Ehrlich gesagt finde ich es ziemlich schade, dass der Thread hier in Richtung "Welche Behinderung kann ich in welcher Form mit welchen Ressourcen wo unterrichten?" driftet und sich wieder Lehrkräfte in die Ecke gedrängt fühlen und sich rechtfertigen, denn: "ehrlich" gedachte Inklusion ist in Deutschland im Schulsystem aktuell (in den meisten Bundesländern) schlicht nicht vorgesehen. Echte Inklusion würde bedeuten, nicht zuerst zu schauen, wer eigentlich was hat und wie das irgendwie in der Schule berücksichtigt werden kann, sondern dass alle Schüler*innen ankommen und dann individuell auf die Bedürfnisse eingegangen wird und nicht die Kinder/ Jugendlichen sich der Schule anpassen, sondern die Bildungsangebote passend auf alle Schüler*innen ausgerichtet werden, unabhängig davon, ob das Kind einen Status einer Behinderung hat oder nicht. Deshalb sind international alle gut funktionierenden inklusiven Schulsysteme ausschließlich solche, deren Schulsystem keine Dreigliedrigkeit aufweist und die Selektionsfunktion anders gestaltet, die andere finanzielle und vor allem strukturelle Ressourcen aufweisen und die insgesamt Schulbildung anders organisieren bzw. politisch anders denken; sprich der politische Wille, tatsächliche Inklusion zu betreiben. Das ist im DACH-Raum anders und Einzelpersonen/ Kollegien können das System nur bis zu einem gewissen Maße auffangen, insofern sehe ich auch keinen Grund, warum sich Menschen hier dafür rechtfertigen sollen, dass sie in einem System, dass die Inklusion nicht fördert, nicht inklusiv arbeiten (können). Insgesamt sind wir hier eher dabei, Schüler*innen mit Behinderung integrieren zu wollen und stoßen hier genau auf die Probleme, die schon mehrfach im Verlauf dieses Threads aber auch in anderen thematisiert wurden.
Mit den Werkstätten hat die schulische Situation zwar auch etwas zu tun, allerdings gibt es dort auch eigene, strukturelle Probleme, die der Beitrag aufgegriffen hat (natürlich satirisch überspitzt, das ist ja das Konzept der Sendung), aber die wirklich relevant sind und ehrlicherweise politisch - meiner Einschätzung nach - wesentlich leichter zu . Kurze Vorbemerkung noch: ich selbst arbeite im Übergangsbereich Schule - Beruf für Jugendliche mit Behinderung und bin insofern in der Thematik etwas drin, muss aber leider gleich los und werde daher einige Details/ Quellenangaben erst in einem weiteren Beitrag ergänzen können, wenn ich wieder zuhause bin. Aber als erster Impuls zu den Problemen der Werkstätten:
1. Integration von schwerbehinderten Menschen (= Grad der Behinderung 50 und höher, egal in welchem "Behinderungs-Bereich") bzw. ihnen gleichgestellten (GdB mindestens 30 und erfolgreicher Gleichstellungsantrag) "lohnt" sich in Deutschland nicht.
Zwar müssen Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitsplätzen mindestens fünf Prozent davon mit schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Arbeitnehmer*innen besetzen (§ 154 SGB IX), allerdings kann dies umgangen werden, indem eine Ausgleichsabgabe bezahlt wird. Wie hoch diese ist, richtet sich danach, wie hoch der Anteil an schwerbehinderten bzw. diesen gleichgestellten Menschen in einem Unternehmen ist, beträgt aber maximal 360€ pro Monat und nicht entsprechend besetztem Arbeitsplatz. Diese Abgabe ist insgesamt so niedrig, dass es für Firmen immer noch attraktiver ist, die Abgabe zu zahlen, als die Anpassungen für schwerbehinderte Menschen (u.a. z.B. Arbeitsplatzanpassungen für Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen, Mobilitätseinschränkungen, etc.) zu organisieren (i.d.R. müssten diese nicht mal vom Betrieb gezahlt werden, sondern werden zumindest bezuschusst oder vollständig übernommen). Für "komplexere" Anpassungen, die nicht rein baulich/ technisch sind, greift dieses Argument natürlich noch stärker. Folgende Statistik (2020) zeigt, dass sich dies in der Praxis tatsächlich stark auswirkt:
2020 gab es in Deutschland 173.326 beschäftigungspflichtige Betriebe: davon hatten 128.533 Unternehmen schwerbehinderte Menschen beschäftigt, 44.793 hatten keine beschäftigt.
