Einheitsschule - das Allheilmittel?

  • Zitat

    Original von Helen
    Ich wage abschließend die Behauptung, dass ein optimal gestaltetes, gegliedertes Bildungssystem mit einer wissens- und leistungsorientierten Pädagogik, welche der Institution Schule und dem Lehrer die Autorität, bzw. den Respektsanspruch, gewährt, welcher für ein erfolgreiches Bildungs-und Erziehungshandeln im schulischen Kontext m. E. notwendig ist, "leistungsfähiger" ist als das finnische Modell!
    Helen


    Zu kurz gegriffen:
    Es gibt kein irgendwie autonomes Subsystem "Bildung" innerhalb einer Gesellschaft. Wir haben in Deutschland nicht nur keinen bildungspolitischen, sonderen wir haben erst recht keinen gesellschaftspolitischen Konsens darüber, was Bildung überhaupt ist und wozu man sie braucht!


    Dank unseres umfassenden Sozialstaates gibt es für viele Individueen auch keine Motivation, sich (weiter-) zu bilden (Pädagogoen würden hier von fehlender extrinsischer Motivation sprechen). Man könnte fast sagen, "der Gebildete ist der Dumme", da er 1. länger auf Erwerbseinkommen verzichtet als der (relativ) Ungebildete und 2. dafür anschließend mit höherer Steuern und Sozialabgaben bestraft wird (während es für viele Ungebildete dank der Transferleistungen genau umgekehrt ist). Wer das nicht glaubt, der schaue sich an, wer aus Deutschland auswandert und wer einwandert.


    Wer glaubt, dass "Abitur für alle" da irgendwas dran ändert, dem ist m.E. nicht mehr zu helfen...


    Gruß !

    Mikael - Experte für das Lehren und Lernen

  • Ein noch so gebildeter Überbau mit stakkatohaftem Namedropping kann nicht zwei grundlegende Probleme kaschieren:


    1.) Wer anderen vorwirft, das Bildungssystem zuförderst ideologisch zu betrachten, sollte einmal die eigene Argumentation überdenken. Die Idee, dass überkommene Strukturen erhalten bzw. zumindest ihre Grundidee für gut geheißen und gepflegt wird, ist eine konservative.
    2.) Demgegenüber stehen die Fakten und meine liberale Idee: Die Gesellschaft hat sich seit den 60igern grundlegend verändert. In den 50igern/60igern war der Zugang zu höherer Bildung weniger leistungsmäßig als noch stärker sozial limitiert. Dazu kam ein eher autoritäres Erziehungsbild, das Minderleistung und Nichtbefolgung notfalls mit dem Rohrstock bestraft hat. Selbst wenn wir die Schraube zurückdrehen wollten, kommt ein weiterer Faktor ins Spiel: Wir brauchen insgesamt weniger Absolventen mit HS- und mehr mit FSHR/HSR-Abschluss. Auch wenn ich die vorgegebenen Zahlen für übertrieben halte (nicht berücksichtigt wird z.B. die Technikerausbildung, die so manchen Bachelor anderer Länder locker in die Tasche steckt), sind die Signale aus der Industrie eindeutig: Wir brauchen insgesamt besser ausgebildete Bewerber und insgesamt mehr Hochschulabsolventen. Als Liberaler sage ich, dass die veränderten gesellschaftlichen Strukturen auch Veränderungen im Bildungssystem hervorrufen müssen.


    Für mich gibt es in dem Sinne auch keine Krise der Hauptschule, sondern des Hauptschulabschlusses, dessen Stellenwert gegen Null tendiert. Denn schon heute vermitteln viele Hauptschulen (Stichwort z.B. Werkrealschule) ihren besseren Schülern die Mittlere Reife. Das bedeutet aber in der Umkehrung, dass wir kaum noch leistungsfähige Absolventen mit dem HS-Abschluss haben. Gleichzeitig sehen sich diese Abgänger der Tatsache gegenübergestellt, dass sie in einer globalisierten Wirtschaft kaum mehr Positionen erreichen können, die mit einem vernünftigen Auskommen verbunden sind. Wen wundert, dass diese Menschen schwer intrinsische Motivation entwickeln. Ich frage mich nun, wie hier ein Modell eines überkommenen Schulsystems helfen soll.

