Und nun nochmal mein Senf...
Wie craff festgestellt hat, liegen zwischen "Differenzierung" und "Differenzierung" Welten.
Zitat
Original von craff
Mein ältestes Kind besuchte eine sehr leistungsheterogene Klasse mit einigen verhaltensauffälligen und/oder lerngestörten und vielen ausländischen (der Terminus "Migrationshintergrund" war noch nicht erfunden) Kindern in einem Brennpunktbezirk.
Das schulische Vorgehen war in etwas so: Einführung in ein Unterrichtsthema - für allle - dann zweigeteilte Aufgaben je nach Leistungsvermögen, aber immer noch gleichzeitig für alle am Thema, anschließend weitere Differenzierung - leistungsstarke Kinder erhielten darüber hinaus Extra-Aufgabe, die sie alleine bearbeiten mussten - mit leistungsschwachen wurde anschließend als Kleingruppe extra alles mit Hilfe und am Vorbild des Lehrers eingeübt.
Im ganzen jedoch immer im Gleichschritt mit gruppenweise unterschiedlicher Differenzierungstiefe.
Ähnlich habe ich es in einer Klasse meiner Ausbildungsschule auch erlebt: Während die leistungsstärkeren Kinder an Gruppentischen saßen, weiterführende Aufgaben alleine erledigten und sich dabei halfen, saß die Lehrerin an einem Gruppentisch mit den leistungsschwächeren Schülern und half. Dies war in dieser Klasse möglich und überwiegend erfolgreich.
In meiner jeztigen Klasse sieht es so aus:
1. Jahrgangshomogene Stunden:
- Einführung oder Wiederholung für alle gemeinsam
- Weiterarbeiten im individuellen Tempo, gegenseitige Hilfe erlaubt und erwünscht
- leistungsstärkere Kinder erhalten Extraaufgaben, unsere Hefte bieten da schon schwierigere Aufgaben an
- sehr leistungsschwache Kinder (wären früher an die LB-Schule gegangen) erhalten ganz andere Aufgaben, z.B. rechnen bis 10, wenn die anderen bis 100 rechnen
Effekt: Manchmal gibt es wirklich tolle Stunden, in denen fast alle Kinder weiterkommen und einige einen "Aha"-Effekt erleben.
Oft sieht es eher so aus:
Die ganz lernschachen Kinder benötigen eine ständige, pädagogisch durchdachte Unterstützung und Betreuung, maximal 2 Kinder nebeneinander, sonst wird es zu viel für die Aufmerksamkeit, am besten keiner davor, der sich umdrehen könnte. Alleine kommen sie nicht klar (da könnte ich ihnen maximal Ausmalblättchen geben, was ich im 2. Schuljahr nicht für angemessen halte). Eigentlich müsste ich hier sitzen und helfen.
Eine Reihe anderer Kinder schafft es oft maximl 1 Minute, in leisem Tonfall miteinander zu reden, dann folgen 2 min Zimmerlautstärke, danach rufen sie durch die Klasse. (Ich bin schon froh, dass sie es jetzt schon 3 min in erträglicher Lautstärke schaffen, das war harte Arbeit von meiner Seite.) Sie wollen gerne helfen, inzwischen lassen sie auch nur noch selten abschreiben, sondern versuchen zu erklären, aber in einer Lautstärke, dass der Rest nicht mehr arbeiten kann. Wir wünschen uns also nun auf jeder Elternversammlung, dass die Eltern das leise Sprechen mit den Kindern üben, denn oft spiegelt die Lautstärke, die die Kinder in der Schule zeigen einfach die Gesprächslautstärke zu Hause (neben laufendem Fernseher) wider. Ich muss also immer wieder die Klasse beruhigen. Ich habe also höchstens 3 min Zeit, um mich einer kleinen Gruppe in Ruhe zu widmen. Meist nichtmal dies, denn:
Einige Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten fangen an, durch die Klasse zu laufen und ihre Mitschüler zu ärgern, sobald sie alleine oder mit Hilfe des Banknachbarn eine Aufgabe lösen sollen. Diese Kinder muss ich ständig im Blick haben und sie wieder auf ihren Platz verweisen, wodurch ich mich selber beim Erklären unterbrechen muss.
Wenn ich mir alle verhaltensauffälligen Kinder an einen Tisch setze und mich dazu, geht auch nichts, die lenken sich gegenseitig ab.
In der jahrgangshomogenen Gruppe sind bei uns inzwischen 2 extrem lernschwache Kinder (LB-Diagnostik darf erst im 3. Jahr in der Schuleingangsphase durchgeführt werden), 14 Kinder mit Lern- oder Verhaltensauffälligkeiten (auch in Kombination). Hinzu kommen 11 Kinder mit durchschnittlichen Leistungen bis sehr guten Leistungen ohne Verhaltensauffälligkeiten.
Und da kann ich nur sagen: Die Masse machts!