68.453 Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen mussten keine Ausgleichsabgabe zahlen. 104.873 Betriebe mussten Ausgleichsabgabe zahlen.
Alle Betriebe, die eine Ausgleichsabgabe zahlen mussten, kommen ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Integration von Menschen mit Schwerbehinderungen auf dem Arbeitsmarkt nicht nach, sondern (böse gesagt) kaufen sich davon frei. Das führt dazu, dass auch Menschen im Rollstuhl, die nebenher studieren, in solche Sondersysteme gedrückt werden und dort arbeiten müssen. Umso schwerer natürlich noch für Menschen mit geistigen Behinderungen, Lernbehinderungen oder emotional-sozialen Behinderungen, die nicht durch simple Anschaffungen/ Baumaßnahmen ausgeglichen werden können.
Möglicher Lösungsansatz: Anpassungen der Arbeitsplätze und Kostenträger entbürokratisieren; es darf nicht attraktiver sein, die Ausgleichsabgabe zahlen zu müssen als sich durch Antragsformulare zu wühlen um Arbeitsplätze anzupassen.
2. Die Werkstätten haben an sich das Ziel/ die gesetzliche Aufgabe der Rehabilitation und sollen eigentlich die dort Beschäftigten an den ersten Arbeitsmarkt hinführen bzw. die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen dort integriert werden können. Dieser Aufgabe kommen die meisten Werkstätten nicht nach und die Übertrittsquoten sind miserabel. (Zahlen liefere ich noch nach). Das liegt einerseits daran, dass auch die Ressourcen in den Werkstätten begrenzt sind und tendenziell eher nicht ins Übergangsmanagement gesteckt werden, andererseits finanzieren sich die Werkstätten auch durch Pro-Kopf-Zahlungen und schaden sich selbst finanziell, wenn sie Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt vermitteln. Lösungsansatz für letzteres wären Zuschüsse für Vermittlungen etc.
3. "Lohn" ist in Werkstätten für Menschen mit Behinderung generell ein schwieriges Konzept; in vielen Einrichtungen wird es auch als "Aufwandsentschädigung" ausbezahlt. Das liegt daran, dass einige der Menschen, die in den Werkstätten tätig sind, auch in entsprechenden Einrichtungen leben und Sozialleistungen erhalten, die ergänzend zum "Lohn" für die Arbeit monatlich fließen und für Dach über dem Kopf/ Betreuung/ Ernährung sorgen. Mit einigen Beschäftigten in WfbMs habe ich gesprochen (nur anekdotisch, keine Statistik!) und sie berichteten, dass sie lieber einen anständigen Stundenlohn und dafür weniger Sozialleistungen bekämen; geht also (bei den Menschen, mit denen ich gesprochen habe) eher in Richtung "Wertschätzung der Arbeit" als darum, tatsächlich mehr Geld zur Verfügung zu haben, wobei es diese Wünsche auch gibt, aber die Menschen schlicht keine Lobby haben, diese Forderungen mit den Werkstattleitungen auf Augenhöhe zu diskutieren.
Es gibt noch einiges mehr, aber ich muss jetzt los; falls ihr Interesse habt, kann ich gerne noch mehr zu der PRoblematik ausführen 
Viele Grüße und schönen Tag euch allen noch, JoyfulJay