Stotternder Oberstufenschüler

  • In meiner 11 ist ein Schüler, der heute zu mir kam und mir sagte, dass er manchmal "langsam spricht". Da er nach dem ersten Wort erst mal länger stockte und nicht weiter kam, denke ich, dass das unter Stottern fällt.
    Ich habe mir bereits unter "Stotternder Erstklässler" die Links von Müllerin angeguckt, habe nun aber ein oberstufenspezifisches Problem bzw. eine Frage:


    In der Oberstufe müssen die Schüler sich ja verstärkt selbst einbringen. Ich vermute allerdings, dass der Schüler sich nicht oft selber melden wird oder sich in Diskussionen zurück hält.
    Ich habe vor, ihn auch noch mal selber zu fragen, wie er den Umgang im Unterricht am sinnvollsten findet, aber wie berücksichtige ich das ggf. wenige "Einbringen" in Folge des Stotterns in Bezug auf die Note? Habt ihr das Erfahrungen oder vielleicht sogar "Handfestes"?

  • Ich habe zum Umgang mit Schülern noch folgendes gefunden:
    http://www.bildungsportal.nrw.…epsie/Stottern/index.html
    http://www.bvss.de/schule/orientierungshilfen/


    Ich werde also an den Schüler herantreten und ihn fragen, wie er sich den Umgang wünscht. Aber nach dem Unterricht? In der Sprechstunde? Per Mail?


    Spreche ich bei einem 11er-Schüler auch die Eltern an (der Vater ein ehemaliger Kollege, die Mutter auch Lehrerin)???


    Gefunden habe ich auch das:
    "Das Recht stotternder Schüler auf Nachteilsausgleich
    Artikel 3 Absatz 3 unseres Grundgesetzes besagt: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. " Stottern ist eine Behinderung. Wie allen Schülern mit Behinderungen steht stotternden Kindern ein Nachteilsausgleich zu – auch dann, wenn keine förmliche Anerkennung als Schwerbehinderter vorliegt. In den meisten Bundesländern ist der Nachteilsausgleich in der Schulgesetzgebung geregelt. Er erstreckt sich auf die Leistungsbewertung und die Gestaltung von Prüfungsbedingungen. Im Fall Stottern kann das eine unterschiedliche Gewichtung von schriftlichen und mündlichen Leistungen bedeuten. Bei mündlichen Prüfungen bieten sich verschiedene Hilfestellungen an von Zeitzugaben bis hin zur Benutzung eines Personalcomputers, mit dem Antworten auf Leinwand oder Großbildschirm projiziert werden können.
    Wichtig ist, sich den Sinn des Wortes Nachteilsausgleich zu vergegenwärtigen: Es geht nicht darum, dass ein stotterndes Kind weniger leisten muss, um eine bestimmte Bewertung zu erhalten. Sondern darum, dass es seine Leistungen auf eine Art erbringen kann, die seiner Sprechbehinderung gerecht wird."


    Das deutet ja darauf hin, dass ich die Gewichtung mündliche-schriftliche Note ggf. ändern muss. Spreche ich da wohl mal mit der Schulleitung drüber?

  • Alternativ könntest du aber auch andere Aspekte der "sonstigen Mitarbeit" (das Mündliche ist ja nur ein Teil davon) in den Vordergrund rücken.


    Von einer Schülerin, die des Deutschen zwar in Schrift, aber nicht besonders in Wort, mächtig war, habe ich mir Unterrichtsmitschriebe anfertigen lassen, die ihre Mitarbeit dokumentierten. Dadurch konnte sie dann den Nachteil, in Diskussionen sprachlich nicht mithalten zu können, ausgleichen.

  • Zitat

    Das deutet ja darauf hin, dass ich die Gewichtung mündliche-schriftliche Note ggf. ändern muss. Spreche ich da wohl mal mit der Schulleitung drüber?


    In Rheinland-Pfalz ist das selbstverständlich (sollte es zumindest sein) - keine Ahnung wie das bei euch ist. Aber mit der Schulleitung reden ist auf alle Fälle nicht verkehrt. Ansonsten hast du dich ja schon ganz schön eingearbeitet.


    Gruß
    nms

  • Wie schlimm ist das Stottern eigentlich? Bleibt er nur gelegentlich hängen, oder ist die Kommunikation richtig gestört?


    Ich würde mit ihm nach dem Unterricht unter vier Augen darüber sprechen und ihn fragen, wie es ihm am angenehmsten im Unterricht ist. Vielleicht hat er ja auch gar kein Problem damit?! Immerhin ist er ja in die 11 gekommen. Wie reagieren die Mitschüler auf das Stottern? Genervt oder tolerant?


