Autor vs. Erzähler

  • Hallo,
    ich habe zwar schon andere Beiträge zum Thema Autor vs. Erzähler gefunden, die aber nicht präzise auf meine Frage eingehen bzw. ich muss mich einfach vergewissern, weil ich gerade an meinen Klausuren sitze.


    Also: die Unterscheidung
    Autor-Erzähler ist mir klar, z.B. bei der Frage, wer die geschilderten
    Ereignisse/Empfindungen erlebt hat oder fühlt (Erzähler, lyrisches Ich etc.). Der Autor ist kein Teil dieser fiktiven Welt, sondern eben nur deren "Schöpfer".
    Mir geht es nun aber um die Frage, wie ihr in der Praxis mit Aussagen wie "Der Autor benutzt Metaphern, Alliterationen....., um xy zu unterstreichen" umgeht. Im Endeffekt war es ja nun mal der Autor, der die Erlebnisse des Erzählers hervorheben möchte.
    Also, kurz und knapp: Schreibt ihr den Gebrauch der Stilmittel dem Autor oder ebenfalls dem Erzähler zu? Leider ist im Netz - sogar von Lehrerseite - Widersprüchliches zu finden...
    Danke euch!

  • Bei Stilmitteln würde ich den Autor zulassen.
    Der Erzähler/das lyrische Ich bei Gedichten ist bei der Handlungsebene verwendbar.
    Für mich wäre der folgende Satz völlig korrekt:
    Das lyrische Ich/der Erzähler möchte seine Geliebte umarmen. Dies macht der Autor hier mit der Metapher [...] deutlich.

  • Autor, Erzähler oder Figur - das ist ein interessantes und amüsantes Problem, das wichtige narratologische Aspekte beleuchtet! :) Aber eigentlich ist die Sache recht einfach, wenn man mal drüber nachdenkt. Weil ich gerade einen faulen Pfingstferientag habe, erlaube ich mir mal so ein paar Anmerkungen in die Runde zu werfen:


    Rhetorische Mittel werden von einer Entität angewandt, die Einfluss auf den Rezeptionsvorgang durch den Leser oder Hörer nehmen will. Ich benutze bewusst den Begriff "Entität", weil mit der Setzung noch nicht festgelegt ist, ob es hierbei um einen Sprecher oder Schreiber handelt oder in einem narrativen Kontext etwas in der Realität Inexistentes. Das ist nicht so verschwurbelt, wie es sich anhört: wenn Helge Schneider eine Bundestagsrede hält oder wenn wir ihn dabei beobachten, wie er ein Gedicht schreibt, sehen und hören wir ihn dabei, wie er rhetorische Mittel formt und anwendet. Ebenso spontan und intuitiv ist uns aber auch die Idee zugänglich, dass die Entität einer erzählten Figur zu rhetorischen Mitteln greift; sei es die anonyme Stimme, die in Nineteen Eighty-Four die Propaganda der "Two Minutes Hate", sei es Aragorn, der in einer Rede die Armeen der freien Völker vor der Schlacht am Schwarzen Tor anstachelt. Bei der Entität muss es sich nicht einmal um einen Menschen handeln. Pu der Bär leitet beim Besteigen eines Baumes auf der Suche nach Honig eine existentialistische Kontemplation der Dichotomie von bärischer und bienischer Existenz mit der rhetorischen Frage nach dem "Warum?" ein. Das Positronenhirn auf Arkon diskutiert mit Perry Rhodan über das Existenzrecht der Terraner. In der kulturellen Praxis ist des Erzählens blendet der Leser oder Hörer die Künstlichkeit literarischer Figuren aus - für den Zeitraum der Erzählung wendet die suspension of disbelief die erzählten Inhalte in die Realität; wenn ich den Comic lese, sind es Tick, Trick und Track, die beschwören, "ein einig Volk von Brüdern" sein zu wollen, "in keiner Not uns waschen und Gefahr!" Es ist irrelevant, dass diese Zeilen realiter von Erika Fuchs verfasst wurden, es ist gleichgültig, ob der erzählte Rhetoriker in der Wirklichkeit sprechen oder überhaupt existieren könnte.


