Token system mit Erstklässler?

  • Liebes Forum,
    am Freitag im Sachunterricht habe ich in der letzten Stunde (4.) mit meiner 1. Klasse Schnecken beobachtet (Können Schnecken hören/riechen/fühlen). Ein Schüler hat die Schnecken gequält, indem er ein Holzstäbchen (irgendwo im Klassenraum gefunden) in den Schneckenfuß (nachdem sich die Schnecke zusammengerollt hat) gestochen hat. Da wir vorher das Thema "Tierschutz" besprochen haben, habe ich negativ sanktioniert, dem Schüler einen anderen Platz zugewiesen und eine andere Aufgabe (die nichts mit Schnecken zu tun hatte) gegeben. Daraufhin eskaliert die Situation:
    Der Schüler wird nach meiner Anweisung knallrot, fängt an zu brüllen, durch die Klasse zu rennen, kippt den Inhalt seines Ranzens auf den Gruppentisch (mit den Schnecken drauf), schmeißt Stühle durch die Klasse und zu guter Letzt geht er auf mich los und prügelt mit Fäusten und Füßen wahllos auf mich ein. Seine physischen Kräfte (ich bin etwas über 1,70 und nicht schmal - er ist ca. 1,55, breitschultrig und eher sehr kräftig) waren in dem Moment so groß, dass ich wirklich Mühe mit dem Abwehren seiner Schläge hatte. Zurückgeschlagen habe ich natürlich nicht; ich habe aber versucht, ihn an den Handgelenken festzuhalten.
    Die Reaktionen der Klasse auf diese Situation: große Augen, ein paar Mädchen weinten, einige Kinder versuchten ihn zu beruhigen, was ihn noch wütender machte. Irgendwann habe ich es geschafft, ihn in eine Ecke des Klassenraumes zu lenken, wo er sich dann auf den Boden warf und mit Händen&Füßen auf den Teppich schlug.


    Ich habe sofort die Mutter des Jungen angerufen, da ich mit seinem Jähzorn schon mehrmals Probleme hatte. Die Mutter kennt ihren Sohn gar nicht so, sagt sie. Sie ist dann sofort zur Schule gekommen & hat ihn abgeholt (was ich leider nicht mehr mitbekam, weil ich in einer anderen Klasse unterrichtet habe). Übers Wochenende habe ich mir natürlich viele Gedanken über diese Situation gemacht. Auslöser der "schlechten Stimmung" bei dem Jungen war, so denke ich, eine Strafarbeit, die er nach Steinewerfen auf andere Kinder durch die Pausenaufsicht bekam - er muss über's Wochenende einen Entschuldigungsbrief an das Kind, was er mit den Steinen verletzt hat, schreiben. Dann mein Platzverweis an ihn in der 4. Stunde... Noch mehr Gedanken mache ich mir aber über die Konsequenzen seines Verhaltens. Gerade hat mich die Klassenlehrerin des Jungen angerufen (mit der ich befreundet bin), sie sei von der Mutter des Jungen angerufen worden. Der Junge hätte zu Hause erstmal eine "ordentliche Tracht Prügel" bekommen. Danach fand zwischen Mutter&Sohn ein Gespräch zum Thema statt, worin der Sohn äußerte, er hätte von mir kein Arbeitsblatt erhalten und sei deswegen "sauer geworden". D.h., er hat seine Mutter angelogen (denn die Arbeitsblätter hatten die Tischkinder schon wesentlich früher in der besagten Stunde verteilt). Jetzt möchte die Mutter eigentlich gern nochmal mit mir sprechen, traut sich aber nicht, weil es ihr "peinlich" ist. Das also erfahre ich von der Klassenlehrerin, die der Mutter rät, am Montagmorgen mit mir zu sprechen.
    Jetzt bereite ich mich auf das Elterngespräch vor und möchte der Mutter gern vorschlagen, ein token system zu installieren, d.h., mit positiven Verstärkern zu arbeiten.


