Ansprache haben die beiden auch zu Hause noch nie reagiert.
Mershad versteht nicht, was er machen soll und rennt mir jammernd nach.
Ich kümmere mich um Verena, die an der Grenze zur geistigen Behinderung ist und nur dann überhaupt in der Lage ist, sich einer Aufgabe zu widmen, wenn ich ständig neben ihr sitze und sie ermutige.
Stephan motzt laut rum. Seine familiäre Situation lässt nur noch ein Aufbegehren des Kindes zu, welches dann in der Schule stattfindet. Schule, Regeln und Lernen sind ihm "scheißegal" und seine Mitschüler heißen alle "fick dich". Tran hat Bauchweh und weint, weil er mit dieser Selbstständigkeit überfordert ist und zu Mama will. Damir hat ebenfalls Bauchweh und Kopfweh, weil er überhaupt nicht von Mama weg will.
Annalenas Konzentration war nach 5 Minuten hinüber und sie bemalt nun Hände, Lippen und Tisch. Arman schreit und weint laut, weil er den Lärm nicht erträgt. Er beruhigt sich erst nach einer Stunde guten Zuredens wieder. Li wiederum ist durch mehrere Familien gegeben worden und leidet unter sozialer Entwurzelung und zeigt chaotische Bindungsmuster, sowie stereotype Bewegungen. Wenn ihr jemand zu Nahe kommt, reagiert sie mit Angst (Mädchen), Ablehnung (Frauen), sofortiger Offenheit (Männer) oder mit Liebesbekundungen und -handlungen (Jungen). Ihre Pflegeeltern sehen nicht, dass Li therapeutische Hilfe benötigt.
Wie soll eine Lehrerin alleine das alles bewerkstelligen? Wie soll da "nebenbei" noch ein Rahmenlehrplan auch nur ansatzweise erfüllt werden? Wie sollen diese Kinder sich in der Schule wohlfühlen können? Und vor allem: Wie sollen diese Kinder sich die Lerninhalte selbstständig beibringen?
Eine Einführung in einer kleinen Gruppe, während alle anderen leise arbeiten, ist da wohl selbstverständlich nicht möglich.
Achja: Soziales Trainingsprogramm bringt kleine Erfolge. Wenn man es wirklich gut durchzieht, ist die Klasse vielleicht im 5. oder 6. Schuljahr so weit, dass sie 15 Minuten leise selbstständig lernen können.
Diese ganzen "Verbesserungen" bringen nichts, solange die personelle und räumliche Ausstattung der Schulen nicht an die Realität angepasst werden. In einer Klasse, die wie oben beschrieben ist (ja, real, nicht ausgedacht!), müssen mehrere pädagogische Hilfskräfte sein, Sozialarbeiter und Schulpsychologe pro Woche mehrere Stunden und mehrere Sonderpädagogen (mit Bereich "Sprache", "Lernen", "Verhalten" und bei Bedarf noch weitere), die der Grundschullehrerin dabei helfen, die Kinder "mit ohne" Förderbedarf zu unterstützen. (Der Förderbedarf "Lernen" und "em-soz" ist in Berlin erst ab dem 3. Schulbesuchsjahr möglich. Vorher werden die Kinder mal eben so mit integriert. Wir haben hier also schon das, was ab Kl. 3 jetzt durchgeführt werden soll.)
Und solange die Kinder im Klassenraum nicht mehr Platz haben als eine Katze oder ein Hund im Tierheim, werden Aggressionen und Konzentrationsprobleme weiter forciert.
Und als Mathematiklehrerin sehe ich noch etwas: Mathematische Zusammenhänge können sich nur wenige, mathematisch begabte Kinder, selber beibringen. Bei den meisten ist eben die Anleitung nötig, wobei ich hier auch "Anleitung zum Selbstentdecken" meine. Dazu reicht aber kein individuelles Arbeitsblatt aus, welches meiner Erfahrung nach viele Kinder "abarbeiten", sondern über Mathematik muss immer gesprochen werden. (Ja klar, und in den Fantasien der theretischen Reformer sprechen die 5-Jährigen dann mit dem 6-Jährigen Banknachbarn darüber. In ganzen Sätzen, sodass beide sich verstehen und austauschen können.)
PS: Ich halte seit diesem Schuljahr wieder täglich (!) Frontalunterricht (+ Einzelarbeitsphasen + Wochenplan). Das ist so angenehm. Es ist ruhiger, die Kinder wissen, auf wen sie achten sollen, wo sie hinschauen sollen. Und fast alle Kinder haben richtig gute Lernerfolge. (Ausnahme: 3 Kinder, die derzeit nur in Kleinstgruppen Lernerfolge auf Schulniveau erzielen, im Wochenplan haben sie eben weiter ihre Vorschulaufgaben.)