Artikel mit Argumenten pro und contra "Sitzenbleiben"

  • Den Artikel habe ich auch eben gelesen; interessant finde ich v. a. die eigenwillige Interpretation der Forschungsergebnisse (und dabei lasse ich mal die bemerkenswerte monokausale Attribuierung, die dabei zugrunde liegt, außer Acht). Der Autor Christian Füller zitiert aus einer Studie von Tillmann/Meier wie folgt:


    Zitat

    Zum einen sind Wiederholer im Durchschnitt mit weniger guten kognitiven Voraussetzungen ausgestattet (...); zum zweiten wird ihnen aber auch die Befassung mit den anspruchsvolleren fachlichen Inhalten der nächsten Klassenstufe verwehrt. Und dies gilt für alle Fächer.


    Über diesen Satz bin ich bei der Lektüre gestolpert, weil ich mich frage, ob sich daraus wirklich die Schlüsse ableiten lassen, die der Autor des Artikels vorschlägt. Würden die Probleme der Schüler denn gelöst, wenn das Sitzenbleiben entfiele (wäre billig zu haben – natürlich ohne Fördermöglichkeiten)? Autor Füller insinuiert das. Würden sich die "weniger guten kognitiven Voraussetzungen" den dadurch verbessern, dass die Schüler sich mit "den anspruchsvolleren fachlichen Inhalten der nächsten Klassenstufe" beschäftigen? Schön wäre es ja, aber wahrscheinlich scheint mir das nicht. (Zumal ja etwa in den Fremdsprachen diese anspruchsvolleren Inhalte direkt auf dem aufbauen, was offenbar zuvor nicht gelernt wurde.)


    Schon heute gibt es ja quasi inoffiziell die Weiterversetzung durch die "Gnaden-Vier", die aber im Grunde genommen gegenüber dem Schüler verantwortungslos ist: WIrd er trotz Defiziten immer wieder versetzt in der Hoffnung, dass sich mal etwas tue, läuft er Gefahr, am Ende die Schule ohne Abschluss zu verlassen. (Wer sich auskennt, weiß, wie schwer es ist, in der 8 oder 9 einen Schüler vom Gy noch an eine gescheite Realschule zu bekommen; stattdessen wird der Betreffende dann häufig "durchgeschleift" bis zum bitteren Ende – und dann im Regen stehen gelassen.)


    Zuletzt: Was mich nachgerade ärgert ist die mangelnde Kenntnis der Versetzungsbestimmungen der meisten Autoren (zugegeben 16 Bundesländer, das ist für Bildungsjournalisten schwer zu überschauen) – zumindest in NRW sind sie extrem schülerfreundlich (!).

  • Wer Ursachen für schlechte Schulleistungen und damit verbundenes Sitzenbleiben mit intellektueller (genetischer) Minderleistung gleichsetzt, macht es sich sehr einfach.
    Man sollte nach Alter und sozialem Umfeld differenzieren.
    Ich unterstelle, dass meine persönliche Erfahrung keinen Einzelfall darstellt- kann das allerdings nicht empirisch belegen. Ich hatte wegen Biologie und Französisch eine "Ehrenrunde gedreht". 10.Klasse, pubertierend - diese Fächer gingen mir am A.. vorbei. Da waren Kumpels und Mädels wichtiger als die Schule. Meine Eltern (Arbeiterschicht-Aufsteiger) hatten andere Probleme als mich schulisch zu fördern und an Französisch so wenig Interesse wie ich. Urteil meiner Lehrer: "Alias, du bist intelligent - aber faul!"
    Damals empfand ich meine arbeitsökonomische Herangehensweise an den Erwerb des Abiturs als angemessen intelligent - und bin immer noch Edith-Piaf-Fan.


    BTW: Die Ehrenrunde habe ich "abgefeiert". Den Zugewinn an (Stress-)freiheit habe ich durchaus genossen. Damals war das "Sitzenbleiben" allerdings auch noch kein stigmatisierender Akt - sondern Bestandteil des Schullebens. In meiner Klasse waren wir zu viert. Mit 4 Klassen à > 30 Schüler waren wir in der 5.Klasse Gymnasium gestartet. In der Abi-Klasse waren wir noch 23. Insgesamt. Da es an meinem Ort keine Realschule gab, waren zahlreiche Schüler nach der zehnten, elften, zwölften ab- und andere Wege gegangen.


    Bin ich nun pro oder contra Sitzenbleiben?
    Ich denke nicht, dass es nutzt. Höchstens in der Weise, dass ein Schüler neue Chancen auf einen Neubeginn erhält. Der neue Bio-Lehrer war cool - das war spaßig und ich kam von 5 auf 2. Französisch wurde nie mein Ding - das war jedoch auch nie nötig. Ich bin oft im Urlaub in Frankreich und kann mir ohne Probleme Brötchen und Hotels besorgen. Französische Literatur gibt es gut übersetzt. Mathe hatte ich im zweiten Durchgang dann so gut kapiert, dass ich es letztlich studiert habe. Ich bin pro Sitzenbleiben. Hauptgrund: Durch die Ehrenrunde hatte ich meine Freundin kennen gelernt. :liebe:
    Daran waren aber nicht die Lehrer oder das Zeugnis schuld. Nur die Umstände und die zahlreichen Feten ...

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

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