Warum Religionsunterricht in der Schule? (für alle offen)

  • "Bekenntnisfreie Schulen" sind z. B. Waldorfschulen. Dort muss kein Religionsunterricht erteilt werden. Alle staatlichen allgemeinbildenden Schulen sind nicht bekenntnisfrei.


    Gruß
    Jana

  • Mal total unsachlich und polemisch:


    Ich bin neidisch auf die Religionslehrer, und gleichzeitig ärgere ich mich über sie.


    Ich bin neidisch, weil sie in ihrem Unterricht Sachen machen dürfen, die ich in meinem Unterricht machen sollte, wozu aber keine Zeit da ist - dafür hat man ja schließlich Religion. Die Identitätsfindung und Gesellschaftserkundung über Literatur und Sprache wird stundenplantechnisch mehr und mehr eingeschränkt, die Relilehrer wurschteln weiter fröhlich vor sich hin (und klauen dabei noch meine Erich Fried Gedichte!). Religionslehrer wollte ich nicht werden, weil ich mit meiner Glaubensvorstellung bei der Bewerbung um die Missio entweder achtkantig rausgeflogen wäre oder mächtig hätte lügen müssen, was ja auch wieder sehr unchristlich wäre. "Hättest ja Religionslehrer werden können!" will ich also nicht hören. Ich würd auch gern den Hobbypsychologen geben und mit den Schülern auf die kleine stille Stimme in mir hören bzw. unter fadenscheinigen Vorwänden Matrix gucken. Aber ich darf nicht. Drum bin ich neidisch.


    Gleichzeitig ärgere ich mich schwarz, wenn ich feststelle, dass auch die Schüler, die Religion haben/hatten, in der Oberstufe keinen blassen Dunst vom Hintergrund der christlich-abendländischen Kultur haben. Siehe Faust im Grundkurs: Erzengel, Cherubim, Seraphim: Unbekannt. Funktion/ Gestalt des Teufels in christlicher und apokrypher Lehre: Unbekannt. Mephistos Verdrehung des Schöpfungsmythos: unbemerkt, weil Mythos unbekannt. Hiob: Unbekannt. Antwort auf die Gretchenfrage: Kaum zu analysieren, weil Abweichungen zum christlichen Weltbild unbekannt. Wenn ich eh alles selbst erklären muss, weil in Reli lieber Nabelschau betrieben wurde anstatt Wissensvermittlung, hätt ich gern die Stunden dafür. Genauso, wie ich mich manchmal frage, was die Geschichtslehrer eigentlich mit ihren Stunden anfangen, sehe ich keine Ergebnisse des Religionsunterrichts - es bleibt jedenfalls kaum was hängen. Aber sich über den Verlust der Werte und die moderne Spaßgesellschaft aufregen, weil die Oberstufler ein amüsant verballhorntes Krippenspiel zu Gehör bringen - das geht immer.


    Der Sache nach ist Einübung in die Religion im Sinne von Hinführung zu einer bestimmten Konfession etwas, was in der Schule nicht geleistet werden kann und werden soll (der GG-Artikel ist eine Frechheit, zumal wenn gleichzeitig Kopftücher verboten werden... anderes Thema). Einübung in die Religion heißt auch Einübung im gemeinschaftlichen Ritus, das kann nur eine wirkliche Glaubens-, sprich Kirchengemeinschaft leisten. Die Vorstellung, man könne seine Kinder in alle Religionen mal reinschnuppern lassen, damit sie sich individuell das für sie Netteste raussuchen können ist, mit Verlaub gesagt, Blödsinn - Religionen sind soziale Organisationsformen, in denen es gerade darum geht, viele Individuen mithilfe von Riten und in Elternhaus und früher Kindheit tradierten Vorstellungen in eine Gemeinschaft einzubinden, damit diese Gemeinschaft überhaupt als Gruppe funktionieren kann. Klar kann man dem Club der Katholiken auch später beitreten, aber die emotionale Seite, die aus den Weihrauchdünsten, dem Beichten und dem AveMariaNuscheln der Kindheit gerührt ist, kann man eben nicht nachholen, und dann wird's eine mächtige Kopfgeburt, die wiederum austauschbar ist.


