Gutachten schreiben

  • Hallo,
    ich brüte gerade über einem meiner ersten Gutachten zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs. Ich habe hier ein Gutachten aus dem Vorjahr liegen, an dem ich mich in punkto Formalia orientiert habe. Nun soll ich aber mit einer erfahrenen Kollegin aus einer anderen Schule zusammenarbeiten, die so Einiges anders macht und ich beginne, irritiert zu sein...
    also: Welche Zeitform benutzt ihr? Stellt ihr Hypothesen im FSP Körperliche/motorische Entwicklung auf? Welche Stolperstellen gibt es sonst noch, bei 2 oder mehr FSP gleichzeitig?
    Ich freue mich über Austausch!

  • Schicke dir mal die Vorlage eines meiner letzten Gutachten. Natürlich leer. Habe allerdings auch Kommentare reingeschrieben. Ich hoffe es hilft dir. Schau mal in deine Nachrichten.
    Ich hoffe, dass es dir weiter hilft. :)

  • Kann leider hier keine doc. Dateien hochladen. Wenn du mir deine E-Mailadresse als Nachricht schickst, werde ich dir das Dokument zumailen.

  • Hallo rotherstein,
    danke für deine Bereitschaft, mir zu helfen. Habe jetzt leider erfahren müssen, dass es x Möglichkeiten gibt, so ein Gutachten zu schreiben und meine Schulleitung möchte es natürlich nur GENAU SO wie immer. Schon die Zusammenarbeit mit einer benachbarten Schule birgt ungeahnte Tücken. Ich versuche jetzt erstmal, mich an die derzeitige Variante anzupassen und frage meine Kollegen aus. Danke trotzdem.

  • Was ein GUTachten ist, weißt Du erst, wenn jemand mit einem solchen über Deine Existenz entscheidet - genau das tust Du nämlich mit jedem sonderpäd. Gutachten.
    Stell Dir vor, man würde Dir vorwerfen, Du seist nicht ganz normal, und dann wirst Du in die Psychiatrie geschickt und man macht mit Dir alle Tests, die Du mit einem Kind machst. Wenn Du nicht genügend Punkte hast, verlierst Du die Existenz, die Du jetzt hast. Dann kannst Du niemehr Lehrer sein. Genau so weitreichend ist Deine Entscheidung über ein Kind, wenn Du es testest und begutachtest. Ich habe mich sehr intensiv mit päd. Gutachten befasst:
    Allzu viele Gutachten sind Schlechtachten.
    Sie suchen nach Auffälligkeiten, Defekten, Abnormitäten, Schwächen und Problemen ohne auch nur einen blassen Schimmer von Problemlösung zu haben.
    Damit lenken die das Denken + Empfinden von der Wahrnehmung der Chancen auf die Annahme künstlicher Vorgaben um und orientieren die Entwicklung nicht mehr am Wachstum der Kräfte sondern an ihrer Erschöpfung durch Anstrengung und oft Selbstquälerei.
    Für mich als Ich-kann-Schule-Lehrer ist eine Diagnose - Deutsch: Durchblick - erst eine Diagnose und ein Gutachten erst ein GUTachten, wenn der Gutachtensteller verbindlich aus seiner Erfahrung sagen kann, dass und wie es GUT werden kann.
    Wenn der Profipädagoge keine Ahnung davon hat, wie es GUT werden kann, sollte er nichts sagen und nichts schreiben sondern erst einmal selbst das Wesentliche lernen.
    Dass die Lehrer dies in aller Regel missachten hat sehr damit zu tun, dass sie sich in der Krankheitsstatistik ganz nach oben an die Spitze gearbeitet haben und keineswegs eine bessere Entwicklung in Sicht ist.
    Gutachten für eine Überweisung in die Sonderschule müssen zu dem Schluss kommen, dass das Kind dort besser gefördert werden kann.
    Wie würdest Du Dich fühlen, wem würdest Du noch glauben, wenn Du schon in der dritten, vierten, fünften,..... Sonderschule gelandet bist - immer mit der Begründung, dass Du dort besser gefördert wirst, und es war nie die Wahrheit?
    Wie würdest Du Dich als Lehrer derart betroffener Kinder fühlen?
    Wir sollten längst konkret messen, ob die Probleme nach unseren Maßnahmen ab- oder zunehmen.
    Sonst finden wir uns selbst bald tiefer und hilfloser im Problem wieder als uns lieb sein kann.
    Ich wünsche Dir guten Erfolg.
    Franz Josef Neffe