    Meine Schlussfolgerung: Bevor wir nun mit didaktischen Modellen um uns werfen, sollten wir erst einmal die Anforderungen klar machen und dann weiter diskutieren. Es kann ja nicht sein, dass die gesellschaftlichen Parameter an didaktische Modelle angepasst werden müssen.

    Und der Mann spürte das Wissen bis an die Haarspitzen, als ihm das Konversationslexikon auf den Kopf fiel. (Uli Keuler)

    2 Mal editiert, zuletzt von Nicht_wissen_macht_auch_nic ()

  • @Nicht_wissen_....


    Zitat

    Original von Nicht_wissen_macht_auch_nic


    Wer anderen vorwirft, das Bildungssystem zuförderst ideologisch zu betrachten, sollte einmal die eigene Argumentation überdenken. Die Idee, dass überkommene Strukturen erhalten bzw. zumindest ihre Grundidee für gut geheißen und gepflegt wird, ist eine konservative.


    Die Bildungsreformen der 60er und 70er sind ohne Ausnahme gescheitert. Die Idee, sich an den Status zu erinnern, als unser Bildungssystem nachweislich noch hervorragend funktionierte, ist weder konservativ noch progressiv, es ist eine Frage der politischen Vernunft und des gesunden Menschenverstandes.


    Woran ist erkennbar, dass die Bildungsreformen der 60er und 70er allesamt gescheitert sind? Hier schlagwortartig eine Zusammenstellung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:


    PISA bescheinigt dem deutschen Bildungssystem heute höchstens eine mittelmäßige Qualität.
    Ca. 20 % der 15-jährigen Jugendlichen gehören zur Risikogruppe. Es sind faktisch funktionale Analphabeten.


    80.000 Schulabgänger sind ausbildungsunfähig.


    Das Ziel der „Chancengleichheit“ durch die Einführung der Einheitsbildung (stufenorientiertes Bildungswesen auf Basis der Einheitsschule in allen Varianten samt sozialistisch-hedonistischer Klafki-Pädagogik) ist bis heute nicht erreicht worden und es spricht auch nichts dafür, dass dieses Ziel mit dem gewählten Ansatz erreicht werden kann; vgl. Helmut Fend in DIE ZEIT http://www.zeit.de/2008/02/C-Enttäuschung


    Die Oberstufenreform - Kollegsystem, Saarbrücker Rahmenvereinbarung 1960 - ist gescheitert und musste in wesentlichen Teilen revidiert werden (Einführung des Kerncurriculums Oberstufe).


    Die Stufenorientierung - Aufspaltung der Volksschule in Grund- und Hauptschule, Hamburger Abkommen 1964 - ist gescheitert: Die Hauptschule wird wieder abgeschafft. Die pädagogisch-didaktische Differenz - „Sekundarstufenschock“ - belastet die Eingangsklassen von Realschulen und Gymnasien.


    Das hedonistische Leistungsprinzip ist gescheitert. Seit 2004 sollen Bildungsstandards wieder Leistungsmäßstäbe setzen. Das Zentralabitur kommt.


    Das Prinzip der Binnendifferenzierung in heterogenen Klassen führt zur Chancenungleichheit der Leistungsstarken (Berliner Grundschulstudie http://www.zeit.de/2008/17/Interview-Lehmann).


    Das Prinzip des autoritätslosen Lehrers -„Lehrer als Moderator“ - ist gescheitert. Das soziale Klima an den Schulen ist geprägt durch die Angst der Lehrer vor den Schülern und deren Eltern (Prinzip Rütli-Schule, Potsdamer Belastungsstudie - Burnout-Syndrom).


    Die Hochschulreformen sind insgesamt gescheitert. Die Gesamthochschulen wurden allesamt wieder rückgebaut. Allerdings blieb das (destruktive) Managementprinzip der Gruppenuniversität weitgehend erhalten.


    Das Ziel der „Produktion“ von mehr gut ausgebildeten Hochschulabsolventen wurde nicht erreicht. Die Studienabbrecherquote beträgt ca. 30%.



    Zitat


    Es kann ja nicht sein, dass die gesellschaftlichen Parameter an didaktische Modelle angepasst werden müssen.


