Beiträge von Antimon

    Vielleicht ist es für unsere Nachbarländer eher beruhigend, wenn Deutschland von denen abhängig ist. Wir haben schließlich eine unrühmliche Vergangenheit als Aggressor hinter uns und Deutschland sollte nie wieder eine Bedrohung für andere darstellen. Demnach sind wir immer noch für einige Generationen auf Bewährung.

    Komm mal wieder runter. Die Schweiz ist von Deutschland tausend mal abhängiger als rumgedreht.

    Liebe Leute...

    Ich muss mal kurz was loswerden: Ich lese gerade die x-te Maturarbeit in Folge, die objektiv betrachtet kompletter Mus ist aber mit dem Fazit endet: "Ich finde, das Ziel wurde erreicht und ich habe sehr viel gelernt."

    Ich bewerte und betreue nun seit 9 Jahren Maturarbeiten und mir scheint dieser Hang zur Selbstverklärung wahrhaftig ein neuartiges Phänomen zu sein. Spinne ich, werde ich alt und zynisch oder ist da was dran?

    Besonders nervtötend wird die Diskussion mit Deutschen bzw in Deutschland. Seit ich beide Fächer unterrichte, geht es fast schon wieder, zu Beginn meiner "Karriere" ging das Gespräch immer so:

    Man muss doch zwei Fächer unterrichten, oder? Ich habe nicht auf Lehramt studiert. Ach, du bist Seiteneinsteiger? Nein. Ja aber eine pädagogische Ausbildung hast du dann ja nicht, also diese Frau Doktors die können ja sicher nicht so gut erklären, das ist vom Niveau ja viel zu hoch... Ach, leck mich doch, ich unterrichte in der Schweiz und verdiene doppelt so viel wie du. :autsch:

    Von Schweizern werde ich bemitleidet, weil die Fächer so kompliziert sind und die Schüler heutzutage doch so schlimm... Aber nein eigentlich haben's die am Gymnasium ja gar nicht so schlecht, also weisst du, an der Sek meiner Tochter... Äh, ja danke, ich komme bestens zurecht.

    Welche Antwort gebt ihr auf obige Frage

    Entweder gar keine oder ich sage wahrheitsgemäss, dass ich an einem Gymnasium Chemie und Physik unterrichte. Ich verstehe ehrlich den Sinn nicht, sich da irgendwas komisches auszudenken. Dass die Antwort häufig unangemessen kommentiert wird, stört mich auch. Ich habe mir angewöhnt, dass dann so auch rückzumelden. Auf "oh, ihr [Lehrer] habt es ja schon schwer" gebe ich meist ein "nö, ich nicht" zurück. Zum Beispiel. Oder auf "ach, Chemie und Physik konnte ich in der Schule nie" ein "ach, ich schon". Meistens merkt die Person dann selbst, dass die Bemerkung offenbar abgedroschen war.

    Sich über entfallenden Unterricht (kurzfristig) zu freuen und sich gleichzeitig auch Sorgen um (langzeit-)erkrankte Lehrkräfte zu machen, schließt sich bei den Schülern, mit denen ich zu tun habe, nicht aus.

    Üblicherweise hält bei unseren Schülerinnen und Schüler die "Freude" diesbezüglich nicht sehr lange an. Vor mir haben schon junge Männer, zwei Köpfe grösser als ich, gestanden und mich gefragt, ob ich nicht bitte bleiben könne, damit hier endlich mal regelmässig Physikunterricht stattfindet. Oder mich als Klassenlehrperson gefragt, wann Französisch endlich wieder kommt, die Stellvertretung sei anstrengend. Ich wundere mich bei einigen Zitaten hier, was da eigentlich läuft.

    Mir ist in 9 Dienstjahren noch nicht ein einziger junger Mensch begegnet, der sich darüber freut, dass eine Lehrperson krank ist. Die freuen sich allenfalls, dass der Unterricht ausfällt und noch nicht mal unbedingt das. Stattdessen habe ich mehrfach schon ganze Klassen Genesungswünsche an länger erkrankte Lehrpersonen übermitteln sehen.

