Aber wie geht das konkret? Beispiel Mathematik-Abitur: Werden direkt vor der Klausur Hinweise gegeben? Die Ergebnisse oder Zwischenergebnisse vorgegeben, so dass nur noch ein Weg dorthin gefunden werden muss? Wird auch auf "fast Richtiges" die volle Punktzahl vergeben? Werden kleine Fehler großzügig übersehen? Gibt es schon ab 80 Prozent eine 1, oder mit 60 Prozent eine 2? Oder sind doch die Aufgabenstellungen heue einfacher als früher? Oder haben die 1,0er-Abiturientinnen als Schwerpunkte vorzugsweise weiche Fächer wie Sprachen? Und falls auf irgendeine Weise großzügig korrigiert wird: Warum? Von wem kommt die konkrete Vorgabe dazu in welcher Form?
Wenn ich das so bei meinen Töchtern sehe und mich erinnere, wie es bei mir gewesen ist, zeigt sich oft, dass dieselbe Aufgabe seinerzeit - ohne Internet, ohne Erklärvideos, ohne sofort abrufbare Musterlösungen, Foren, Wikipedia usw. - schwieriger gewesen ist, als sie heutzutage ist.
Damals hatte man zum Üben nur das Buch - in der Regel ohne Lösungen. Manchmal noch die Hilfe der Eltern. Heute schaut der Schüler, der im Unterricht geschlafen hat, feststellt, dass er nicht weiß, wie die Hausaufgabe geht, einfach ein Youtube-Video.
Bei Fremdsprachen ist offensichtlich, dass durch die Allgegenwärtigkeit vor allem von Englisch, aber auch von anderen europäischen Fremdsprachen, heute bei vielen Schülern ein höheres Niveau erreichbar ist als früher. Bei allem Lamentieren über das sinkende Niveau wird ja ausgeblendet, dass das Niveau in der Fremdsprachenkenntnis besonders bei den Englischkenntnissen gestiegen ist.
In Deutsch kann man gängige Interpretationen aller klassischen Werke bei Wikipedia nachlesen. Auch wir wussten ungefähr, welcher Autor drankommen könnte und auch bei den Werken gab es Hauptverdächtige. Deshalb kannten wir die geforderte Interpretation noch lange nicht. Wir schrieben, was uns in den Sinn kam, und hofften, dass es dem Lehrer gefiel.
Selbst auf der Universität gilt das: Wenn der Mathe/Physikstudent früher eine Übungsaufgabe kriegte:
Wogegen konvergiert \sqrt{\frac{1}{x^2} + \frac{1}{x}} - \frac{1}{x}
für x -> 0 (von rechts und von links, kommt etwas unterschiedliches raus)
dann musste der Student rumrechnen, bis er das rausgekriegt hat. Man konnte in Büchern suchen, aber das hatte meist keinen Erfolg. In der Regel stand man mit der Aufgabe allein.
Heute gibt der Student das ganze erst mal bei Wolfram Alpha ein, schaut sich den Graphen an und dann muss er lästiger Weise doch noch selbst denken, weil er ja begründen muss, warum der Graph so aussieht und der Grenzwert sich so darstellt. Trotzdem ist die Aufgabe einfacher geworden - auch wenn sie gleich geblieben ist.
Natürlich hat der Schüler diese Quellen nicht in der Prüfung zur Verfügung, aber er hat viel, viel mehr Ressourcen für seine Vorbereitung. Und das ermöglicht bessere Leistungen. Insgesamt führt es dazu, dass sich die Niveauunterschiede zwischen den Schülern spreizen: Einige machen nichts als wozu sie der Lehrer zwingt, andere brauchen eigentlich keinen Lehrer mehr.