    Dieser Feststellung kann ich nur zustimmen. Doch: Die Anpassung der gesellschaftlichen Parameter an - bzw. durch - die egalitäre Einheitsschule samt ihrer didaktischen Konzeption ist genau das erklärte Ziel: Vermeintlich oder wahrhaftig Leistungsschwache kommen, ohne Rücksicht auf Verluste, in den fragwürdigen Genuss immateriellen Sozialtransfers zu Lasten der Leistungsstarken.


    Das egalitäre Bildungswesen dient der soziostrukturellen Transformation der Gesellschaft hin zu einer egalitären nach schulischem Vorbild: Der schulische Raum ist der soziale Raum, in dem die (geplante) Gesellschaft von morgen herangezogen und praktiziert wird. Diese antiquierte, linkskonservative bildungsplanwirtschaftliche Idee ist offensichtlich kläglich gescheitert, sowie die Utopie des realen planwirtschaftlichen Sozialismus' wohl insgesamt als gescheitert angesehen werden muss.


    Helen

  • Zitat

    Original von Helen
    @Nicht_wissen_....



    Die Bildungsreformen der 60er und 70er sind ohne Ausnahme gescheitert. Die Idee, sich an den Status zu erinnern, als unser Bildungssystem nachweislich noch hervorragend funktionierte, ist weder konservativ noch progressiv, es ist eine Frage der politischen Vernunft und des gesunden Menschenverstandes.


    Das ist ein induktiver Fehlschluss. Nur weil - da gebe ich Ihnen in gar nicht wenigen Teilen Recht - Reformen gescheitert sind, sind sie noch lange nicht logisch falsch. Immerhin hat die Reform des Bildungssystemes in der sozialliberalen Zeit den Output an Schulabgängern erhöht und die Zahl der Studienplätze stark vergrößert! Ihr überkommenes Schulsystem bietet keine Antwort, wie man in der Breite mehr Menschen zu höheren Bildungsabschlüssen führt.



    Sie denken mir zu stark polarisiert. Wir in der süddeutschen Schiene können vieles, was Sie hier als Kritik schildern, nicht auf uns beziehen. Sie würden wahrscheinlich sagen, dass das an dem prinzipiellen Festhalten der ursprüngliche Dreigliedrigkeit liegt (und es noch viel besser wäre, wenn wir zum Ursprungsprinzip zurückkehren), ich behaupte, dass es die Mischung aus Bewahrung der Dreigliedrigkeit und maßvollen Reformen ist.
    Ich kann auch nicht erkennen, dass moderne pädagogische Konzepte in Bezug auf mehr Schüler- und Projektorientierung gescheitert sind. Nur wenn sie als Fetisch betrieben und nicht mit Bewährtem gemischt werden, kommt es zu den von Ihnen geschilderten Auswüchsen. Die Rückkehr zum Frontalunterricht ist jedenfalls contraproduktiv.


    Ein Beispiel:
    Früher bekam ein Auszubildender als "Gesellenstück" eine Aufgabe in einem Zeitraum von wenigen Tagen, ein (völlig nutzloses) Gesellenstück herzustellen. Heute muss sich der angehende Facharbeiter aus dem Produktionsprozess einen Schritt selbständig heraussuchen, den er optimieren will. Der Prozess wird nicht mehr durch die Prüfung begleitet, sondern der Azubi präsentiert vor dem Prüfungsausschuss sein Ergebnis. Wie man mit überkommenen Unterrichtsmethoden die nötigen Kompetenzen dazu fördern will, bleibt mir schleierhaft. [Für die Experten: Diese Art der Prüfung ist gerade am Anlaufen in größeren Unternehmen]. Ähnlich wird es Ihnen beim Betrachten der meisten Studienpläne ergehen; das Projekthafte hat inzwischen einen gewichtigen Anteil bereits vor der Diplomarbeit oder Bachelor/Master-Thesis.


    Wenn wir über die Erfordernisse modernen Unterrichts und adäquater Schulformen sprechen, dann sollten wir uns einfach einmal genau anschauen, was von unseren Absolventen erwartet wird. Ich habe aber sehr oft das Gefühl, dass sich Lehrer zu schade sind, einfach Vorbereiter für weiterführende Schulformen oder das berufliche Leben/Studium zu sein. Natürlich dürfen wir im besten humanistischen Sinne nicht vergessen, auch eine breites Wissen (Allgemeinbildung) zu vermitteln, aber wir sollten unseren Schülern helfen, im späteren Leben mit Erfolg zu bestehen.


