Ich war auch entsetzt, dass um die paar Punkte so ein Wirbel gemacht wird. Und sicherlich wird das auch wieder zu politischen Zwecken missbraucht. ("Man muss gar nicht so viel Geld in die Schulen stecken, es geht auch so." - "Die Oberschulen müssen sich einfach nur mehr anstrengen." - "Die Gemeinschaftsschule ist richtig, denn Grundschulen sind ja auch sowas wie Gemeinschaftsschulen und da können die Kinder gut lesen.")
Das sehe ich ähnlich Nele.
Was ich momentan in meinem Bundesland sehe, ist Folgendes:
1. Jüngere Kinder wurden zwangsweise (ohne Rückstellungsmöglichkeit) eingeschult. (Die ersten sind in Kl. 3 angekommen.)
2. Jahrgangsgemischte Klassen ab diesem Jahr. Es war mal von 2 Lehrern pro Klasse und maximal 22 Kindern die Rede. Nun haben wir bis zu 28 Kinder und wenn es hoch kommt, 10 Teilungsstunden (davon 5 bis 10 von Erziehern geleistet, von denen sich manche überfordert fühlen) und 3 Sonderpädagogenstunden zur Einzelförderung. Den Rest der Zeit wird also von uns und den Kindern verlangt, dass da 5 bis 8-jährige selbstständig, leise, freiwillig, ausdauernd, motiviert und individuell arbeiten. Dass einige der Kinder gar nicht in der Lage sind, selbstständig zu arbeiten, das interessiert keinen. Dass das Lehrer-Klonen verboten ist und wir deshalb niemals allen gerecht werden können, immerzu unzufrieden, überarbeitet, gestresst sind und das sicherlich auch die Kinder spüren... Egal. Dass wir krank werden bzw. nur noch für die Arbeit leben, weil wir nicht nur einmal Unterricht planen, sondern für 2 Jahrgangsstufen + verschiedenste Differenzierungen + Materialien und Inhalte für Teilungsstunden + Alternativen, wenn Teilungsstunden nicht statt finden - egal, solange wir noch funktionieren, kein Problem.
3. Förderbedarf für Lernen und Verhalten wurde für die ersten 2 Klassenstufen abgeschafft. Das heißt, diese Kinder sitzen in den Grundschulklassen mit drin. Und zwar nicht nur 2, sondern 3 Jahre, denn ihnen soll im 3. Jahr nochmal "eine Chance" gegeben werden. So kommt es, dass Kinder schon nach einem Jahr null Bock mehr auf Schule haben, weil sie merken, dass die neuen Erstklässler in ihrer jahrgangsgemischten Klasse mehr können als sie selber im 2. Schulbesuchsjahr.
4. Eine "Teilung" im Sinne: "Die Kinder der 1. Klasse arbeiten leise hinten, während vorne im Klassenraum die Kinder der 2. Klasse mit mir frontal etwas erarbeiten." funktioniert nicht. Dazu haben die Lütten zu viele Fragen, egal wie genau man vorher erklärt. Umgekehrt funktioniert es erst recht nicht.
Konkret bedeutet das:
Unsere jetzigen Zweitklässler haben einen deutlich niedrigeren Leistungsstand als die im letzten Jahr. (Diesjährige Spitze im Lesen entspricht etwa letztjährigem Mittelfeld. Diesjähriges "schwaches Feld" entspricht etwa dem Leistungsstand der langsameren Lerner meiner letzten Klasse am Ende des 1. Halbjahr 1. Klasse, in anderen Gebieten sieht es noch schlimmer aus.)
Sie haben keine Ahnung von Wortarten, das Merkvermögen ist unterirdisch, sie haben mich vor einigen Tagen angeschaut, als ich von ihnen "Namenwörter" hören wollte, als würde ich sonst was von ihnen verlangen, dabei kauen wir das seit Anfang des Schuljahres ständig durch. Einzahl und Mehrzahl bilden? - Vor dem Kontrollieren Taschentücher und Schnaps bereitstellen, sonst besteht die Gefahr, die Tischkante zu zerbeißen.
Selbstständig arbeiten? Keine Chance. Überhaupt arbeiten? Bei mehreren Kindern nur, wenn ich ständig daneben stehe.
Sie auf den Stand bringen, der am Ende des 2. Schuljahres erreicht sein müsste? Das wird wohl nur ansatzweise funktionieren. Und auch die leistungsstarken leiden darunter, denn auch sie bräuchten für qualitativ hochwertige Zusatzaufgaben Hilfe und Anleitung, die ich alleine oder auch in Kooperation mit einer Erzieherin für einige Stunden pro Woche einfach nicht leisten kann, da es an allen Ecken und Enden "brennt". Die Kolleginnen, die nächstes Jahr dritte Klassen bekommen, werden sich umschauen. Die jetzigen betonen schon, wie schwach viele Schüler sind.