    WillG Ich glaube, deine Situation mit den Oberstufenkursen ist in der Regel eine ganz andere als meine Situation mit meinen Klassen. Das ist systembedingt. Mir wird zu Beginn des vierjährigen Gymnasiums eine Klasse zugeteilt, die ich bis zur Matura behalte. Oder 3 Jahre lang im Grundlagenfach. Ich kenne ja das deutsche Schulsystem aus der Perspektive der Schülerin und weiss natürlich, dass es auch in unteren Klassenstufen üblich ist, dass die Fachlehrperson von einem aufs andere Schuljahr wechselt, das passiert bei uns nur ausnahmsweise, wenn z. B. eine Lehrperson pensioniert wird. In der Oberstufe habt ihr ein Kurssystem, wir unterrichten hier im Klassenverband. In diesem Kontext kann ich nachvollziehen, was du schreibst. Dass meine zwischenmenschliche Beziehung zu den Jugendlichen aber eine andere, im Sinne von weniger flüchtig ist, ist klar, oder? Wir sind sicher nicht ganz so eng wie eine Lehrperson mit den Kindern an einer Primarschule aber sicher enger als in einem Kurssystem.

    Darüber hinaus unterrichte ich an zwei verschiedenen Schulformen, das macht diesbezüglich auch noch einmal einen Unterschied. Für die Gymnasiast*innen ist es tatsächlich viel weniger ein Drama, wenn da kurzfristig die Lehrperson wechselt als für die Fachmittelschüler*innen. Das habe ich wirklich krass gemerkt, als ich letztes Jahr im Herbst nach meinem Unfall nach 6 Wochen wieder an die Schule gekommen bin. Die jüngeren Schüler*innen am Gymnasium waren da durchaus besorgt und haben mal nachgefragt. Im Grund geht man da aber relativ schnell "vergessen", was auch völlig in Ordnung ist. Ich bin ja absolut einig mit dir, dass man als Lehrperson jederzeit ersetzbar ist. Meine FMSis kamen an meinem 1. Arbeitstag aber JEDER EINZELN bei mir vorbeigetrabt um mal zu fragen, wie es mir denn so ginge. Das ist die absolute Regel, dass zu denen die zwischenmenschliche Distanz viel kleiner ist als an der Maturabteilung. Und das beruht natürlich auf Gegenseitigkeit.

    Die Sorge darum, wie es der Klasse gibt und ob die Klasse gut versorgt wird, obwohl man selbst krank ist, halte ich für befremdlich

    Ehrlich gesagt kaufe ich dir dieses Statement nicht ab. Es ist vollkommen richtig, was du infolge schreibst, nämlich dass wir alle ersetzbar sind und in unserer Abwesenheit dann eben eine andere Person den Job erledigt. In unserem Job geht es aber um Menschen, zu denen man im Laufe der Zeit eine Beziehung aufbaut. Ich halte es für befremdlich, wenn man da nicht dran denkt, wie z. B. die Abschlussprüfungen rauskommen werden, die man selbst nicht abnehmen kann.

    Ist mir letztes Jahr passiert, da hat es mich mit Covid erwischt und ein Kollege ist für mich eingesprungen. Die Prüfungen *sind* schlechter rausgekommen als hätte ich sie selbst abgenommen. Über die Gründe habe ich mich hinterher mit meinem Kollegen unterhalten, er weiss selbst, was nicht gut gelaufen ist. Für keine der betroffenen Schülerinnen war das am Ende matchentscheidend, insofern gab es da weder formal noch zwischenmenschlich irgendeine Art von Stress. Mir hat es im Einzelfall auch gar nicht mal irgendwie leid getan oder so, ich wusste vorher, dass diese eine Note nicht entscheidend sein wird. Aber natürlich habe ich an die Mädchen gedacht, als sie dran waren.

    Und natürlich wäre es was anderes, wäre ich irgendwo in der chemischen Industrie Produktionsleiterin oder sowas. Man hat zu einem doofen Farbstoff, der in einem grossen, stinkenden Kessel so vor sich hinrührt, nicht so den emotionalen Bezug wie zu einer Schülerin, bei der der Stress ausbricht weil sie kurz vor knapp erfährt, dass eine ihr gänzlich unbekannte Person ihre Abschlussprüfung abnehmen wird.

