Nun wenden Verteidiger der EU-Impfstoffpolitik ein, es mache ja keinen Unterschied, wie viel man bestellt habe: Die Hersteller könnten nun mal nicht mehr produzieren als sie es derzeit tun. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Natürlich gibt es Produktionsengpässe. Doch mit Millionen zusätzlicher Aufträge in der Tasche hätten die Pharmafirmen seit Sommer anders planen können – und einen Anreiz gehabt, ihre Kapazitäten noch stärker auszuweiten.
Also erstmal gibt es da gewisse moralische Aspekte. Ich hatte ja die Studie verlinkt, dass 14% der Weltbevölkerung 51% der Impfstoffproduktion gesichert haben. Wenn wir nun deinen Ansatz folgen und die dreifache Menge ordern und wahrscheinlich auch die USA etc. mitziehen, kommen wir schnell in einen Bieterstreit. Für 2. und 3. Welt bleibt natürlich nichts mehr übrig. Die reichen Länder sichern sich zu horrenden Preisen den Zugriff auf die ersten Impfdosen. Kann man machen. Wir gehören ja auch zu den reichen. Bedeutet dann aber auch in der Konsequenz an einem Zeitpunkt X in Deutschland jeder geimpft werden kann, während in Italien noch niemand geimpft wird. Oder soll das EU-weit? Dann halt in der Türkei, Ägypten, Australien, was auch immer. Also alle, die nicht so viel Geld haben. Kann man natürlich machen. Trump hat ja auch mit America first erfolgt. Aber im Sommer war man sich ja noch einig, dass die Impfstoffe allen Menschen zu gute kommen sollen. Weltweite Impfstoffallianz. Die Pandemie lässt sich nur stoppen, wenn man auch in der dritten Welt genug impft. Damals gab es noch keinen Aufschrei. Auf einmal findet man das nicht mehr so gut.
Das andere viel größere? Probleme ist, dass man die Produktion halt nicht einfach kurzfristig steigern kann. Ein guter Freund arbeitet im Anlagenbau. Die arbeiten für Pharmaunternehmen. Man kann nicht eben mal eine Produktionstätte bauen. Das dauert normale mehrere Jahre!. Planung, kauf, Bau der Gebäude, Anlagenbau, Testläufe, Abnahme. Selbst unter optimalsten Bedingungen hätte man das nicht rechtzeitig geschafft. Zumal dann ja auch alle Impfstoffhersteller auf einmal nach den gleichen Produkten nachgefragt hätten. Dann kommt noch das kleine Problem der Mitarbeiter. Du kannst ja nicht einfach die arbeitslosen Restaurantmitarbeiter dort einsetzen. Zu mindestens in machen Bereichen benötigst du hochqualifiziertes Personal. Und wir haben schon jetzt einen Fachkräftemangel. Als Ingenieur kannst du dir den Job oft aussuchen und auch im Bereich Chemie, Medizin, Biologie fehlen Spitzenkräfte. Dazu müssen diese ja auch dafür weiter qualifiziert werden. Du kannst ja schlecht einen Haufen Uniabsolventen irgendwo hinsetzen und sagen jetzt macht mal. Die brauchen auch eine Einarbeitung und erfahrene Kollegen.
Letztlich ist eine Steigerung nicht so einfach möglich. Vor allem nicht im Maße wie es sich der Spiegel vorstellt. Sicherlich hätte man einzelne Firmen stärker fördern können oder mehr bestellen. Und sicherlich hätte es Biontech und co lieber, wenn mehr bestellt worden wäre. Aber alleine schon wenn wir sehen mit welchen Aufwand man gerade versucht die Produktionskapazitäten von Biontech in Deutschland zu steigern, da fragt man sich doch wie das mit einem Haufen von Unternehmen und dann möglichst einer Verdreifachung gehen sollte.
Das moralische Dilemma taucht auch beim Israel-Argument auf. Klar, wir hätten einfach sagen können wir machen bilaterale Verträge. Deutschland zahlt den doppelten Preis und erhält dafür die ersten 100 Mio Impfdosen. Der Rest der Welt/EU hat halt Pech. Frage ist, ob man das will.