    Dass rhetorische Mittel als sprachliches Handeln sowohl von Menschen in der Realität als auch von erfundenen literarischen Figuren angewandt werden können, ist trivial - komplizierter wird die Angelegenheit allerdings, wenn das Konzept des Erzählers hinzukommt und die Frage gestellt wird, wer denn jetzt eigentlich redet, Verfasser, Erzähler oder Figur? Prinzipiell kann der Erzähler sicherlich eine Entität im o.g. Sinne sein, demzufolge wäre er selbstredend in der Lage, rhetorische Mittel auch tatsächlich anzuwenden. Der einfachste Fall ist hierbei der des Ich-Erzählers. Es ist Kara Ben Nemsi, der die Erzählung von "Durch die Wüste" im Text über des Weltheilerfunktion des christlichen Kulturdeutschen schwadronierend kommentiert. In diesem Fall ist Erzählerfigur, die "aus dem Off" zum Leser spricht und die Rhetorik der Figur wird gleichermaßen zur Rhetorik des Erzählers und kann deshalb so beschrieben werden. Schwieriger wird die Angelegenheit beim personalen Erzähler. In manchen Fällen kann der personale Erzähler mit der Figur identisch sein. Hier ein Beispiel aus George R.R. Martins "A Clash of Kings" (das gerade so passend auf meinem Nachttischchen liegt. Littlefinger und Tyrion besprechen mögliche politische Handlungsoptionen:


    Zitat

    A shout rang up from the yard. "Ah, His Grace has killed a hare," Lord Baelish observed.
    "No doubt a slow one," Tyrion observed. "My lord, you were fostered at Riverrun. I've heard it said that you grew close to the Tullys."
    "You might say so. The girls especially."
    "How close?"
    "I had their maidenheads. Is that close enough?"
    The lie - Tyrion was fairly certain it was a lie - was delivered with such an air of nonchalance that one could almost believe it. Could it have been Catelyn Stark who lied? About her defloration, and the dagger as well? The longer he lived, the more Tyrion realized that nothing was simple and little was true.


    Martin hält konsequent eine begrenzte, personale Erzählperspektive ein; sie umfasst sowohl innere als auch äußere Vorgänge, niemals erfährt der Leser in der äußeren Handlung etwas, was die erzählte Figur nicht aus eigener Anschauung wahrnehmen kann, niemals wird bei der inneren Perspektive Wissen preisgegeben oder umgewälzt, über das die erzählte Figur nicht verfügen könnte. Kurz vor der eben zitierten Stelle wird beschrieben, wie der kurz gewachsene Tyrion mühsam auf einen Stuhl steigen muss, um die Charaden des kindlichen Königs im Hof überhaupt beobachten zu können. Für den Rest der Szene erfährt der Leser über die Vorgänge im Hof nur teichoskopisch durch Littlefinger oder aber akkustisch. Man könnte den personalen Erzähler hier durchaus mit der Figur identifizieren - und es könnte der Erzähler sein, der die Stilmittel der rhetorischen Frage und des Asyndeton anwendet. Allerdings kann eine Narrative auch viel unpräziser über einen personalen Erzähler vermittelt werden, ohne dass das ein technischer Fehler des Verfassers ist.


    (Ende Teil 1)

  • (Teil 2)


    Hier ein Beispiel aus einer wirklich famosen Kurzgeschichte von Ernest Hemingway, "The Short Happy Life of Francis Macomber":


    Zitat

    Macomber stepped out of the curved opening at the side of the front seat, onto the step and down onto the ground. The lion still stood looking majestically and coolly toward this object that his eyes only showed in silhouette, bulking like some super-rhino. There was no man smell carried toward him and he watched the object, moving his great head a little from side to side. Then watching the object, not afraid, but hesitating before going down the bank to drink with such a thing opposite him, he saw a man figure detach itself from it and he turned his heavy head and swung away toward the cover of the trees as he heard a cracking crash and felt the slam of a.30-06 220-grain solid bullet that bit his flank and ripped in sudden hot scalding nausea through his stomach. He trotted, heavy, big-footed, swinging wounded full-bellied, through the trees toward the tall grass and cover, and the crash came again to go past him ripping the air apart. Then it crashed again and he felt the blow as it hit his lower ribs and ripped on through, blood sudden hot and frothy in his mouth, and he galloped toward the high grass where he could crouch and not be seen and make them bring the crashing thing close enough so he could make a rush and get the man that held it


    In dieser Stelle übernimmt der personale Erzähle für einen Augenblick die Innenperspektive eines Löwen. Während im ersten Satz noch die Namensnennung Macombers verrät, dass der Erzähler über Wissen verfügt, das die Raubkatze nicht haben kann, verändert sich die Sprache des Textes gleich darauf so, dass sie die Perspektive eines Tieres repräsentiert, das die Umwelt in anderen Begrifflichkeiten sieht als ein Mensch: ein Geländewagen wird zu einem "object", das einem "super-rhino" ähnelt, der Löwe verlässt sich auf den gewitterten "man smell", Macomber ist eine "man figure". Gleich darauf erfolgt allerdings ein krasser Bruch - der Erzähler beschreibt das Geschoss, das in den Körper des Löwen einschlägt, in technisch detaillierter Begrifflichkeit, was die Innenperspektive des Tieres bricht, nur um gleich darauf sprachlich das tierische Unverständnis über die Verletzung zu demonstrieren.


