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gemo schrieb am 03.03.2005 03:36:
1. "Rechtschreibung" wurde erstmals um 1880 willkürlich festgelegt und schon 20 Jahre später 1901 noch im Kaiserreich reformiert (Thor - Tor). "Recht-Schreibung" ist eine Wortbildung aus der Zeit von "Recht und Ordnung" mit Schwerpunkt auf Formalem und Gehorsam - eben typisch absolutistisch-autoritäre Kaiserzeit möglichst ohne Mitdenken � schon gar nicht kritisch.
Sorry, aber als Geschichtslehrer: Das deutsche Kaiserreich hatte bestimmt autoritäre Elemente, aber es war nicht absolutistisch!
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2. "Rechtschreibung" hat im direkten Sinn nichts mit "Sprachkompetenz" zu tun. Beides wurde zu unrecht bisher in einen Topf geworfen.
Goethe hat sich dazu bekannt, große Probleme mit dem Schreiben zu haben. Wenn er selbst schrieb, hat er ein und dasselbe Wort im gleichen Text in ca. 5 Varianten geschrieben. Fehlte es Goethe an "Sprachkompetenz" ? Nein, gewiss nicht.
Nicht jeder, der die Rechtschreibung nicht beherrscht, war/ist ein Genie. Quod licet iovi, non licet bovi.
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3. "Schreiben überhaupt" - und damit auch "Rechtschreibung" - ist wirklich nur ein Hilfsmittel � ein Medium -, um in "Sprache" (= Gesprochenem oder zu Sprechendem) ausgedrückte Gedanken über größere Entfernungen zu transportieren oder Gedanken über die Zeit hin aufzubewahren.
Das Fach heißt doch nicht "Deutsche Schreibe" sondern "Deutsche Sprache" (Sprache � sprechen).
4. Zu Goethes Zeiten erfüllte in verschiedener Schreibweise Geschriebenes seinen Kommunikationszweck über Raum und Zeit, soweit es "entzifferbar " war. Warum nicht heute ?
5. Die meisten Texte mit vielen Schreibfehlern � z.B. 20 pro A-4-Seite � erfüllen noch voll den Kommunikationszweck. Sie sind eindeutig lesbar = verstehbar. Man müsste sich nur an verschiedene Schreibweisen gewöhnen, wie wir es ja auch bei gleichen Wörtern in verschiedenen Fremdsprachen tun (Büro � bureau) oder vom Alt- und Mittelhochdeutschen her gewöhnt sind.
Vielleicht würde diese Toleranzspanne gegenüber den Schreibweisen auch mit toleranterer Haltung generell einhergehen. Umgekehrt zieht die willkürliche Untoleranz der festgelegten "Rechtschreibung" allgemeine Untoleranz nach sich. Es gibt nur die krassen Alternativen "richtig" und "falsch", nichts dazwischen.
"Die Rechtschreibfehler werden heute etwas anders eingeschätzt und bewertet als früher; den Inhalten geschriebener Texte wird mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den Formen; Rechtschreibfehler werden nicht mehr als Mängel von allgemeinen sprachlichen Fähigkeiten und Intelligenz fehlgedeutet [...] Aus der Rechtschreibung eines Schülers falsche Schlüsse zu ziehen in Bezug auf Intelligenz, Sprachfähigkeit oder Sprachmoral ist ebenso falsch, wie die Rechstchreibung unbeachtet zu lassen; sie rigide zu beurteilen so unangemessen, wie angesichts der Menge von Fehlern zu kapitulieren [...] Die Rechtschreibung darf nicht hochstilisiert werden zum wichtigsten Sprachkulturgut an sich; auch ist es, wie J.Fritsche richtig herausstellt [...] unangemessen, orthographische Korrektheit mit Verständlichkeit zu begründen oder gar gleichzusetzen. Sie aber sich selbst zu überlassen der als zweitrangig zu betrachten, ist gleichermaßen falsch. Orthographie kann eben nur dann dem ,Geschriebenen einen üerpersönlichen, abstrakten Charakter' verleihen und somit den Schreibenden selbst mit seinen Auffälligkeiten und Mängeln nichts ständig ins Spiel schriftsprachlicher Kommunikation bringen, wenn sie fehlerfrei ist" (Menzel, Wolfgang: Didaktik des Rechtschreibens in:Taschenbuch des Deutschunterrichts, Bd. 1, Hohengehren 1994 [5. Auflage])
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Übrigens ist die jeweils beschlossene "Recht-Schreibung" ganz ausdrücklich nicht im Leben sondern nur für die Schulzeit verbindlich. Allein dies Faktum erscheint mir schon als Schildbürgerstreich zur Qual nur der Schüler. "Rechtschreibung" in dieser Form und Wertung dient einer ungerechtfertigten schulischen Selektion.
