Und ohne jetzt objektiv belastbares Material zu haben, scheint Frankreich schon mehr Probleme mit religiösem Fundamentalismus zu haben. Ob das
a) stimmt
b) am Laizismus liegt
c) an der kolonialen Vergangenheit liegt
kann ich nicht beurteilen.
Frankreich hat auf jeden Fall selbst verursachte Probleme durch die eigene koloniale Vergangenheit, die bis heute in Form von Ausgrenzung in die frz.Gesellschaft hineinwirkt. Darüber hinaus fehlt an einigen Stellen die Bereitschaft die eigene Geschichte und historische Verantwortung selbstkritisch aufzuarbeiten, was eine Möglichkeit wäre sich auch mit vergangenem Rassismus, Kolonialismus oder auch Antisemitismus und daraus folgendem Unrecht auseinanderzusetzen.
Ich habe vor etwa zwei Jahren einen Blick in ein in ganz Frankreich verwendetes Geschichtsbuch der Mittelstufe geworfen: Während der 2.Weltkrieg sehr ausführlich behandelt wurde, die Resistance einen großen Teil- mehrere Seiten- eingenommen hat, wurde die deutlich verbreitetere Kollaboration mit den Deutschen auf etwa einer Viertelseite dargestellt (Widerspruch zu frz.Selbstverständnis), französische Kriegsverbrechen und Kriegsverbrecher wurden komplett tot geschwiegen. Leute wie Papon konnten dabei auch nach dem Krieg ihr Unwesen fortsetzen und während des Algerienkriges erneut Unrecht begehen, ein Touvier konnte u.a. mit Unterstützung der katholischen Kirche und der frz.Polizei bis in die 80er Jahre versteckt in Frankreich leben, ehe ihm dank des jahrzentelangen Engagements der Klarsfeds endlich doch noch der Prozess gemacht wurde. Auch der Algerienkrieg wurde sehr unkritisch und unter Beschönigung der eigenen historischen Rolle dargestellt.
Eine Gesellschaft die eigenes Unrecht nicht anerkennt und die eigene Historie glorifiziert, beraubt sich selbst der Chance dazulernen zu können.
Mit der kolonialen Vergangenheit einher gehen Probleme mit Arbeitskräften aus ehemaligen Kolonien die lange marginalisiert wurden, die Bildung ghettoartiger Banlieus, die vor dem Hintergrund des an vielen Stellen sehr elitären und hierarchischen frz.Bildungssystems enorme Auswirkungen auf die Stabilisierung von Ungleichheiten haben (kennen wir doch in Deutschland auch). Eine Adresse in einem Banlieu senkt erwiesenermaßen und notenunabhängig die Wahrscheinlichkeit eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch zu erhalten.
Religion wird vor dem Hintergrund kostant erlebter Ausgrenzung oft zu einem wichtigen verbindenden Faktor und einem Weg sich, wenn man doch sowieso nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft sein kann, selbst abzugrenzen und zu definieren, wer man stattdessen sein möchte. Das ist ja auch in Deutschland ein sehr mächtiger Wirkmechanismus gerade unter ehemaligen Gastarbeiterfamilien: Viele meiner früheren Schützlinge- in D geboren und aufgewachsen, selbst nur dt.Pass, Eltern und Großeltern auch nur dt.Pass- bezeichnen sich inzwischen dennoch der Einfachheit halber als Türken (und obwohl sie umgekehrt in der Türkei "die Deutschen" sind), dass sie Deutsche sind wird einfach konstant in Zweifel gezogen. Mädchen in bestimmten Familien beginnen bereits mit 10 Jahren das Kopftuch zu tragen, während ihre eigenen Mütter sich oft erst mit Anfang 20 für das Tragen des Kopftuchs entschieden hatten.
In einer laizistischen Mehrheitsgesellschaft ist eine entsprechend offensive Religionsausübung eine Möglichkeit Selbstabgrenzung zum Politikum zu machen. Dafür reicht es mit Kopftuch in die Schule zu gehen oder mit Burkini an bestimmte öffentliche Strände in Frankreich: Wenig Einsatz, große Wirkung inklusive lautem Beifall entsprechender Kreise. Mit Religiosität hat das meiner ganz persönlichen Auffassung nach nur sehr wenig bzw.in den seltensten Fällen zu tun, sondern vor allem mit Macht und Politik.