  • Danke für den Gedankenanstoß und den ausführlichen Text.


    Vorsicht, dass du nicht zu schnell verallgemeinerst. 80% unserer überprüften Kinder dieses Jahr gehen jedoch keineswegs an eine Förderschule, mit unserem Gutachten stellen wir lediglich die Weichen für erfolgreiches Lernen an der allgemeinen Schule. Die vielen Kleinigkeiten, die wir so anpassen können, entscheiden oft über hopp oder top im Leben dieser Kinder. Gerade deswegen möge man das Ganze ja gut machen und ein gewisses Maß an Reflektionsfähigkeit sollte jeder Kollege mit dieser verantwortungsvolllen Aufgabe in sich tragen.

  • Wenn Du nicht genügend Punkte hast, verlierst Du die Existenz, die Du jetzt hast. Dann kannst Du niemehr Lehrer sein.

    Nennt man das nicht Referendariat? :D


    Sie suchen nach Auffälligkeiten, Defekten, Abnormitäten, Schwächen und Problemen ohne auch nur einen blassen Schimmer von Problemlösung zu haben.

    Auch das klingt mir stark nach Referendariat. :thumbup:



    So funktioniert die Welt. Aussortiert wird immer, mal nach objektiveren Kriterien, mal nach weniger objektiven. Es wird im Leben aber zu jeder Zeit über die Existenz entschieden, man wird auch selber ständig begutachtet. Immer.

  • f. j. neffe,


    deine Kritik an "klassischen" Gutachten kommt wohl etwas spät, wenngleich solche defiziortientierten Diagnosen in der Praxis wahrscheinlich immer noch erschreckend oft auftreten.


    Heute werden ja auch für sonderpädagogische Gutachten die förderdiagnostischen Leitfragen (ursprünglich nach Mechthild Dehn, glaube ich) in den Vordergrund gestellt:
    - Was kann das Kind schon?
    - Was muss das Kind noch lernen?
    - Was kann es als nächstes lernen?


    Folgt man diesen im Gutachtenaufbau, so umgeht man die Gefahr des "Schlechtachtens" doch gleich ein Stück weit, weil man erst einmal kompetenzorientiert nach dem schauen muss, was schon da ist und wie darauf aufgebaut werden kann.


    Darüber hinaus ist ein sonderpädagogisches Gutachten ja nicht dazu da, Kinder zu verdammen und ihre Zukunft vorzuzeichnen, sondern ein Weg, ihnen in unserem Schulsystem überhaupt erst qualifizierte Hilfe anbieten zu können - an welcher Schulform auch immer.