Und die Kinder ein 3. Jahr "verbleiben" lassen, wie die Politiker das einfach so sagen? Ja klar, die haben nämlich keine Kinder mehr in dem Alter. Für die Kinder ist es jedenfalls ein Riesenschock, wenn sie da ein drittes Jahr hocken. Ich habe meinen Kindern das alles erklärt, ganz freundlich, ich habe ihnen gesagt, man kann 1 oder 2 oder 3 Jahre bleiben. Neulich sagte dann ein Zweitklässler: "Der P. ist schon 3 Jahre hier, der ist sitzen geblieben." Ich bin nur froh, dass P. in diesem neuen Jahrgang im oberen Mittelfeld ist, denn so bleibt ihm die Anerkennung der Leistungen, er hilft gern, er ist motiviert und wird sicher auch im nächsten Jahr mit relativ guten Noten in die 3. Klasse starten. Was aber bedeutet das für Kinder, die auch im 3. Jahr noch sehr große Probleme haben? Das ist Folter. Egal wie ich versuche auf die Klasse einzuwirken. Alles kann ich nicht ausbügeln.
Die Erstklässler sind ein "guter Jahrgang", sicher wirken da auch die verbesserten Bildungspläne der Kitas, denn es berichten auch andere Schulen davon. Von meinen Erstklässlern arbeiten 2/3 selbstständig, ausdauernd, leise, konzentriert und effektiv im Wochenplan.
Nachteil: Sie kneten, puzzlen, schreiben, malen die Buchstaben - aber dafür ist es ziemlich egal, wie die Buchstaben heißen. Für die Buchstaben-Hör-Karte muss man ja nur mal nachschaun, wie der Buchstabe heißt. Das bisherige tägliche Wiederholen der Buchstaben-Lautzurordnung würde auf Kosten der Zweitklässler gehen. Und somit haben die meisten Erstklässler Schwächen in der Laut-Buchstabenzuordnung.
Im Gegenzug können manche Erstklässler nun schon sicher Beispiele für Nomen und Verben finden und sind damit den Zweitklässlern in diesem Bereich auch voraus. Hinzu kommt, dass die ersten Erstklässler bald mehr Sicherheit im Rechnen der Grundaufgaben haben werden als einige Zweitklässler. Der beste Leser der Klasse ist übrigens ein Erstklässler.
Das alles bleibt nicht ohne Wirkungen auf die Zweitklässler, denn die haben sich ja sicher gefühlt in ihrer Rolle als Ältere, Bessere, Helfer. Und nun sind einige das nicht mehr. Da kann ich mit den Kindern sonstwas bereden über Differenzierung und lieb erklären und was weiß ich. Sie sehen es trotzdem jeden Tag.
Politisch wunschgemäßer Vorschlag wäre demnach:
In 2 Jahren eine neue Studie für Viertklässler durchführen, feststellen wie schlecht die sind. In 3 Jahren Studie wiederholen - und holla, die Mecker und Betrübnis hat gefruchtet, die Schüler sind schon viel besser geworden.
Diese deutliche Verbesserung kann man dann in einem Lied auf - kostensparendes, da unter Wegfall bestimmter sonderpädagogischer Förderung statt findendes - jahrgangsübergreifendes Lernen lobpreisen und die Politiker können sich selber auf die Schulter klopfen.
Conni
PS: Auch an unserer Schule ist Leseleistung von sozialen Faktoren abhängig. Es gab da mal eine Studie vor einigen Jahren. Da wurde festgestellt: Basis für Lesekompetenz wird im Vorschulalter in der Familie gelegt. Lesende Eltern haben lesende Kinder. Die Schule kann weiteres Lesematerial anbieten, Lesemöglichkeiten bieten. Aber: Kinder lesender Eltern haben schon zu Schulbeginn mehr Ideen davon, was ein Buch ist und wozu man es braucht oder warum Lesen Spaß macht. Sie bekommen dann Weihnachten im 1. Schuljahr die ersten Bücher (oder schon vorher?) und dann lesen sie, allein, mit Hilfe etc. Je besser sie lesen, desto mehr und lieber lesen sie, das verstärkt sich bei vielen Kindern selber. Auch bei Kindern, die nicht gerne Belletristik mögen, wenn sie Zugang zu altersgemäßer Sachliteratur, Comics etc. bekommen.
Kinder, deren Eltern nicht lesen, müssen erstmal an Bücher herangeführt werden in Kita und Schule. Ihnen muss vermittelt werden, dass Lesen Spaß macht. Sie haben die Zeit in der Schule zur Verfügung - und unter sehr günstigen Bedingungen übt vielleicht jemand zu Hause mit ihnen. Oder man kann die Eltern von einem Bibliotheksausweis oder einem Buch zu Weihnachten überzeugen. Die meisten Eltern werden aber auch nach Schuleintritt nicht zu einem lesenden Vorbild. Und Eltern haben auf die meisten Grundschulkinder die größte Vorbildwirkung.
Wenn sie Pech haben, bekommen sie nie ein Buch, haben auch die Eltern nie ein Buch und wird der Bibliotheksausweis schnell abgeschafft, weil er "Geld kostet" - nämlich dann, wenn man Abgabetermine vergisst oder Bücher verschlampt.
Und wenn sie noch größeres Pech haben, dann haben sie nicht mal ein Schulbrot, etwas zu trinken, ein warmes Mittagessen, passende Schuhe oder ein Elternteil, das sich ihrer annimmt. Und dann ist Lesen eins von den Dingen, die kaum noch eine Rolle im Leben dieser Kinder spielen.
Und da immer mehr Bibliotheken schließen sollen, sehe ich da in Zukunft auch keine besseren Zeiten.
Aber schön, wenn man der Schule sagen kann, dass sie bestimmte soziale Schichten benachteiligt.