    Zitat


    Dieser Feststellung kann ich nur zustimmen. Doch: Die Anpassung der gesellschaftlichen Parameter an - bzw. durch - die egalitäre Einheitsschule samt ihrer didaktischen Konzeption ist genau das erklärte Ziel: Vermeintlich oder wahrhaftig Leistungsschwache kommen, ohne Rücksicht auf Verluste, in den fragwürdigen Genuss immateriellen Sozialtransfers zu Lasten der Leistungsstarken.


    Das egalitäre Bildungswesen dient der soziostrukturellen Transformation der Gesellschaft hin zu einer egalitären nach schulischem Vorbild: Der schulische Raum ist der soziale Raum, in dem die (geplante) Gesellschaft von morgen herangezogen und praktiziert wird. Diese antiquierte, linkskonservative bildungsplanwirtschaftliche Idee ist offensichtlich kläglich gescheitert, sowie die Utopie des realen planwirtschaftlichen Sozialismus' wohl insgesamt als gescheitert angesehen werden muss.


    Helen


    Wie gesagt, das ist mir wieder zu undifferenziert. Auch eine Einheitsschule kann prinzipiell nach Leistung trennen und/oder fördern. Nur müssen dazu Schüler einfach EXTRA betreut werden - und zwar sowohl die schlechteren als auch die besseren. Ob das nun kaschiert wie in Finnland im Klassenverband und durch Stützunterricht stattfindet oder man nach Leistungsniveau differenzierte Klassen einrichtet, halte ich für zweitrangig. Der Vorteil einer "Gemeinschaftsschule" ist das Sichbegegnen unterschiedlicher Leistungs- und gesellschaftlicher Niveaus sowie der administrativen und lokalen Einheit, die Wechsel zwischen den Niveaus erleichtert. Deshalb bin ich auch ein dezidierter Befürworter des kooperativen Gesamtschulprinzips, das ich am eigenen Leib als Referendar erfahren habe.


    Im Übrigen halte ich den egalitären Gedanken überhaupt nicht für linkskonservativ, sondern für linksprogressiv. Das linkskonservative Milieu ist viel stärker leistungsorientiert, als Sie das glauben. Setzen sie sich mal mit den alten Haudegen der Linken zusammen, die durch Leistung auf der Arbeit (und in der Partei) etwas erreicht haben und die alten Zeiten und den Arbeiterstolz gerne wieder zurück hätten.


    Zuletzt würde mich schon sehr Ihr gesellschaftliches Modell interessieren. Wann sind denn Transfers für Schwache erlaubt? Ich halte es mit Ralws, dass jeder mit gleichen Fähigkeiten die gleiche Chance auf Positionen und Ämter haben muss. Dazu muss logischerweise umverteilt werden, denn sozial Schwächere haben bei gleichen Fähigkeiten schlechtere Chancen als die ökonomisch Bessergestellten. Das schließt aber aus, dass Sozialschwache z.B. in Positionen gehieft werden, für die sie nicht die Fähigkeit haben. Ich glaube, in sofern teilen wir die Kritik an der Egalisierung.

    Und der Mann spürte das Wissen bis an die Haarspitzen, als ihm das Konversationslexikon auf den Kopf fiel. (Uli Keuler)

    Einmal editiert, zuletzt von Nicht_wissen_macht_auch_nic ()

  • @Nicht_wissen_....


    Zitat

    Original von Nicht_wissen_macht_auch_nic


    Das ist ein induktiver Fehlschluss. Nur weil - da gebe ich Ihnen in gar nicht wenigen Teilen Recht - Reformen gescheitert sind, sind sie noch lange nicht logisch falsch. Immerhin hat die Reform des Bildungssystemes in der sozialliberalen Zeit den Output an Schulabgängern erhöht und die Zahl der Studienplätze stark vergrößert! Ihr überkommenes Schulsystem bietet keine Antwort, wie man in der Breite mehr Menschen zu höheren Bildungsabschlüssen führt.


    Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen, sei der Hinweis erlaubt, dass ich es als sehr mutig empfinde, das Scheitern wesentlicher Teilreformen unseres Bildungssystems nach 1960, welche alle dem Ziel der Einheitsbildung geschuldet waren, nicht zum Ausgangpunkt von Überlegungen zu nehmen, wie das bestehende Desaster beendet werden könne. Der Mut besteht einerseits darin, dass der (höchstwahrscheinlich) bestehende kausale Zusammenhang schlichtweg bestritten wird, obwohl hier m. E. ein zielführender induktiver Teilschluss zulässig wäre. Der Mut besteht aber auch darin, dass die gescheiterten Reformen an sich nicht dieser logischen Betrachtung unterzogen wurden noch werden. Es wäre dann zu beweisen (und nicht nur zu behaupten), dass das deutsche System der Einheitsbildung (mit neo-reformistischem Pädagogikansatz nach Klafki & Co.) qualitativ besser war und ist als das (ehemals) gegliederte System (im PISA-Sinne) und dass ein Einheitsbildungssystem deutscher Art soziostrukturelle Ungleichheiten einebnet. Eine Beweisführung mittels Beispielen (Pseudo-Schulversuche wie Bielefeld, Leuchtturmschulen wie Helene-Lange-Schule, Vergleiche mit den Schulsystemen von PISA-Siegern, etc.) wären allein deshalb schon unzulässig, da auch hier der induktive Fehlschluss vorläge.


    Wie auch immer, es wird keinen geschlossenen deduktiven Beweis für das richtige Bildungssystem geben. Wir sind immer auf den heuristischen Ansatz angewiesen. Wobei letzterer allerdings die Erfahrungen der Vergangenheit berücksichtigen sollte, um nicht nach der „Logik des Misslingens“ zu scheitern. Allein deshalb plädierte ich in meinen obigen Ausführungen an die politische Vernunft und den gesunden Menschenverstand.


    Helen

  • Zitat

    Original von Helen


    Ich möchte einen Gesichtspunkt hinzufügen: Das Kultursystem ist konstituierend für eine Gesellschaft. Das Bildungssystem ist (im Sinne Parsons’/Luhmanns) integraler Teil des Kultursystems einer Gesellschaft.


    Wer "Luhmann" sagt und dann a) behauptet, es gäbe so etwas wie ein Kultursystem, hat vermutlich sehr sehr wenig Luhmann gelesen: Für Luhmann ist der Kulturbegriff einer "der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind" (Luhmann 1995, Kultur und Gesellschaft, S. 398 ).


    Gleichzeitig mögen Systeme vieles sein (vor allem *sind* sie zunächst einmal nach Luhmanns Theorie), aber b) ganz bestimmt nicht integrale Bestandteile voneinander. Basal für die Systemtheorie ist ja gerade, dass es kein ausgezeichnetes System gibt, das als "konstituierend" für Gesellschaft angesehen werden könnte. Wie sollte man sich das auch vorstellen? Die kleinen Menschen, die aus dem Bildungssystem hinausgespukt werden konstituieren dann die jeweils aktuelle Gesellschaft? Wenn man schon "Habermas" meint, sollte man das auch sagen.


    Und ich dachte schon, hier würde jemand mitdiskutieren, die einigermaßen weiß, wovon sie redet ?(


    Nicht umsonst scheint es Luhmann insbesondere Schwierigkeiten gemacht zu haben das Erziehungsystem in seine Theorie zu integrieren. Zumindest scheint er im Vergleich zu den "Reflexionsproblemen" in seinem "Erziehungsystem der Gesellschaft" (das leider an wesentlichen Stellen unvollendet geblieben ist und von Dieter Lenzen, wie mir scheint, eher mit dem Holzhammer redigiert wurde) so manche 180 Grad-Drehung vollzogen zu haben.


    Nach Luhmann (vor Erzs. d. Gesell.) leistet das pädagogische Establishment insbesondere Zweierlei: Aushecken neuer Reformen und das Vergessen des Scheiterens vorangehender Reformen.


    ambrador

  • Warum sollte unser Schulsystem vor den 1960er Jahren "funktionert" haben? Die nachfolgenden Reformen verdanken sich doch gerade einem gesellschaftlichem Konsens über die von Georg Picht proklamierte deutsche Bildungskatastrophe (lustigerweise vergleicht Picht die deutsche Situation mit dem Bildungswunderland: Frankreich(!)).


