Wechsel von Gymnasialstudium zu Hauptschulstudium

  • Hallo,


    ich studiere momentan Lehramt Geographie/Deutsch Gym und möchte gerne zum Hauptschullehramt wechseln.
    Ich bin mir allerdings unsicher, ob ich für das Hauptschullehramt geeignet bin.
    Gibt es hier einige Hauptschullehrer, die von ihrem Arbeitsalltag kurz berichten können, damit ich einschätzen kann, ob ich der Hauptschule gewachsen bin.
    Sind Hauptschulen wirklich so schlimm wie häufig behauptet wird oder handelt es sich eher um ein Vorurteil?


    Gruss Ida.

  • Hallo Ida!


    Wie wäre es, wenn du an einer Hauptschule mal hospitierst?? Die meisten Schulen sind da sehr offen. Und vor allen Dingen mal ein paar Stunden dich im unterrichten erproben??
    Also ich denke, pubertierende Schüler hast du da wie dort ;)
    aber an der Hauptschule sollte man schon ziemlich stark sein, wenn man auf Dauer dort unterrichten will.....
    Wie kommt denn dein Sinneswandel? Bin nur neugierig, denn du musst ja Beweggründe haben warum du wechseln willst....
    Panama

    "Du musst nur die Laufrichtung ändern..." sagte die Katze zur Maus, und fraß sie.

    • Offizieller Beitrag

    Hallo Ida,


    vorab: Ich unterrichte nicht an einer Hauptschule, aber an einer Realschule in einem schwierigen sozialen Umfeld in NRW und ich glaube, die "Verhältnisse" dort sind z.T. vergleichbar mit Hauptschulen (abgesehen vielleicht von den Klassengrößen, aber auch bei uns gibt es teilweise das Klassenlehrerprinzip, das Behalten der Klassen von der 5 bis zur 10 usw). Gleichzeitig habe ich im unmittelbaren Umfeld und im Freundeskreis viele Gymnasiallehrer und sehe täglich den Unterschied.


    Ich glaube, vor ein paar Jahren hätte ich deine Frage noch neutral beantwortet und dir einfach die Unterschiede aufgezählt. Inzwischen, nach mehr als 5 Jahren, sehe ich es leider nicht mehr ganz so neutral. Ich mache die Arbeit mit sozial schwierigen Schülern immer noch sehr gerne, sehe aber mehr und mehr, wie sie langfristig an den Nerven und an der Gesundheit zehrt.


    Vorab mal die Unterschiede zwischen den Schulformen: Am Gymnasium unterrichtest du mehr fachlich, an Haupt- und Realschule viel mehr pädagogisch, mit allen Vor- und Nachteilen. Durch das Klassenlehrerprinzip kennst du die Schüler viel intensiver, ebenso die Eltern und baust einen direkten Draht zu ihnen auf, kannst langfristig pädagogisch arbeiten, da die Kinder dich kennen etc. Du hältst dich mehr in deinem Klassenraum auf, den du mit den Schülern gestalten kannst, führst viel mehr Elterngespräche...


    Allerdings ist das fachliche Niveau begrenzter, was ich nach ein paar Unterrichtsjahren oftmals sehr schade finde - anfangs ist eh alles neu, aber nach ein paar Jahren wären fachliche Herausforderungen auch mal ganz nett.


    Du unterrichtest keine Oberstufe und hast insgesamt meist mit pubertierenden (und vor- und nachpubertierenden ;) ) Schülern zu tun.


    Die Elternschaft und die Sozialstruktur der Schüler ist eine ganz andere als am Gymnasium und das ist teilweise sehr schwierig. Ich finde es wahnsinnig frustrierend (insbesondere da man die Schüler bei uns ja sehr gut kennt und sie einem absolut nicht egal sind), wenn man als Lehrer an seine Grenzen stößt und nichts machen kann, wenn zu Hause vieles aus dem Ruder läuft. Das kommt am Gymnasium auch mal vor, aber nicht in der Häufigkeit. Ich gebe dir mal ein paar Beispiele: Schüler sind zu Hause auf sich gestellt, stürzen in der Pubertät ab, alleinerziehende Eltern sind total überfordert, auch das Jugendamt ist keine große Hilfe, Schüler kommen nicht mehr in die Schule, werden kriminell - und du musst als Lehrer trotz intensivster Bemühungen und Gespräche erkennen, dass du nichts für diese Kinder tun kannst - das ist ziemlich bitter und sehr frustrierend und bei uns leider kein Einzelfall. Solche Situationen haben wir in unterschiedlichster Ausprägung bei uns tagtäglich. :(
    Ich finde es inzwischen sehr frustrierend, zu sehen, dass man in der weiterführenden Schule kaum noch reparieren kann, was im Elternhaus jahrelang schief gelaufen ist. Natürlich haben wir auch andere Schüler aus normalen Elternhäusern, aber leider auch viele, bei denen sooo viel schief läuft.