    Neben der allgemeinen Frage, wie ihr in meiner Situation reagiert hättet, habe ich noch spezielle Fragen zu den Verstärkern.
    1) Habt ihr Erfahrung mit solchen verhaltensmodifizierenden Maßnahmen - wie ist die langfristige WIrkung bzw. Entwicklung?
    2) Welche Verstärker setzt ihr ein? Smilies pro gut gelaufene Stunde?
    3) Was, wenn das Kind soundsoviel Smilies gesammelt hat - in welcher Form erfolgt eine Belohnung? Süßes? Material für die Schule? ...?
    4) Wie habt ihr beim Einsatz solcher Systeme die Zusammenarbeit mit den Eltern erlebt? Ich meine, die Mutter verstärkt in o.g. Situation das sowieso schon negative Verhalten des Sohns negativ, indem sie ihn schlägt. Wenn dann plötzlich eine Referendarin mit dem neumodischen Kram kommt...?


    Mit der Klassenlehrerin spreche ich regelmäßig. Bei ihr im Unterricht ist er auch jähzornig, kriegt schnell solche Anfälle, schafft es aber bisher immer, sich sofort in eine Ecke zu verziehen und andere nicht direkt einzubeziehen. Ihrerseits habe ich Unterstützung bzgl. der Einführung eines token system.


    Puh, langer Text... Ich hoffe, ihr könnt mir helfen!
    LG, das_kaddl

  • Hallo das_ Kaddl!


    Ich habe vor 4 Wochen begonnen, bei einem Jungen im 4. Schuljahr, der immer wieder aggressive Wutausbrüche hatte und in allen Fächern die Arbeit verweigert hat, begonnen, mit so einem Token-System zu arbeiten.
    Wir haben eine Liste mit seinen täglichen Unterrichtsstunden und JEDER Lehrer trägt im Anschluss an seinen Unterricht ein, wie er das Verhalten in der Stunde einschätzt (lächelnder Smiley, neutral, trauriger Smiley). Wenn der Schüler innerhalb einer WOche eine bestimmte Anzahl posiviter Smileys gesammelt hat und höchstens eine bestimmte Anzahl negativer Smileys (Hängt vom Stundenplan ab und davon, was man für erreichbar hält - das Kind sollte es ja auch schaffen können und man kann dann nach und nach steigern) erfolgt die Belohnung.
    Als Belohnung darf der Schüler eine reguläre Unterrichtsstunde mit einer Sozialpädagogin verbringen und mit ihr spielen. Er freut sich da immer sehr drauf (Ein ungeliebtes Fach samt Hausaufgaben fällt weg und er ist für einen Viertklässler noch sehr verspielt). Die Belohnung muss sicherlich auf das Kind und seine Vorlieben abgestimmt sein, aber ich finde es gut, dass wir das so nicht-materiell lösen konnten. Am Ende der Woche kommen immer die Eltern vorbei und unterschreiben die Wochenrückmeldung. Außerdem haben wir vorab einen Vertrag verfasst, indem festgehalten ist, welche "Pflichten" alle Beteiligten (ELtern, Lehrer, Schüler) haben.
    Bisher lief das System sehr gut. Der Schüler hat immer die Wochenanzahl Smileys sammeln können, arbeitet zwar immer noch am Minimum und checked ab, wie viele Smileys er schon hat, ABER: wir können wieder unterrichten (das war vorher aufgrund der "Störungen" wie Singen, Aufstehen und alles aus dem Fenster werfen etc. nur selten möglich). Allerdings berichten die ELtern auch, dass es dadurch, dass er sich jetzt in der Schule sehr zusammenreißt, zuhause wieder zunehmend sehr schwierig wird.
    Auf jeden Fall ist es einen Versuch werd und die Mehrarbeit zahlt sich aus - ist allerdings auch viel Organisiererei und es müssen wirklich alle mitziehen.
    Ich wünsche dir viel Erfolg!
    Ronja

    Jeder Tag, an dem du nicht lächelst, ist ein verlorener Tag.