    Ich würde erst mal abwarten, ob sich das wirklich zu einem richtigen Problem entwickelt. Dann kann man immer noch über Nachteilsausgleich sprechen. Ist ja schließlich erst der erste Schultag gewesen, oder?


    Er mag nun wegen seines Stotterns gehemmt sein, sich am Unterricht zu beteiligen. Was machst du denn mit den Schülern, die nicht stottern und trotzdem den Mund selten aufbekommen? Habe auch solche Kandidaten in den Kursen sitzen (ich meine jetzt nicht die, die einfach nur faul sind, sondern die, die knallrot anlaufen, wenn sie aufgerufen werden und fast kein Wort rausbekommen). Wenn ich merke, dass Schüler "Meldehemmungen" haben, eröffne ich ihnen die Möglichkeit, öfter mal schriftliche Hausaufgaben freiwillig abzugeben, damit die mündliche Note nicht ins Bodenlose fällt. Aber hier verlange ich Eigeninitiative der Schüler - ich renne solchen Zusatzhausaufgaben nicht nach.

  • Er kam heute nach dem Unterricht zu mir und es fiel ihm schwer, mir den einen Satz zu sagen. Er sagte, dass es bei ihm Zeit bräuchte, bis er was gesagt habe. Ich habe dann nur gesagt, dass das kein Problem ist, er solle sich Zeit lassen.


    Mehr weiß ich nicht. Mir war nur aufgefallen, dass er nichts gesagt hat in der Stunde, sondern auf Aufforderung bei einem Brainstorming, wo aber sowieso die Kreide wanderte, etwas wortlos anschrieb, was aber nicht auffiel, da es "passte" nichts zu sagen.


    Ich werde ihn mir wohl wirklich nach der Stunde ranholen und mit ihm besprechen, was er tun könnte. Die Möglichkeit mir HA zu geben, habe ich heute allen gesagt, ich werde ihn noch einmal gesondert darauf hinweisen. Wie Philo ja auch schrieb, könnte er ja tatächlich Protokolle anfertigen.

  • Hallo Aktenklammer,


    ich hatte in den letzten vier Jahren drei solche Schüler (in verschiedenen Klassen).
    Einer von ihnen kam nach der ersten Unterrichtsstunde zu mir, legte mir sein Problem dar und bat mich, von mündlichen Leistungen befreit zu werden. Er erklärte sich (von sich aus) bereit, zusätzliche schriftliche Leistungen zu erbringen. Während er mit mir sprach, merkte ich schon, dass ihm beim Sprechen regelrecht die Luft wegblieb. Ich bin auf seine Bitte und sein „Angebot“ eingegangen und würde das jederzeit wieder tun. Einen gehbehinderten Schüler zwingt doch auch niemand, am Hundertmeterlauf teilzunehmen. Außerdem muss man bedenken, dass sich der Schüler mit seinem Zeugnis um einen Studienplatz bewerben will.
    Das sind halt so die Sachen, die man als Lehrer verantworten muss.


    Der betreffende Schüler war dann übrigens einer unserer besten Absolventen, die wir je hatten.


    Die zwei anderen haben sich zunächst nichts anmerken lassen, aber irgendwann habe ich es dann doch mitgekriegt. Sie haben sich ziemlich aktiv am Unterricht beteiligt und wollten auch von Vorträgen nicht verschont werden. Beide äußerten sinngemäß, dass sie mit ihrem Problem nie fertigwerden können, wenn sie sich ihm nicht stellen.
    So haben sie also auch Vorträge vor der Klasse gehalten. Die Klassen waren aber auch vernünftig und kameradschaftlich (mit Ausnahme von zwei Schülern, denen ich meine Meinung sehr deutlich gesagt habe).


    Ich denke, man muss solche Probleme individuell klären. Manche möchten am liebsten gar nicht auf ihr Problem angesprochen werden, mit anderen wiederum kann man ganz offen darüber reden. Ich höre da einfach auf meinen Instinkt. Klingt vielleicht eigenartig, klappt aber fast immer.


    Auf jeden Fall aber bin ich der Meinung, dass Stottern eine Behinderung ist und folglich eine Art Nachteilsausgleich erfordert, wenn der Schüler es wünscht.


