Bevor man an historische Kontextualisierungen geht, finde ich die Frage relevant, ob die Interpretation des Schülers grundsätzlich stimmig ist. Voraussetzen können wir dabei, meine ich, ein "hermeneutisches" Textverständnis, also ein Verständnis, das annimmt, Texte seien mehr oder minder als Ganzes sinnvoll und in sich stimmig strukturierte Gebilde.
Der Schüler schreibt eine Interpretation, die wesentlich auf der zweifachen Verwendung des Wortes "endlich" basiert. Dieses Wort bedeutet seiner Meinung nach im Text nicht "schließlich" im Sinne einer bloß konstatierenden Äußerung, sondern bezeichnet die Erleichterung angesichts der Tatsache, dass etwas, was man erwartet und ersehnt hat, am Ende eintritt.
Tatsächlich kommt das Wort im Gedicht nicht 2, sondern 3 Mal vor, was vielleicht nicht ganz irrelevant ist. Ich finde, die erste Stelle lässt am ehesten die Interpretation des Schülers zu, zumindest, wenn man bereit ist, von historischen Kontexte zu abstrahieren:
Zitat
Es wird der bleiche tod mit seiner kalten hand / Dir endlich mit der zeit umb deine brüste streichen /
Etwas mehr Probleme macht bereits Stelle 2:
Zitat
Das haar / das itzund kan des goldes glantz erreichen / Tilget endlich tag und jahr als ein gemeines band.
Hier ist allerdings bereits der Wortsinn der Zeilen nicht ganz leicht zu ermitteln. Gehe ich richtig: Das Haar, jetzt wie Gold, wird von der Zeit in ein "gemeines" (nicht prachtvolles) Band verwandelt? Wenn "endlich" hier einen Sehnsuchtsaspekt hat, meint es also die Freude am eigenen Verfall, man könnte denken: Weil dieser Verfall den Blick aufs Wesentlich erleichtert.
Recht schwierig im Schülersinne finde ich spontan die dritte Textstelle:
Zitat
Diß und noch mehr als diß muß endlich untergehen /
Hier erzeut m. E. das Wort "muß" eine leicht Dissonanz bezüglich der Sehnsucht, die das "endlich" angeblich impliziert. Wenn man die Interpretation des Schülers also nur anhand der Verwendung von "endlich" in Frage stellen will, wäre hier ein Ansatzpunkt. Hier ist nicht mehr relativ neutral von "wird" oder "tilgt" die Rede, sondern der Aspekt des Zwangs kommt ins Spiel, der sich direkt mit dem "endlich" verbindet. Dies ist sicher ein Hinweis "endlich" neutral im Sinne von "am Ende" zu deuten.
Wenn man sich Mühe gibt, kann man aber auch hier Erklärungen finden, die dem Schüleransatz entsprechen. Das "muss" würde einfach den natürlichen Lauf der Dinge bezeichnen, den man auch begrüßen kann.
Man kann sich fragen, ob nicht noch mehr gegen die Schülerinterpretation spricht, wenn man den Blick erweitert (und zwar erneut: ohne historisches Kontextwissen). Ich finde, dass der Text insgesamt relativ nüchtern wirkt, TROTZ der starken Bildersprache. Beschrieben wird der Effekt des Alterns und des Todes, und zwar drastisch, aber zunächst ohne große Wertungen. Todessehnsucht ist dabei nur sehr bedingt zu entdecken. Bis auf die 3 "endlichs" gibt es, finde ich, eigentlich keine Belegstelle dafür. Damit wird die Interpretation in ihrem Material etwas dünn.
Dem entspricht die häufige Verwendung der Worte "wird/werden" - beschrieben wird die Zukunft in ihrem Sein, unbelastet von Wertungen. Die Moral des Textes ist denn m. E. auch nicht bzw. nur zum Teil auf den Tod gerichtet, sondern schon auf das Leben. "Innere Werte" - um es einmal etwas unscharf zu formulieren - sind das einzig Entscheidende, weil sie der Zeit widerstehen.
Ein sehr großes (!) Problem ist m. E. in diesem Kontext auch der Titel. Das Gedicht heißt nicht "Der kommende Tod", "Sehnsucht nach dem Tod" oder ähnliches, sondern "Vergänglichkeit der Schönheit" - und darum geht es ja auch, um eine Beschreibung (!) der verfallenden körperlichen Reize. Schon der Titel hat damit einen betont nüchternen, wenig emotional besetzten Zug.
DENNOCH finde ich, dass die Schülerinterpretation nicht so abwegig ist, dass man sie in Bausch und Bogen verdammen kann. Ich finde, Du solltest berücksichtigen, wie sehr der Schüler seine Überlegungen ausführt und inwiefern er auch evtl. Probleme, wie die eben genannten, auflöst. Wenn man als Deutschlehrer viele Barockgedichte gelesen hat, wird man im "endlich" vermutlich keine Sehnsucht erkennen - ich wäre jedenfalls nicht drauf gekommen - aber ich meine, wenn man versucht, kontextfrei zu lesen, kann man durchaus DEN Sinn akzeptieren, den der Schüler den Zeilen verleiht.
Allein für die Tatsache, dass er im Gebrauch von endlich einen "Sehnsuchts"-Aspekt erkennt, würde ich ihm daher vermutlich keine Punkte abziehen. Im Gegenteil finde ich diesen Gedanken durchaus interessant. Es bleibt natürlich die Frage, ob es dem Schüler gelingt, ihn mit weiteren Textsignalen in Einklang zu bringen.
Allerdings muss ich einschränken, dass ich nicht weiss, wieviel Gewicht die Korrekturichtlinien dem historischen Kontextwissen zuschreiben. Wenn man das Gedicht aus der Perspektive des 16. Jahrhunderts liest, wird man "endlich" wohl nicht im Sinne von "Gott sei Dank, es ist soweit" interpretieren, OBWOHL für das Barock sicher die Todessehnsucht ein wichtiger Aspekt ist (in DIESER Hinsicht liegt der Schüler dann ironischerweise auch historisch richtig...). Aber kann/muss/soll ein Schüler das wissen?
Also: Meiner Meinung nach ist die Deutung des "endlich" bei einer textimmanenten Betrachtung zunächst einmal akzeptabel, die Bewertung hinge dann wieder von der Gesamtinterpretation ab. Auch wenn man flüchtige Kenntnisse des Barock hat, ist die Deutung aber m. E. nicht total abwegig, allenfalls genauere Kenntnisse historischen Wortgebrauchs würden sie hier disqualifizieren.