    Das Verhältnis zu Gott? Hier hab ich keine Lust mehr auf Polemik, weil's von meinen Vorrednern schon gesagt wurde: Das kann an der Schule nur konfessionsungebunden thematisiert werden, wenn wir's ernst meinen mit der aufgeklärten Gesellschaft. Und eigentlich - ist's wirklich Privatangelegenheit.


    Daher:
    - religions- und konfessionsfreier Ethikunterricht, der sich zu gleichen Teilen aus Information (über die Weltreligionen, über Sekten usw.) und Angeboten zur individuellen und sozialen Entwicklung zusammensetzt.
    - Einladung an ALLE religiösen Gruppen, an den Schulen Gottesdienste, Freitagsgebete und Meditationszentren einzurichten... aber eben nicht als Teil, sondern als Gäste der Schule.
    - Öffnung der Schulen für alle religiösen und weltanschaulichen Kennzeichnungen, soweit sie nicht dem Grundgesetz widersprechen, gleichzeitig knalllharte Kennzeichnung von religiösen Überzeugungen als Privatsache (also kein Grund, auf der Klassenfahrt nicht mitzufahren) - die Welt ist bunt, man lernt nur in Auseinandersetzung, nicht in einer künstlich geschaffenen und unechten Neutralität.
    - Mehr Platz für die individuelle und soziale Entfaltung in allen Fächern - warum nicht in Physik Galilei und seinen Kampf gegen das kirchliche Weltbild thematisieren? Meint irgend jemand, wenn ich in Englisch Hamlet diskutiere, läuft das wertfrei? Meditation und Kontemplation scheint mir ebensoviel mit Sport zu tun zu haben wie mit Kunst... wenn der Platz dafür geschaffen wird.


    In dulci jubilo...


    w.
    *von katholischer Klosterschule, Religion eins der Lieblingsfächer bis zum Abitur, häufig auf religiösen Freizeiten gewesen, mehrere atheistische Phasen durchlaufen... und grad wieder in einer*

    Frölich zärtlich lieplich und klärlich lustlich stille leysejn senffter süsser keuscher sainer weysewach du minnikliches schönes weib

    Einmal editiert, zuletzt von wolkenstein ()

  • Hallo wolkenstein,wir hatten einiges von den angesprochenen Sachen darunter auch
    Hintergrund der christlich-abendländischen Kultur und auch Hiob.
    Im Moment sind wir bei Marx Religionspolitik.


    So ganz locker ist der Unterricht auch nicht und Krippenspiele machen wir auch keine ;)

    Träume nicht Dein Leben,lebe Deinen Traum

  • Ich kann Ähnliches wie aisha berichten. Wir haben Hiob ausführlichst behandelt ( :rolleyes: ) und zu christlichen Feiertagen sprechen wir immer über den Hintergrund, so als kleinen Einschub in die Unterrichtsreihe.
    Wir haben nur mal in der siebten Klasse ein Hörspiel zu David gemacht. Sonst ist der Unterricht eher wir aisha schon geschrieben hat.


    @Jana/DaisyDuck: Danke für die Information!


    LG


    Socke

    "Wenn zwei Philosophen zusammentreffen, ist es am vernünftigsten, wenn sie zueinander bloß 'Guten Morgen' sagen."


    -- Jean Paul Sartre, franz. Philosoph

  • Ich lese hier sehr interessiert mit und versuche, mir eine Meinung zu bilden, was ich nicht einfach finde.
    Eigentlich war ich immer für Religionsunterricht in der Schule. Ich bin katholisch aufgewachsen, aber in einer liberalen nachkonziliären Gemeinde, wo Weihrauch und Ave Maria dann eher weniger wichtig waren


    Ich bin der Meinung, dass in einem religionskundlichen Unterricht was fehlen würde, die spirituelle Ebene, das Kennenlernen der Religion "von Innen". Etwas über andere Religionen lernen ist auch sehr wichtig, vielleicht sollte das im Religionsunterricht geschehen, vielleicht auch (zusätzlich) woanders. Auch rein katholischer Unterricht kann aber anderen Religionen freundschaftlich-interessiert begegnen.