    Dieser emotionale Bezug und der Umstand, dass man an die Schülerinnen und Schüler denkt, während man zu Hause im Bett liegt, ist meiner Ansicht nach aber auch gar nicht das Problem. Der Stress wird durch Vorgesetzte verursacht, die nicht in der Lage sind, die Situation angemessen zu organisieren.

    Die meisten Schweizer, die ich kenne, empfinden das deutsche System übrigens als wesentlich ungerechter. "Privat" und "gesetzlich" hat so offensichtlich was von einer Zweiklassengesellschaft. In der Schweiz steht zumindest formal allen das gleiche Angebot offen. In der Realität entscheidet natürlich auch die eigene finanzielle Situation darüber, ob man sich Zusatzversicherungen leisten kann oder nicht. Ich habe übrigens keine einzige abgeschlossen, ich habe noch nicht rausgefunden wofür ich sowas bräuchte. Beim Zahnarzt war ich seit 2008 nicht mehr. Dass man hier immer Geld auf dem Konto haben muss, für den Fall der Fälle, ist klar. Dass es aber Personen gibt, für die das aus verschiedenen Gründen schwierig ist, ist auch klar. Ich habe jetzt mal Tante Google gefragt, wie viel man für eine Prämienverbilligung verdienen darf. Die Beträge erscheinen mir fair.

    Bei uns in der Fachdidaktik war ganz klar die Ansage: Alles unter 5.0 auf dem Lehrdiplom wird am Gymnasium gar nicht erst eingestellt. An der Schule, an der ich im Moment arbeite, war dann die Not in der Chemie so gross, dass mit mir zusammen eine Person mit einer 4.5 eingestellt wurde. Die arbeitet schon lange nicht mehr als Lehrperson. Also nicht nur nicht mehr bei uns sondern gar nicht mehr. Zurecht. Die Behauptung, Noten hätten keine Aussagekraft, halte ich schlichtweg für Quatsch. Das trifft nur auf sehr wenige Einzelfälle zu.

    In der Schweiz gilt in vielen Bereichen des Lebens das Verursacherprinzip. Ist einfach ein Teil der Mentalität die sich an dieser Stelle sehr deutlich von der deutschen unterscheidet. Ich bezahle ja auch keine monatlichen Abfallgebühren sondern kaufe nach Bedarf Müllsäcke bzw. Abfallmarken. Wenn man nichts verursacht, bezahlt man eben nichts. Im Falle der Krankenversicherung gibt es natürlich schon ein gewisses Solidaritätsprinzip, es ist ja nicht beliebig vorhersehbar, wann und in welchem Umfang man Leistungen in Anspruch nehmen muss. Der Grundbetrag ist aber entsprechend niedriger angesetzt. Zumal ich über den Arbeitgeber unfallversichert bin und die Unfallversicherung auch bei Privatunfall zahlt.

    Es gibt hier kein "privat" und "gesetzlich". Es gibt ein Versicherungsobligatorium für alle, man kann sich allenfalls zusatzversichern. Zähne z. B. sind in der Pflichtversicherung nicht drin, müsste man extra abschliessen, wenn man meint, es sei nötig. Ansonsten begleicht man die Zahnarztrechnung immer selbst. Es gibt wohl irgendwelche Zuschüsse, die man beantragen kann, keine Ahnung wo und wie, betrifft mich nicht. Wäre ich in Deutschland gesetzlich versichert, würde ich mindestens das doppelte an monatlichem Beitrag zahlen. Dies nur mal so um die Relation klar zu machen. Es ist nicht "gemein" dass man nach Bedarf zahlt sondern in der Summe günstiger. Ist man chronisch erkrankt, gibt es die Möglichkeit das Versicherungsmodell entsprechend anzupassen, dann zahlt man eben auch einen höheren monatlichen Grundbetrag. Fatal sind so spontan eintretende Zustände wie der gynäkologische Eingriff, den ich letztes Jahr hatte. Der hat mich um mehrere tausend CHF ärmer gemacht. Das ist für jemanden, der nicht ganz so gut verdient, akut wohl schon ein Problem. Welche Lösungen es dafür gibt, das weiss ich nicht.

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