  • mein vorschlag zu der situation, grundsätzlich und immer: die opfer trösten, die angreifenden in schutz nehmen.
    ein ausrastendes kind ist aus dem gleichgewicht.
    sanktionen bringen es noch mehr aus der balance. es schlägt um sich wie ein ertrinkender.
    ich bestrafe seint 24 jahren keine kinder mehr. das äußerste was ich tue, ist eine beschwerde, ans kind, an die klassenlehrerin, in letzter instanz an die eltern. manchmal erfahre ich dann, dass geschlagen wird. wenn ich das vorher weiß, entfällt so eine beschwerde.
    das in schutz nehmen sieht für leute, die es anders gewohnt sind (blut aufwischen, verfolgen, bestrafen) fremd aus. es ist nachhaltig, es wirkt womöglich bis in die nächsten generationen. bestrafung wirkt, wenn überhaupt, nur ganz kurzfristig.
    dass der junge die schnecke gequält hat ist nur ein hinweis, dass er sich gequält fühlt.

  • Hallo kaddl,
    dieser Junge braucht Hilfe!!! Die beschriebene Situation war vermutlich nur der letzte Tropfen, der bei ihm das Fass zum Überlaufen brachte... (eher zufällig deine Stunde!)
    Natürlich ist Tierquälerei nicht tolerabel - aber Kinder, die so etwas tun, sind oft selbst "gequälte Kinder" - Kinder, die sich in ihrer Lebenssituation zutiefst unwohl und auch unverstanden fühlen.
    Du schreibst, er sei 1,55 m groß... ist das eine "realistische Schätzung" , dazu "kräftig" (dick)? Also auch "körperlich eher unangenehm auffallend" ?
    Mein 11jähriger Sohn ist schätzungsweise 1,50 m ...- also eher ungewöhnliche Größe für einen Erstklässler... Also: "Wiederholer"? Zurückgestellt???
    Mir scheint da beim 1. Lesen noch mehr im Argen zu liegen...
    Manche Kinder scheint es "rundum" erwischt zu haben... ! Sie fallen auf: in ihrer Lebens-/Familiensituation, durch ihr Verhalten, durch ihr Aussehen, durch nicht ausreichende Leistungen.......
    Gehört dieser Junge dazu???


    LG Cecilia

  • Hallo,


    vielen Dank für eure Antworten, besonders an Ronja.


    robischon
    Wüsste ich viel über die Kinder, könnte ich mehr verstehen. Ich bin jedoch erst seit Februar bei ihnen in der Klasse, erlebe sie in drei Stunden an einem Tag. Das liegt daran, dass ich als Referendarin an der Schule bin! (Vielleicht hätte ich den Thread in "Referendariat" schieben sollen?) Als Referendarin, die von einem großen, kräftigen Jungen angegriffen wird (das erste Mal in ihrem Leben - bisher hat nie ein Junge/Mann versucht, mich zu verprügeln), habe ich natürlich hilflos reagiert. Hey, ich bin seit November an einer Schule, in der Klasse seit Februar - was hätte ich tun sollen? Natürlich weiß ich, dass es in jeder Klasse traumatisierte Kinder gibt und nach Möglichkeit würde ich gern auf sie eingehen - aber, und ich glaube, robischon, das liest du von Referendaren hier im Forum nicht das erste Mal, ich kenne sie eben nur von drei Stunden in der Woche. Da kann man keine so intensive Bindung aufbauen, als wäre man Klassenlehrer und begleite die Kinder über mehrere Jahre. Die Eltern der Kinder kenne ich kaum, habe einige von ihnen sie einmal bei einem Elternabend gesehen. Nun weiß ich, auch durch das heutige Elterngespräch, dass der Junge wohl auch bei kleineren "Vergehen" "den Hintern voll kriegt" (Zitat der Mutter) - "am Freitag aber gerechtfertigt" (nochmal Zitat der Mutter). Und natürlich finde ich das nicht gut, aber wenn ich Eltern nicht kenne, dann ist es als "Teilzeit-Erziehende" meine Aufgabe, die "Haupt-Erziehenden", nämlich die Eltern, über das Verhalten ihres Sohnes zu informieren. Dabei ist meine Absicht nicht, ein Kind bloßzustellen oder die Eltern in eine peinliche Situation zu bringen. Aber, robischon, wie soll denn Elternarbeit mit "schwierigen" (schlagenden, blockierenden, desinteressierten) Eltern ablaufen? Für die Beantwortung der Frage versetze dich bitte in die Position einer Referendarin, drei Stunden pro Woche in der Klasse.