    Ich hatte in letzter Zeit ein paar Situationen, in denen ich die Unterschiede zwischen den Schulformen auch deutlich erlebt habe: Ich war auf einer hervorragenden Theater-/Musicalaufführung eines Gymnasiums, die zwei Lehrer alleine auf die Beine gestellt haben: Sie haben in nur einem Jahr eine Aufführung hinbekommen, die ich bei uns an der Schule so nie für möglich halten würde. Im Vergleich: Bei uns wirken sehr viele sehr engagierte Lehrer (ca. 10) an einer EINZIGEN Theateraufführung mit, aber es sind so viele Grundlagen zu legen, dass es eine riesige Arbeit ist und das Ergebnis nicht ansatzweise an das dieser Gymnasialaufführungen rankommt. Bei uns müssen die Grundlagen teilweise bei Null gelegt werden, was zum Beispiel heißt, dass die Musiklehrer den Kindern einfachste Instrumentalkenntnisse beibringen müssen, weil kaum jemand ein Instrument spielt etc. Was dann das Ergebnis nach einem Jahr ist, kannst du dir vielleicht vorstellen (es ist natürlich ein super Fortschritt für den einzelnen Schüler, aber nicht zu vergleichen mit dem Ergebnis, das man bei einem Schüler hat, der schon außerschulisch zumindest Instrumentalgrundlagen hat).
    Auf einem Schulkonzert eines anderen Gymnasiums war ich ähnlich beeindruckt, was dort alles auf die Beine gestellt werden kann.


    Leider habe ich immer mehr den Eindruck, dass sich die Schulformen inzwischen verschieben (jedenfalls in NRW, ob das in Bayern auch so ist, kann ich nicht beurteilen) und die Vorteile, die die Schulformen Haupt- und Realschule eigentlich haben, langsam in Luft auflösen. Eigentlich ist das Klassenleiterprinzip oder die intensive Berufsvorbereitung eine tolle Sache, aber es wird immer schwerer, diese Vorteile auch zu nutzen.


    Ich habe hier im Forum vor ein paar Jahren, als es um Unterschiede zwischen den Schulformen ging, auch mal Kollegen erwähnt, die sich als Gymnasiallehrer bewusst gegen das Gymnasium entschieden haben und lieber an einer Realschule unterrichten, habe die Gründe auch aufgezählt (das müsstest du über die Suchfunktion finden, ebenso ganz viele Threads zu den Unterschieden zwischen den Schulformen), aber inzwischen sieht die Situation ganz anders aus: Diese Kollegen sind wieder ans Gymnasium gewechselt, weil sie die Diszipinprobleme und das niedrige fachliche Niveau (insbesondere in den Fremdsprachen) auf Dauer wahnsinnig gemacht haben.


    Was die Disziplinprobleme betrifft, ist es nicht so, als müsste man sie zwangsläufig jeden Tag in Extremform haben: Wenn Klassen den Lehrer und die Regeln kennen, dann hält sich das teilweise schon in Grenzen. Aber man muss schon immer sehr konzentriert und sehr konsequent sein, was extrem anstrengend ist. Ich habe, wie ich hier schon mal geschrieben habe, einen ganz guten Vergleich, nämlich als Fachlehrerin eine Klasse, die für mich eine typische Realschulklasse ist, wie ich sie mir (positiv) vorstelle: Mittelgute, aber sehr bemühte Schüler, nette Eltern, nur wenig soziale Probleme... - Schüler, die vielleicht nicht so sehr Transfer leisten können, wie am Gymnasium, aber Schüler, die in den Leistungsanforderungen der Realschule gut mitkommen. Bei uns sind solche Klassen die totale Ausnahme. In dieser Klasse zu unterrichten, ist aber wirklich schön, weil man eben nicht immer erst mal erzieherisch tätig sein muss und die Eltern dort sehr angenehm sind. Wenn diese Parameter nicht stimmen, dann ist das Unterrichten viel anstrengender; dass diese Parameter stimmen, ist aber an heutigen Realschulen (und an den Hauptschulen hier im Umfeld) bestimmt nicht die Regel - die anderen Klassen an unserer Schule sind damit leider nicht vergleichbar.