Das erzähle mal den Personalchefs, wenn sie Bewerbungsschreiben lesen 
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10. Andere Probleme der Lerngruppe im Berufskolleg wie Ausländer-Sein will ich hier nicht auch noch behandeln.
Im praktischen Schulalltag bleibt Dir, wolkenstein, gar nichts anderes übrig, als Dich auf das jetzige Niveau Deiner Schüler hinab zu begeben und "so kleine Brötchen mit ihnen zu backen, wie sie es eben nur können". Nur dann können sie und auch Du kleine (!) Erfolgerlebnisse erarbeiten und langsam weiterkommen. Du allein bist zuständig für die Organisation des so auf diese Schüler abzustimmenden Unterrichts, dass diese was lernen � willig lernen. Da helfen gymnasiale Vorstellungen von Sprachkompetenz gar nichts. Gymnasiales Niveau wirst Du mir diesen Schülern nie erreichen, sonst würden sie ja Oberstufen-Gymnasiasten.
Du bist enttäuscht und ohnmächtig wütend, weil Du Dich selbst in Deiner Erwartung getäuscht hattest. Schau erst mal genau hin, wo sie sind und hole sie dort geduldig ab.
Ich stimme dir prinzipiell zu. Musst du aber wolkenstein deswegen persönlich so angehen? Sie hat doch den Thread eröffnet, um diese Missstände anzuprangern!
Dass jeder erst einmal im eigenen Unterricht und dann im schulischen Feld beginnen soll, bevor er alles auf die böse Politik abwälzt, kann ich nur unterschreiben!
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Bekommst Du bei dieser harten Arbeit jetzt Zweifel daran, dass es richtig sei, dass Gymnasiallehrer für deutlich weniger Unterrichtsstunden mehr Geld bekommen als Hauptschullehrer ? Auch das sind kaiserliche Relikte.
Was hat das mit kaiserlichen Relikten zu tun? In der gleichen Sparte ist die Entlohnung der Berufseinsteiger immer abhängig von der Ausbildung. Eine universitäre Ausbildung ist eben höher als eine Ausbildung, die der der FHs entspricht (=gehobener Dienst bei Beamten). Das sagt nichts über die Qualifikation, die Belastung und Bemühungen eines Menschen aus; eben deswegen sollen ja jetzt die Laufbahnen geöffnet werden, so dass ein guter, engagierter Hauptschullehrer mehr verdienen kann als der durchschnittliche Studienrat.
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PS zum "Wählerführerschein": Wieviele Gymnasiallehrer wählen Steuersenkungsparteien und fordern zugleich mehr Lehrer in kleineren Klassen und besser ausgestatteten Schulen ?
Mit weniger öffentlichen Mitteln mehr öffentliche Leistung ?
Diese nur "aus-gebildeten" Leute müssten bei der Wahl-Berechtigungs-Prüfung auch gleich durchfallen.
Volle Zustimmung. Viele "einfache Arbeiter" haben stringentere politische Ansichten als Laberakademiker!