    Diese schwankende Perspektive des hemingwayschen personalen Erzählers wird verständlich, wenn man sich vor Augen hält, wie diese Erzählungen funktionieren. Hemingways Erzählkunst ist eine Erzählkunst des Ungesagten; ab und an wird zu ihrer Beschreibung die Metapher eines Eisbergs verwandt: 70% der Erzählung seien unter der Oberfläche, nur zu erahnen aber tragend für die Handlung. Man muss sich den personalen Erzähler bei Hemingway wie einen schweifenden Blick hierhin und dahin gleitet, Schlaglichter setzt und wieder wegschaltet, kurze Eindrücke erzeugt, die den Rezeptionsprozess mit einer sehr leichten Hand führen. Jenseits des Ich-Erzählers, und der Ich-Erzähler ist ein Spezialfall des personalen Erzählers!, zeigen viele Texte eine eingeschränkte Eindeutigkeit, was die Präzision der Erzählerperspektive angeht. Die beiden Beispiele die ich angebracht habe, sind Extrembeispiele. Zu Recht wird der personale Erzähler oft als "Brille einer Figur" beschrieben, durch die der Leser blickt. Im Fall der meisten personalen Erzählen finden sich mehr oder minder Brüche, die den personalen Erzähler von der erzählten Figur entfernen. Wird der Erzähler dadurch zu einer "Entität" im Sinne der Eingangsdefinition? Nach meinem narratologischen Verständnis wäre das eine unnötige begriffliche Verkomplizierung, die keinen Mehrwert an Textverständnis brächte. Der Erzähler als Entität würde sich nur über die Erzählweise definieren und schaffte mehr Probleme als er löste - prinzipiell wäre ein solcher Erzähler nichts als ein in den Text versetzter Autor, was gleich zum nächsten Problem führt.


    Ein menschlicher Verfasser oder Redner spricht im Sachttext. Ist es also auch der Autor, der im narrativen Text spricht? Auf keinen Fall! Auch wenn es eine triviale Tatsache ist, dass am Ursprung jeden Textes ein Mensch als Verfasser die Feder gespitzt oder die Tastatur geklopft hat, ist im literaturwissenschaftlichen Verständnis seit Jahrzehnten der Autor als Faktor der Textrezeption ausgeschlossen. Der diskursive Austausch als Genese der Textbedeutung findet zwischen Text, Leser und diskursivem Dispositiv statt. Roland Barthes postulierte schon 1968 den "mort de l'auteur" und Michel Foucault machte ihn im Jahr darauf zur "Autor-Funktion". Eine Begrifflichkeit über die Hintertür einzuführen, die das Textverständnis hinter dieses schon immerhin fast 50 Jahre alte fachwissenschaftliche Verständnis zurückfallen lässt, darf an der Schule natürlich nicht sein. Ein Physiklehrer kann schließlich auch nicht eine Äthermetaphorik zur Beschreibung der Wellennatur von Licht verwenden.


    Wie soll soll man didaktisch also vorgehen? Meines Erachtens ist die einzig sinnvolle Lösung, schon frühzeitig bei jeder Betrachtung narrativer Texte die Rede über den Text und die Figuren einzuführen, wobei die - intuitiv sicherlich verständliche - Suche nach der formenden menschlichen Hand ausgeblendet wird: der Text zeigt rhetorische Figuren, im Text finden sich Alliterationen, die Figur greift zu Metaphern und Symbolen. Der Erzähler wird dabei zu dem, als was er am elegantesten und einfachsten zu beschreiben ist, nämlich zu einer Funktion des Textes, die eine Wirkung beim Leser hervorruft, so wie ich es im Beispiel der Kurzgeschichte von Hemingway gezeigt habe. Eine solche Redeweise stellt ebenso den Schüler vor die geringsten Probleme wie auch den Lehrer, der sich bei der Korrektur verknotet.


    Als Abschluss noch ein nettes Beispiel einer verschränkten Erzählweise, wo die Figur in einer Untererzählung ihrerseits zum Erzähler einer Geschichte wird - wobei der erzählte Erzähler tatsächlich die Multidimensionalität einer narrativen Entität im o.g. Sinne erhält. In der Comedy-Serie "The Young Ones" aus den 80er Jahren ereifert sich der Soziologie- bzw. Hauswirtschaftsstudent Rik über die Gewaltszenen in dem (von ihm gekauften!) Comic "SS Death Camp Batallion go to Monte Cassino for the Massacre". Rik fragt, wieso es es keine Geschichten über Liebe und Frieden gäbe und erträumt eine eigene, im Comicstil erzählte Geschichte über einen "real hero", in der er in der Rolle des "People's Poet" Jugendliche vor den Übergriffen der Polizei, der "Pigs" schützt. (Hier die vollständige Folge.)


    Nele

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