Zur "deutschen Kultur":
Deutsche Kultur erlebe ich am ehesten als einen diffusen Gefühlszustand in Abgrenzung zu anderen Kulturen. Das ist häufig irgendwie undefiniert patriotisch und vielleicht nationalistisch - das ist dann die Pegidavariante. Es kann aber auch ganz harmlos sein, wenn man sich im Auslandsjahr nach einem Vierteljahr der aktiven Integration in der Zielkultur einfach mal gut dabei fühlt, sich ein Schnitzel in die Pfanne zu hauen oder sich tierisch darüber freut, dass der Besuch aus Deutschland "echtes" Brot oder deutsche Schoki mitbringt. Das ist alles irgendwie deutsche Kultur, aber zu einer echten Leitkultur taugt das auch nicht.
Ich will damit sagen: Ich kenne schon vereinzelte Situationen, in denen ich mich auf diffuse Weise "deutsch" fühle, was dann auch durchaus positiv affektiv besetzt ist. Ich bin dann nicht "stolz" darauf, Deutscher zu sein, aber ich realisiere, dass ich mich in Deutschland und als Deutscher durchaus wohl fühle. Aber dennoch könnte ich jetzt Cem, Samira oder Tachina nicht sagen, sie sollen sich doch gefälligst mal an die deutsche Kultur anpassen, weil ich diese einfach nicht definieren könnte. Abgesehen davon würde ich nicht in einer Kultur leben wollen,
die so einfach auf ein paar Elemente festzulegen ist und die sich nicht beständig durch äußere Einflüsse weiterentwickelt.
Warum schaffen es manche Bürger auch nach mehr als einem Jahrzehnt Aufenthalt in Deutschland nicht, mehr als rudimentäres Deutsch zu sprechen? Und warum haben manche Migranten derart Berührungsängste mit Deutschen und verweilen nur in "ihren" Kreisen, wenn es für diesen Jungen das Selbstverständlichste der Welt war?
Kinder haben weniger Hemmungen, Kontakte mit anderen zu knüpfen. Dein Schüler war sofort in einem sozialen Umfeld, mit dem es sprachlich interagieren musste. Bei Erwachsenen ist das schwieriger - das wirst du vor allem merken, wenn du mal aus der Uni raus bist. Dann lernt man nicht mehr so schnell und so einfach neue Leute kennen. Ein erwachsener Einwanderer hat also nicht so schnell das deutschsprachige Sozialleben wie ein Kind. Die ersten Leute, die er besser kennenlernt, sind Menschen in der gleichen Situation, also auch Einwanderer, die dann oft die gleiche Sprache sprechen oder zumindest kein gutes sprachliches Vorbild abgeben.
Kinder haben auch weniger Hemmungen, Fehler zu machen. Sie plappern darauf los und üben dadurch die Fremdsprache, was zu schnellerem Lernerfolg führt. Erwachsene schämen sich eher, wenn sie sich nicht sicher sind, ob sie sich korrekt ausdrücken ("affective filter" nach Stephen Krashen) und vermeiden desahlb auch Kommunikationssituationen in der Fremdsprache. Das behindert natürlich den Lernerfolg.
Deshalb ist es ja so wichtig, die Integration nicht nur von den Einwanderern einzufordern, sondern sie dabei auch aktiv zu unterstützen, eben um Gheottisierung zu vermeiden, die sonst eine ganz natürliche, menschliche Reaktion auf Überforderung ist und nichts mit mangelndem Willen oder Abgrenzungstendenzen der pösen, pösen Ausländer zu tun hat.