    Aber muss der Unterricht in der Schule stattfinden? Ich freue mich, dass man in der Schule - wenn der Unterricht denn auch in der Sonderschule mal stattfinden sollte - eben alle getauften Kinder erreichen kann. Denn ich bin, im Gegensatz zu Meike z.B. schon der Ansicht, dass Religion bereichernd ist für das Leben. Die Gemeinschaft, das Angenommenwerden von anderen, von Gott, das ist es, was ich mit Kirche vor allem verbinde.


    Leider habt ihr Recht: Diese Argumente sind nicht hinreichend. Man könnte immer noch sagen, dass es Sache der Kirche ist (und der Eltern), den Kindern das zu bieten oder eben nicht.


    Noch was zu den Cherubinen und Teufeln usw.: Wenn das wirklich Thema wäre, hieße es doch auch wieder: Was die für konservative Themen haben! Ist es nicht wichtiger, auf die Interessen der Kinder einzugehen? Nein, rechtmachen kann man es da nunmal wirklich nicht allen.

  • Ziat von Wolkenstein: "Relilehrer wurschteln weiter fröhlich vor sich hin"


    Lieber Wolkenstein.


    Die Themen für den Religionsunterricht sind in den entsprechenden Rahmenrichtlinien bzw. Lehrplänen geregelt. Religion ist kein beliebiges Fach. Sicher werden in allen Fächern in der Oberstufe bei einigen Schülern Lücken sichtbar, je nachdem, welchen Lehrer sie hatten, ob in den vorherigen Jahren die Fächer überhaupt unterrichtet wurden usw.


    Liebe Grüße
    Jana

  • Zitat

    wolkenstein schrieb am 26.05.2006 14:34:
    "Hättest ja Religionslehrer werden können!" will ich also nicht hören. Ich würd auch gern den Hobbypsychologen geben und mit den Schülern auf die kleine stille Stimme in mir hören bzw. unter fadenscheinigen Vorwänden Matrix gucken. Aber ich darf nicht. Drum bin ich neidisch.


    Hättest ja auch Philosophielehrer werden können. Wir "dürfen" das auch. ;)
    (Wobei ich meinen SuS die Matrix bislang verweigert habe, ist mir zu überoffensichtlich und abgedroschen.)


    On topic: Schwierige Kiste. Gefühlsmäßig bin ich sehr dafür, dass Schule und Kirche streng getrennt werden. Dass das nicht zum Schaden der Kirche sein muss, zeigt das Beispiel Frankreich, wo Religion ernster genommen wird - gerade weil sie nicht nebenbei in der Schule mitabgewickelt wird.


    Wenn ich an meinen eigenen Religionsunterricht zurückdenke, so erinnere ich mich - leider - v.a. an unerquickliche Gutmenschendiskussionen über den Golfkrieg (den ersten, nota bene ;) ) und ermüdende Unterrichtsreihen über Drogenmißbrauch.


    Exegese - Fehlanzeige. (Ich hab aber Reli auch nach der 10 abgewählt und mich - nomen est omen - der Philosophie zugewandt.)


    Allerdings weiß ich von den engagierten Relikollegen an meiner Schule, dass der Unterricht nicht so trostlos verlaufen muss, wie ich ihn erlebt habe. Und platte Indoktrination habe ich auch nicht erlebt - und dann und wann verirre ich mich sogar in einen Schulgottesdienst und fühle mich nicht deplaziert (anders als zu meiner Konfirmandenzeit).

    Einmal editiert, zuletzt von philosophus ()

  • Ein Zitat zum Thema "Religion":
    "Ein Blitzableiter auf einem Kirchturm ist das denkbar stärkste Mißtrauensvotum gegen den lieben Gott."
    Karl Kraus, Schriftsteller

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

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