    Zitat


    PISA bescheinigt dem deutschen Bildungssystem heute höchstens eine mittelmäßige Qualität.
    Ca. 20 % der 15-jährigen Jugendlichen gehören zur Risikogruppe. Es sind faktisch funktionale Analphabeten.


    Die aktuelle Diskussion zeigt, das der Begriff der "Risikogruppe" nicht überzubewerten ist (http://www.zeit.de/2008/21/C-Bildungsforschung)


    Zitat


    80.000 Schulabgänger sind ausbildungsunfähig.


    Dazu gibt es ganz ganz viel Gejammer aus unberufenem Munde und keine einzige Studie. Zurzeit ist allerdings eine Art "Berufseinstiegs-PISA" geplant. Vorher müssen wir uns wohl wirklich auf die "Tests" bei RTL und PRO7 verlassen.


    Zitat


    Das Ziel der „Chancengleichheit“ durch die Einführung der Einheitsbildung (stufenorientiertes Bildungswesen auf Basis der Einheitsschule in allen Varianten samt sozialistisch-hedonistischer Klafki-Pädagogik) ist bis heute nicht erreicht worden und es spricht auch nichts dafür, dass dieses Ziel mit dem gewählten Ansatz erreicht werden kann; vgl. Helmut Fend in DIE ZEIT http://www.zeit.de/2008/02/C-Enttäuschung


    In der Bildungsforschung wird seit mindestens 20 Jahren davon ausgegangen, dass Disparitäten in der Bildungsbeteiligung vor allen Dingen auf *Selbst*selektionsmechanismen innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe zurückzuführen sind (Bourdieu & Passeron, Boudon). Systemänderungen können deswegen an den feststellbaren Ungleichverhältnissen bei der Bildungsbeteiligung und bei dem Erreichen von Ausbildungszertifikaten nur sehr bedingt etwas ändern.


    Zitat


    Die Stufenorientierung - Aufspaltung der Volksschule in Grund- und Hauptschule, Hamburger Abkommen 1964 - ist gescheitert: Die Hauptschule wird wieder abgeschafft. Die pädagogisch-didaktische Differenz - „Sekundarstufenschock“ - belastet die Eingangsklassen von Realschulen und Gymnasien.


    Den "Sekundarstufenschock" gibt es nicht. Ich würde hier eher vom "Big Fish Little Pond"-Effekt sprechen. Das heißt aber a) Hauptschüler fühlen sich zu beginn der Hauptschulzeit zunächst wesentlich *wohler*! Nicht jeder Gymnasiast leidet unter dem Übergang, viele erreichen ihr Potential erst in einer starken Gruppe. Gerade das Gymnasium *rettet* in Deutschland den mittelmäßigen PISA-Platz.


    Zitat


    Das hedonistische Leistungsprinzip ist gescheitert. Seit 2004 sollen Bildungsstandards wieder Leistungsmäßstäbe setzen. Das Zentralabitur kommt.


    "Hedonistisch" war das Leistungsprinzip niemals. Dafür an heterogenen Fähigkeiten, Neigungen und Interessen orientiert. Das bleibt mit der "Profiloberstufe" durchaus erhalten und macht auch Sinn: eine gute Passung von Schülerfähigkeiten, -neigungen und -interessen mit dem von der Schule angebotenen Profilen, ist ein hervorragendes Maß für zu prognostizierenden Schulerfolg.


    Zitat


    Das Prinzip der Binnendifferenzierung in heterogenen Klassen führt zur Chancenungleichheit der Leistungsstarken (Berliner Grundschulstudie http://www.zeit.de/2008/17/Interview-Lehmann).


    Eine Interpretation die die Autoren der Studie rigoros abweisen.


    Zitat


    Das Prinzip des autoritätslosen Lehrers -„Lehrer als Moderator“ - ist gescheitert. Das soziale Klima an den Schulen ist geprägt durch die Angst der Lehrer vor den Schülern und deren Eltern (Prinzip Rütli-Schule, Potsdamer Belastungsstudie - Burnout-Syndrom).