    Wie nehme ich einen Angreifenden in Schutz - zuerst musste ich mich in Schutz bringen, da wahllos auf mich eingeprügelt wurde? Einige der Kinder haben probiert, ihn zu beruhigen, das verstärkte in der Situation sein Verhalten nur noch. Normalerweise sucht er sich bei Wutausbrüchen ähnlicher Art eine stille Ecke, in der er sich beruhigt, aber am Freitag hat er das nicht getan, sondern mich tätlich angegriffen. Lieber robischon, was hättest du denn getan - an meiner Stelle? Ich bin für Vorschläge wirklich sehr offen, gerade weil ich noch unerfahren und am Anfang meines Berufslebens stehe - aber besonders dankbar bin ich für Referendariats-kompatible Vorschläge - die Kinder kaum kennend, die Eltern erst recht nicht, von Mentoren nicht betreut... Also der Realität des Referendariats entsprechend. Ich bin seit Februar in 6 Klassen á 20 - 25 Kindern, mit maximal 3 h pro Woche - und schon froh, mir die Namen der Kinder merken zu können.


    Cecilia:

    Zitat

    dieser Junge braucht Hilfe!!!


    Was meinst du damit bzw. was denkst du, wie ich ihm helfen kann? Bedingungen siehe oben!


    Der Junge fällt schon durch seine Körpergröße auf. Er ist im Januar in die 1. Klasse zurück gekommen, wiederholt also das 1. Schuljahr. Trotzdem kann er noch nicht alle Buchstaben. Seine Körpergröße (ja, ich schätze realistisch) rührt vermutlich daher, dass er sehr große Eltern hat; auch seine Schwester (3. Kl.) ist schon sehr groß für ihr Alter (~1,65). Der Junge ist, so meine Auffassung, eher "kräftig" als "dick".


    LG, das_kaddl

  • liebes kaddl
    das hast du für das erste mal schon ganz richtig gemacht, an den handgelenken festhalten und in eine ecke lenken, wo er sich zu boden warf.
    im wiederholungsfall könnte es eine hilfe sein zu wissen dass sein angriff nicht dich meint, auch wenn er nach dir schlägt. dann ist es leichter, beim festhalten und in die ecke lenken auch noch beruhigende worte oder töne beizusteuern. das tut dir dann auch selber gut.
    sicher ist es auch richtig, sich zu so einer komplizierten situation rat zu holen. solche foren sind doch ein segen, oder?
    wenn ich früher als junglehrer an einer sonderschule für lernbehinderte, in wirklichkeit für verhaltensauffällige, abgeschobene, angegriffen wurde, hab ich regelrecht kämpfen müssen. und ich bin gar nicht so klein. wie gut wäre es gewesen, man hätte mir so beistehen können.
    also, du hast es richtig gemacht. und jetzt weißt du, dass du dich nicht aufregen musst und mit beruhigen viel weiter kommen kannst. du kannst den jungen mal fragen, was du beim nächsten mal, wenn er sich so aufregt, machen sollst, damit er nicht zu hause verprügelt wird. wenn du darüber mit ihm sprichst, greift er dich wahrscheinlich nie wieder an.

  • Nein, als Ref. bist du sicher in keiner Weise verantwortlich... aber die KL kann etwas unternehmen...
    "Prügelstrafe" ist bei uns st. Herbst 2000 auch Eltern verboten...- ich vermute aber mal, dass diese Mutter selbst Hilfe braucht... Mutter und Kind könnten Hilfe bei der Erz.Beratung bekommen, manchmal bietet auch das Jugendamt, die Möglichkeit von Erziehunghilfe (§27 KJHG "Hilfe zur Erziehung") durch eine Einrichtung ... - auch ein niedergelassnener Kinder- und Jugendpsychiater wäre eine gute Anlaufstelle... immer in Zusammenarbeit mit Schule!
    Eure Aufgabe wäre dann zunächst, dahingehend zu beraten.
    Ja, ich vermutete schon, dass es sich um ein auch leistungsauffälliges Kind handelt...- und Rolf hat nicht Unrecht, wenn er erzählt, dass in Lernhilfeklassen häufig genug "abgeschobene, auffällige Kinder " (aus eben dann auch auffälligen Elternhäusern) sitzen.


    LG Cecilia

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