  • Vor etwa 10 Jahren traf ich, ein Vierteljahrhundert nach der 4 b, Martin wieder, über den ich mehrfach mündlich und schriftlich berichtet hatte.
    Martin hatte immer eine 6 in Deutsch, war einmal deswegen sitzengeblieben. Er galt als "einseitig mathematisch begabt". Ich ließ ihn nicht, wie man das zuvor gemacht hatte, in der Aufsatzstunde was aus dem Lesebuch abschreiben; er schrieb den Aufsatz wie alle. Etwa ein Dutzend Worte verstand ich; er konnte mir die 2 1/2 Seiten flüssig vorlesen. Es war eine starke Geschichte. Martin hatte - trotz Schule - selbst ein für ihn funktionierendes Schreibsystem entwickelt.
    Nun gibt es ja Schülerakten und Zeugnisse. In denen ist Martins Entwicklung bei mir dokumentiert. Ich habe bei allen meinen Schülern die Weichen neu gestellt und ihre neue Entwicklung dokumentiert. 25 Jahre später erfahre ich, dass es nach der 4 b genauso weitergegangen ist wie vorher. Martin galt wieder als Deutschversager und wurde als solcher weiter ausgebildet.
    Ist es nicht interessant, dass es da ganz offensichtlich unbewusste Einstellungen gibt, die uns auch im Verständnis unserer Mitmenschen ständig in denselben Denkschablonen halten und alles ausblenden lassen, was nicht in die gewohnte Schablone passt?
    Wir könnten jetzt etwas tun, was ich in meinen Ausbildungsphasen immer wieder gemacht haben: in der nächsten Klasse irgendeinen Schülerakt herausnehmen und ihn mit einer ungewohnten Fragestellung untersuchen.
    Dann würden mir z.B. wie bei dem 15jährigen Andi auf einmal die ersten Sätze seiner Zeugnisse etwas sehr Wichtiges sagen. Ich zitiere mal die Anfänge seiner ersten vier Zeugnisse: "Andi hat sich noch nicht richtig eingelebt. - Andi hat sich immer noch nicht richtig eingelebt. - Andi hat sich noch nicht richtig eingefügt. - Andi hat sich immer noch nicht richtig eingefügt." Geht es da um Lesen & Schreiben & Rechnen lernen oder darum, jemand klein zu kriegen?"
    Solche "Fundstücke" sind nicht selten. Es gibt offenbar blinde Flecken in der gelernten päd. Betrachtung. Das für sich müsste kein Nachteil sein. Wenn wir einen Fehler machen, kann der uns ja zeigen, was fehlt - darum heißt er ja Fehler. Wenn wir aber nie an Selbstkorrektur und Ausgleich denken sondern immer nur alles noch besser machen und steigern wollen, gerät jede Entwicklung immer mehr aus dem Gleichgewicht. Mir erscheint es daher ganz besonders wichtig, nicht jedes Problem allein auf die Förderung des Kindes zu sehen, das greift viel zu kurz. Wenn es mit Menschen nicht klappt, dann müssen alle in die Betrachtung und auch in die Förderung miteinbezogen werden - das betroffene Kind, die anderen Kinder, die Eltern und die Lehrer.
    In der Ich-kann-Schule stelle ich meine Fragen also für alle Beteiligten.
    "Was kann der Lehrer schon" ist mir auch zu wenig. Mich interessiert der Zustand seiner Talente, seiner Geistes- und Seelenkräfte. Wie geht er mit ihnen um? Welche Beziehung hat er zu ihnen - und damit zu sich selbst? Vor allem, wie geht er mit den Talenten in sich um, die geschwächt sind und mit denen er (noch) nicht glänzen kann? Schämt er sich für seine schwachen Kräfte und lässt sie im Stich? Wie wirkt sich sein Vorbild aus? Wird es beachtet? Wie wirkt das, wenn ich jemand beurteile und habe selbst UR noch gar nicht sehen gelernt?
    Wenn ich möchte, dass er etwas lernt - wie kann ich SOG-Wirkung dafür erzeugen? Wie kann ich seine Talente für ihre eigene gute Entwicklung begeistern? Wir stehen ja ständig unbewusst in geistiger Kommunikation miteinander. Ist meine geistige Wirkung - was ich denke + fühle + ausstrahle - einer guten Entwicklung förderlich oder hinderlich?
    Jeder begutachtet sein Leben lang und wird begutachtet, jeder hat sein Leben lang suggestive Wirkung für sich und andere. Die Qualität unserer Wirkung können und sollen wir dank Begabung mit Geist immer wieder verbessern. Das ist m.E. auch die päd. Aufgabe. Da wünsche ich allen die schönsten Erfolge.
    Franz Josef Neffe

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