    Ein weiteres Aha-Erlebnis hatte ich neulich in einem Gespräch mit meiner ehemaligen Fachleiterin, die zufällig eine Referendarin an meiner Schule betreute und mir so wieder über den Weg lief: Da wir hier in NRW ja eine SekI-Ausbildung haben, unterrichtet diese Fachleiterin an einer Hauptschule. Für mich verkörperte sie damals in meinem Ref immer eine Person, die absolut hinter der Schulform Hauptschule steht, die sehr an ihren Schülern hängt und sich sehr für sie engagiert (das glaube ich auch immer noch) und die uns immer zeigen wollte, dass wir uns für diese Kinder einsetzen sollen und dass man an einer Hauptschule tolle pädagogische Arbeit machen kann. Jetzt, also ein paar Jahre später, habe ich mich mit ihr über die verschiedenen Schulformen unterhalten und dieses Mal meinte sie, wenn sie noch mal vor der Entscheidung stünde, würde sie inzwischen in jedem Fall Lehramt fürs Gymnasium/Gesamtschule studieren. Nach diesem Gespräch war ich wirklich baff.

    Wie gesagt, ich konnte dir nur zu einigen Aspekten was sagen und Kollegen, die an der Hauptschule unterrichten, können bestimmt noch ganz viel ergänzen, aber vielleicht hilft dir diese Einschätzung ja auch ein bisschen weiter.


    Ich wüsste in deiner Situation momentan jedenfalls, wie ich mich entscheiden würde.

  • Bundesland "B" ist Berlin und nicht Bayern (in Bayern soll die Hauptschul-Welt ja noch in Ordnung sein), oder?


    Ich war 4 Jahre an einer Hauptschule in Göttingen, Niedersachsen.


    - Jedes Vorurteil, würde ich sagen, stimmt (im großen und ganzen): Gewalt, Lernresistenz, Perspektivlosigkeit. Allerdings finden die HauptschülerInnen ihre Situation normalerweise (was nicht heißt, dass sie sich nicht als stigmatisiert erleben würden oder lieber bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten oder lieber in behüteten Verhältnissen aufgewachsen wären oder oder oder, ... ) nicht schlimm, sondern normal.


    - Wenn dein Ansatz eher ein sozialpädagogischer ist, könntest du durchaus glücklich an einer Hauptschule werden. Wenn du von einer Hauptschule eine Art Lernen wie an dem Gymnasium (an dem du evtl. warst), bloß auf niedrigerem Niveau erwartest: vergiss es.


    - Die Eltern haben zumeist andere Probleme als sich um die schulischen Belange ihrer Kinder zu kümmern. Ich würde sagen 80% der Hauptschulklientel rekrutiert sich aus: a) Sozialschwache, b) schlecht integrierte Ausländer (warum auch immer: weil sie erst kurz in Deutschland sind oder nie angekommen), c) zerrüttete Familien, d) Familien mit gravierenderen Problem als Schule (Alkohol/Drogen). ZT hast du Familien die ihre Multiproblemlage in die 2. oder 3. Generation vererbt haben.


    - in Göttingen machen etwa 70% der Schülerinnenschaft einen höheren Bildungsabschluss, d.h. an der Hauptschule ist normalerweise gar nicht klar, wo wir unsere SchülerInnen hinbringen sollen. Einen Ausbildungsplatz erhält normalerweise keiner, es sei denn, man kennt jemanden, der einen zur Verfügung stellt.


    - Unterricht ist oft nicht möglich, weil sich Peter und Ali mal wieder in der Pause die Nase blutig geschlagen haben, oder weil irgendwer die Mutter von irgendwem beleidigt hat.


