Ich kann leider nicht viel Konkretes aus der Praxis beitragen. Ich bin nicht im Anfangsunterricht und sowieso an einer Schulform, an der sowas vermutlich nicht vorkommen dürfte (auch wenn ein sehr großer Teil meiner SchülerInnen es bräuchte).
Von solchen "vereinfachten" Texten habe ich zum ersten Mal im Studium etwas mitbekommen, als ich merkte, dass mein Nachhilfekind (Gesamtschule, Realschul- oder Gymkurs, ich weiß es gerade nicht mehr) "Kleider machen Leute" im Unterricht las und die Lehrerin die vereinfachte Fassung hatte kaufen lassen. Ich fand es für mich auch ziemlich praktisch, kannte das Werk vorher nicht und ich war an diese Deutsch-Nachhilfe nur gekommen, weil ich bei dem eh schon Französisch hatte. Schnell merkte ich aber (ich hatte mir "aus Versehen" die richtige Fassung gekauft, gelesen und mitgenommen), dass es zwar einfacher war, aber dass viele Sachen, die man im Unterricht hätte behandeln können (Sprache) nicht mehr möglich waren.
Mein Nachhilfekind war schon mit der Fassung total überfordert und genervt, dass er überhaupt was lesen musste (fauler, sehr lesefauler 8-Klässler), war also sich nicht mal dessen bewusst, dass er eigentlich einen veränderten Text hatte.
Gut, da ich vom Gym / Gesamtschule komme, weiß ich tatsächlich gar nicht, wie es ist, mit HauptschülerInnen zu arbeiten und literarische Texte mit ihnen durchzunehmen. Ich sehe aber, dass wir überhaupt selbst kaum Klassiker noch behandeln und wir relativ froh (bzw. ich relativ froh bin), wenn wir Dürrenmatt in der 9 und oder 10 behandeln. So eine Ganzschrift im Schuljahr. Umso schwieriger fällt natürlich der Umstieg, wenn sie in der 11/Q1 in den Herbstferien Faust lesen müssen. und verstehen sollen.
Ich verfolge das auch auf der anderen Rheinseite.
Das passé simple, womöglich ein alter Feind im Französisch-LK oder guten GK vor noch 10 Jahren, existiert nicht mehr. In Deutschland haben wir zwar auch die Vorgabe, dass die SchülerInnen ihn erkennen sollen, wenn er auftaucht, aber ihn nicht bilden können müssen, aber wir sind ja die Auslandsromanistik.
Im muttersprachlichen Französischunterricht ist das passé simple aus den Curricula gestrichen worden. Ich mag spiessig und sprachkonservativ erscheinen, ich habe 1000 passé simple-Formen hin- und herrezitiert (genauso wie alle Subjonctifformen... ), aber ich finde es gefährlich. Wer diese Formen nicht kennt, kann keine Literatur vor 1950 lesen, da wimmelt es davon. und selbst die aktuellen Autoren benutzen die Form, sie gehört nunmal zur gebildeten Sprache.
In unseren Deutsch-Förderkursen (Quatsch! in unserem Deutsch-Unterricht) machen wir jede Woche die Erfahrung, dass ein nicht kleiner Teil unserer SchülerInnen am Wochenende "einen Freund (an)rufte" und "Bälle werfte"... Dass die dann keine Texte lesen und verstehen können, ist klar. Dann können sie natürlich keinen Konjunktiv bilden, usw...
ICH bin der Meinung, dass man an Herausforderungen wächst und dass SchülerInnen also lieber 2-3 mal über unbekannte Formen stolpern sollen, damit sie sie kennenlernen. Ich weiß sonst nicht, WANN der Umstieg auf "reale" Texte geschehen soll.
Ich bin mir allerdings auch dessen bewusst, dass ich mit meiner eigenen lesefreudigen, gymnasialtypischen Biographie (ich hatte mit Übergang in die Mittelstufe/6. Klasse die komplette Kinder- UND Jugendabteilung unserer städtischen Bibliothek leer gelesen, am Ende der 6. Klasse hatte ich 2/3 aller Bücher der Schulbibliothek gelesen) wenig Ahnung habe, wie ich schwache, uninteressierte ErstleserInnen zum Lesen animiere.