Wir sollten hier auch einmal berücksichtigen, dass Kultur, Gemeinschaft und Religion im Islam so eng miteinander verflochten sind, dass es eigentlich nicht möglich ist, diese drei Bereiche voneinander zu isolieren.
Wenn die einen das Kopftuch als Ausdruck von Religiösität sehen, die anderen als Zeichen der Unterdrückung der Frau, wieder andere als bewusste Abgrenzung, dann zeigt sich daran doch genau die Problematik der offenbar gewollten eindeutigen Interpretation, die aber in der Form nicht aufgeht.
Die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Islam seit seinem Beginn belegt ziemlich schlüssig, dass die erwähnten Bereiche so eng miteinander verknüpft sind, so dass die westlichen Interpretationsmuster im Sinne des von Nele verwendeten Begriffs des Kulturimperialismus nur zu dem Ergebnis kommen können (oder dürfen), dass beim Tragen des Kopftuchs mit Sicherheit irgendeine Form von Unterdrückung, Einschränkung der individuellen Freiheit oder was auch immer einhergeht.
Vielleicht erinnern sich insbesondere die weiblichen Vertreter dieses Forums daran, dass wir in puncto Emanzipation dem Islam nicht einmal 100 Jahre voraus sind. Bis in die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren Frauen trotz grundgesetzlicher Gleichberechtigung in wesentlichen Bereichen des alltäglichen Lebens nicht gleichberechtigt.
Frauen durften damals kein eigenes Konto ohne Zustimmung des Ehemannes eröffnen.
Frauen durften ohne Zustimmung des Ehemannes nicht arbeiten.
Frauen sollten selbst beim Sex, der zu den ehelichen Pflichten gehörte, ein gewisses Maß an "Spaß" äußern. (Da gibt es Urteile zu!)
Und dann ist da natürlich auch noch der bis heute wirkende gesellschaftliche Druck, dass Männer, die mit vielen Frauen schlafen, als "gut" gelten, wohingegen Frauen, die mit vielen Männern schlafen, als Schlampen gelten.
Und da regen wir uns über ein paar Muslimas auf, die von sich aus Kopftuch tragen wollen?
Wer eine Frau aus religiösen oder chauvinistischen Motiven unterdrücken möchte, wird seine Mittel und Wege am Grundgesetz vorbei finden.
Wir sollten uns einmal überlegen (siehe z.B. der Familienthread von Krabappel), ob es in diesem unseren Lande nicht gravierendere Probleme gibt als das Tragen von Kopftüchern.
Ferner: Die Trennung von Religion und Staat ist im Islam eigentlich in der Form nur bedingt durchführbar (oder gar durchsetzbar), da im Islam Religion, Kultur, Gemeinschaft und Staat im Grunde eins sind.
(Die heutigen Staatsgrenzen im Nahen und Mittleren Osten entspringen ja im Wesentlichen den Kolonien und Mandatsgebieten der ehemaligen britischen und französischen Kolonialmächte).