    Im inter-beruflichen Vergleich sind LehrerInnen eher seltener von Burnout betroffen als vergleichbare Berufe mit entsprechender Ausbildung/Vergütung. Hier vom Einzelfall ("Rütli") zu schließen ist fahrlässig und falsch.


    Zitat


    Das Ziel der „Produktion“ von mehr gut ausgebildeten Hochschulabsolventen wurde nicht erreicht. Die Studienabbrecherquote beträgt ca. 30%.


    Wir werden miterleben, was die Umstellung auf BA/MA bringt. Ich wage noch keine Prognosen.


    ambrador

  • Mal ganz ernsthaft, da mich das Thema interessiert:


    Wie belegts du folgende deiner Aussagen (oder ist es nur deine persönliche Meinung, klingt aber nicht so):



    Gruß !

    Mikael - Experte für das Lehren und Lernen

    Einmal editiert, zuletzt von Mikael ()

  • Zur Diskussion um das "Scheitern der 6-jährigen Grundschule in Berlin":


    "Ein Scheitern der sechsjährigen Grundschule, wie auch die ZEIT schrieb, lässt sich aus der Studie also schwerlich ableiten. Deshalb rätselt die Gilde der empirischen Bildungsforschung über die Beweggründe ihres Kollegen" (ZEIT, 24.4.2008 ).


    http://81.169.136.226/Kunden/B…5-08%20Element-Studie.pdf


    Zur Diskussion siehe hier: http://schulpaedagogik.blogspo…rd-zum-politikum-wie.html


    Warum Prof. Lehmann einen wissenschaftlichen Amoklauf betreibt ist eigentlich keinem Kollegen klar, zu vermuten ist, dass es ihm mehr um Aufmerksamkeit als um Wissenschaft geht.

  • Zum Thema "Burnout bei Lehrern".


    1.) (*edit*) Ich bezog mich auf den "Gesundheitsbericht 2008". Dazu ein Artikel aus der Süddeutschen:


    https://ssl.sueddeutsche.de/jo…tudium/artikel/46/180490/


    und der gesamte Gesundheitsbericht:


    http://www.tu-dresden.de/medle…itsbericht_SBA%202008.pdf


    Dort Seite 46 ff., bezug nehmend auf folgende Studien:


    Büssing, A. & Glaser, J. (1998 ). Managerial Stress und Burnout - A Collaborative International Study (CISMS). Die deutsche Untersuchung. Berichte aus dem Lehrstuhl für Psychologie der TU München, Bericht Nr. 44.


    Büssing, A. & Glaser, J. (2000). Psychischer Stress und Burnout in der Krankenpflege – Ergebnisse der Abschlussuntersuchung im Längsschnitt. Berichte aus dem Lehrstuhl für Psychologie der TU München, Bericht Nr. 47.


    Die Abbildung auf Seite 50 unten zeigt schön, dass Lehrer bezüglich der drei "klassischen" Burnout-Skalen "emotionale Erschöpfung", "Zynismus" und "reduzierte Leistungsfähigkeit" in etwa die Werte erreichen, die auch bei Pflege- und Führungskräften gefunden werden. Hieraus schließe ich (und mit mir auch andere, wie der Bericht in der Süddeutschen zeigt): der Lehrerberuf ist per se nicht stärker belastend als andere Berufe, die eine ähnliche Ausbildung und Verantwortung mit sich bringen.


    "Zusammenfassung
    Weder das Auftreten einzelner Burnout-Symptome noch die eher widersprüchlichen Befunde rechtfertigen die “Diagnose“ Burnout als „typische Lehrerkrankheit“. Aus den Ausprägungen der Burnout-Symptomatik lässt sich für die untersuchten Lehrkräfte kein „bedenklicher“
    psychischer Gesundheitszustand ableiten." (S. 51, Gesundheitsbericht 2008 )



    2.) http://www.taz.de/1/archiv/pri…%2Fa0154&cHash=186f4c1c4e


    anderer Ansatz, gleiches Ergebnis: Nicht der Beruf lässt die Lehrer ausbrennen, sondern die falschen Vor- und Einstellungen: Lehrer-Burnout ist *nicht* der schulischen Situation geschuldet.


    Ich hoffe, ich finde den Inhalt von 1.) noch zeitnah (edit: gefunden und nachgetragen).

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