2. Jahrgangsgemischte Wochenplanstunden:
- Erklären des Wochenplans für alle, die Aufgaben sind möglichst selbsterklärend gewählt und die Kinder daran gewöhnt
- individuelle Arbeit an meist gleichen Aufgaben
- Kinder mit großen Leistungsschwächen bekommen weniger / andere Aufgaben
- sehr leistungsstarke Kinder bekommen andere / Zusatzaufgaben
Danach läuft es ähnlich wie oben, mit dem Unterschied, dass ich meine eigene Klasse häufiger zusammen habe als die jahrgangshomogene Gruppe und sie insgesamt oft ruhiger bekomme. Außerdem sind von meinen Erstklässlern einige ruhiger als meine Zweitklässler.
Aber auch hier macht es die Masse, die Verteilung ist ähnlich der oben erwähnten: 2 extrem lernschwache, 18 Kinder mit Lern- oder Verhaltensproblemen (auch in Kombination), 7 Kinder ohne derartige Probleme.
Ein Teil der Kinder ist traumatisiert oder lebt unter sehr schwierigen familiären Bedingungen (1/3 meiner Schüler). Diese Kinder können sich zeitweise gar nicht auf das Lernen konzentrieren bzw. haben eben aufgrund dieser Bedingungen große Schwierigkeiten mit sich und der Welt. Hier müsste ich eigentlich Sozialarbeiterin sein und diese Kinder auffangen, um sie zum Lernen in einer Großgruppe zu befähigen.
Zu der extremen Differenzierungswut:
Wenn leistungsstärkere Schüler Zusatzaufgaben bekommen, ist das laut Ausbildung (Uni, Vorbereitungsdienst) und laut Schulpsychologie gar keine Differenzierung. Eine richtige, echte, wünschenswerte Differenzierung ist immer direkt qualitativ und nicht quantitativ, das schließt ein, dass man eben extra Arbeitsblätter zum gleichen Thema bastelt und "jedes Kind dort abholt, wo es gerade ist".
Wenn du nun eine Schulleitung und eine Elternschaft hast, die das fordert, stehst du unter großem Druck. (Ich habe da Glück.)
Und ja, ich gebe dir recht, dass es nicht so effektiv ist, wenn ich 25 Kindern einzeln ihre Aufgaben und die nächsten Lernschritte erkläre.
Zitat
Original von Referendarin
Woran liegt es denn, dass die Schüler in der Grundschule nicht mehr üben können? Bedeutet individuelle Förderung denn nicht auch üben?
Was hat sich denn so verändert? Sind es größere Klassen, das frühere Eingangsalter, neue Lehrplänen mit höheren Anforderungen, Schüler, die oftmals grundlegende Eigenschaften nicht mitbringen oder was ist es?
Einen Teil der Antwort hast du ja oben schon erhalten: Die Masse macht's.
Und dann kommt hinzu: Die Schüler üben ja. Sie üben im Wochenplan, sie üben auch in den jahrgangshomogenen Gruppen.
Aber: Wir üben weniger, denn es kostet mehr Zeit, die Klasse zur Ruhe zu bringen (siehe oben), die Streitigkeiten zu klären (immer wieder streiten sich große Gruppen, im Moment schon fast nur noch verbal, da bin ich sehr froh drüber - und wenn das nicht geklärt ist, können einige Kinder sich kaum auf den Unterricht einlassen), es werden mehr grundlegende Fähigkeiten geübt: leise sprechen, einen Stift halten, ein Lineal benutzen, Ordnung am Arbeitsplatz halten, sich melden, die Brotdose und das Malblatt wegpacken, wenn ich es ansage etc. Und es reicht nicht, das mal zu machen, das wird ständig geübt. Ferner sind es viele Kinder von zu Hause gewöhnt, alles auszudiskutieren und immer ihren Willen durchzusetzen. Auch wenn ich darauf im Unterricht nicht eingehe, kostet es Zeit, bis sich die diskutieren-wollenden Kinder wieder beruhigt haben. Außerdem üben wir das Sitzen, nach vorne schauen und Zuhören, auch im zweiten Schuljahr - und es setzt sich in den Folgejahren fort. Für Kinder, die das nicht schaffen, ist nämlich eine Übungsphase gar keine Übungsphase, weil sie ja von der vorherigen Einführung / Wiederholung nicht viel mitbekommen haben.
Und: Das Üben ist weniger effektiv. Die Konzentration ist schwach, die Merkfähigkeit bei einigen sehr unterdurchschnittlich entwickelt, die Reizüberflutung zu stark: Viele Dinge gelangen nichtmal ins Kurzzeitgedächtnis oder sind dort sofort wieder raus. Letzte Woche haben mich einige meiner Zweitklässler schon wieder wie ein Marsmännchen angeschaut, als ich von ihnen die Selbstlaute hören wollte. Und das haben wir geübt und wiederholt, bis es den meisten aus den Ohren herauskam.
(Und ich kann natürlich auch hier nur über meine Klasse und die Parallelklasse sprechen.)
Schönen Sonntag euch,
Conni