    - Wenn unterrichtet wird, zeigen sich Lern- und Aufmerksamkeitsdefizite.


    - Lehrerinnen haben zuweilen Probleme mit der patriachialistischen Mentalität, die an Hauptschulen zuweilen ausgepackt wird (da hilft dann: ein geschlossenes Kollegium).


    Wenn dir das alles egal ist, du gerne die Probleme der Gesellschaft an ihren Wurzeln bearbeiten möchtest und bereit bist, in kleinsten Schritten mit SchülerInnen zu arbeiten und ihnen etwas beizubringen, was sie im Allgemeinen gar nicht lernen wollen ... ich kenne durchaus KollegInnen, die sehr zufrieden sind (ich schätze: 50%). Ein Viertel der Lehrerschaft mag ihren Job einfach tun, ein Viertel ist völlig unzufrieden.


    (edit: da ich zufällig mit einer Gymnasiallehrerin zusammenlebe: Ich vermute, dass LehrerInnen am Gymnasium deutlich mehr arbeiten müssen als Hauptschulkolleginnen. Dafür bekommt man aber eine Menge zurückgeliefert: 1.) jede Menge "Erfolgsgeschichten" (es ist schon toll, wenn einer deiner Schüler ein 1er-Abi macht). 2.) Ein normalerweise sehr geschlossenes und hilfsbereites Kollegium, 3.) Schule als Lernort: Du kannst ziemlich das machen, wozu du fachlich ausgebildet wurdest. 4.) Klassenfahrten in der Oberstufe haben schon "Urlaubs"-Charakter und man freut sich echt drauf (mit einer Hauptschuleklasse hab ich mich nie weggetraut, allerdings war ich auch nie Klassenlehrer). 5.) Anerkennung von den Eltern (die mögen stressen, aber deine Stellung steht selten in Abrede), 6.) öffentliche Anerkennung (zumindest im Vergleich Hauptschullehrer/Studienrätin). Da für mich immer klar war, dass ich nicht an der Hauptschule bleibe, musste ich mich nie zwischen Hauptschule und Gymnasium entscheiden, wenn ich es müsste: 35 Jahre Gymnasium würden *mir* perspektivvoller erscheinen.


    ambrador

  • Referendarin, ambrador:


    Danke für eure ausführlichen Schilderungen. Die sollte man jeder Schulpolitikerin / jedem Schulpolitiker unter die Nase halten, die meistens außer (Privat-)Gymnasium und (Jura-)Studium nichts kennen und meinen mit ihren ach so tollen Ideen die Schule reformieren zu wollen: Man schafft einfach die Hauptschule ab und schon sind die Probleme verschwunden? Erinnert mich irgendwie an die Manipulation der Kriminalstatistik (man zählt halt einfach anders und schon gibt es gewisse Probleme nicht mehr...).


    Ich habe Respekt vor der Arbeit der Hauptschulkollegen und -kolleginnen und würde nie tauschen wollen. Da korregiere ich lieber bis spät in die Nacht Abitur-Aufgaben.


    Gruß !

    Mikael - Experte für das Lehren und Lernen

  • Zitat

    Original von Mikael


    Ich habe Respekt vor der Arbeit der Hauptschulkollegen und -kolleginnen und würde nie tauschen wollen. Da korregiere ich lieber bis spät in die Nacht Abitur-Aufgaben.


    Gruß !



    Vielen Dank für diese Aussage :D


    Ich unterrichte incl. Ref "erst" seit 4 Jahren und war noch nie an einer "ruhigen" Schule (immer nur sog. Brennpunktschulen).


    Meinen Vorrednern kann ich mich 100%ig anschließen und noch einen kleinen Zusatz geben:
    Einer meiner ehemaligen Schüler sitzt wegen schwerer Körperverletzung im Knast, erst letzte Woche bin ich bei einer Auseinandersetzung dazwischen gegangen und habe als "Rammbock" fungiert.
    Ich wurde mit Schimpfwörtern beschimpft und dergleichen. Da muss man echt ein dickes Fell haben und sehr stabile Nerven, sonst hält man den Job nicht bis zur Pensionierung durch ;)

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