    Gruß


    Animagus

  • Ich finde Animagus' Vorgehensweise sehr gut, frage mich aber, ob der "Nachteilsausgleich" - auch in Einbezug von Bedenken betreffs der "mündlichen Studienfähigkeit" (ich musste Unmengen von Referaten im Studium halten :rolleyes:) - an eine Auflage, z.B. Therapie beim Logopäden, gebunden ist. Bzw. ob Lehrer von (Oberstufen)schülern mit Sprachproblemen wissen, ob die Schüler logopädische Hilfe in Anspruch nehmen oder ihren Schülern dies sogar raten.


    LG, das_kaddl.

  • Zitat

    das_kaddl schrieb am 10.08.2006 10:29:


    frage mich aber, ob der "Nachteilsausgleich" - auch in Einbezug von Bedenken betreffs der "mündlichen Studienfähigkeit" (ich musste Unmengen von Referaten im Studium halten :rolleyes:) - an eine Auflage, z.B. Therapie beim Logopäden, gebunden ist. Bzw. ob Lehrer von (Oberstufen)schülern mit Sprachproblemen wissen, ob die Schüler logopädische Hilfe in Anspruch nehmen oder ihren Schülern dies sogar raten.


    Unser Schulgesetz und andere einschlägige Bestimmungen formulieren das Problem nur allgemein und verpflichten die Schulen, behinderten Schülern angemessene Erleichterungen zu schaffen. An irgendwelche Bedingungen sind diese Erleichterungen zunächst nicht geknüpft. In schwerwiegenden Fällen sind Vereinbarungen zwischen Schüler, Eltern und Schule (unter Einbeziehung von ärztlichen Gutachten) vorgesehen.


    Was unsere „Stotterer“ betrifft, so sind wir bisher immer ohne großes Brimborium ausgekommen. Alle drei befanden sich in logopädischer Behandlung. Zumindest haben sie das gesagt, und wir haben auch keinen Grund gesehen, es ihnen nicht zu glauben. Es hat sie ohnehin niemand „offiziell“ danach gefragt. Das wäre wohl irgendwie unsensibel gewesen. Im Laufe der Zeit klärt sich so etwas von ganz allein. Man kann auch davon ausgehen, dass ein Kind bzw. ein Jugendlicher selbst ein Interesse daran hat, an einer entsprechenden Behandlung teilzunehmen. Allerdings sind solche Therapien in der Regel eine äußerst langwierige Geschichte, vermutlich deshalb, weil oftmals psychische Probleme dahinterstecken, deren Ursache entweder weit zurückliegt oder unbekannt ist oder beides.


    Der junge Mann, von dem ich in meinem Beitrag weiter oben schrieb, studiert inzwischen.
    Irgendwie geht es also. Eines Tages wird er wissenschaftliche Arbeiten verteidigen müssen (er hat in dieser Beziehung noch viel vor), und er wird das schaffen.


    Ich denke in diesem Zusammenhang immer an einen Mann, der wesentlich schwerer behindert ist, nämlich Stephen Hawking ...


    LG


    Animagus

  • Lieber Animagus


    Herzlichen Dank für deine Antwort. Meine Frage war nicht kritisch oder "big brother ist watching you"-mässig gemeint, sondern einfach, hm, wie soll ich sagen: aus "ehemaliger Grundschullehrersicht" geschrieben. Ich hoffe, nicht durch den nächsten Fettnapf zu waten ;) , wenn ich schreibe, dass man als Primarstufenlehrer wesentlich mehr in solche und ähnliche Probleme der Schüler eingebunden ist bzw. meist wenigstens von Eltern (als Erziehungsberechtigten) informiert wird.


    LG, das_kaddl.

  • Zitat

    das_kaddl schrieb am 11.08.2006 17:20:


    Meine Frage war nicht kritisch oder "big brother ist watching you"-mässig gemeint,


    Das weiß ich doch. ;)


    LG


    Animagus

  • ZITAT: Ich finde Animagus' Vorgehensweise sehr gut, frage mich aber, ob der "Nachteilsausgleich" - auch in Einbezug von Bedenken betreffs der "mündlichen Studienfähigkeit".



    Auch im Studium gilt der Nachteilsausgleich. Das Stottern wird berücksichtigt und nicht bewertet.


    Zuständig ist dafür der/die Behindertenbeauftragte der Studenten.


    Und da liegt für mich das Problem. Behinderte Schüler haben keinen kompetenten direkten Ansprechpartner.


  • Da ich zitiert werde ;) :
    ich halte es für ein Gerücht, dass ein stotternd vorgebrachtes Referat gleich gut wie ein fliessendes Referat bewertet wird. Dass man es ggf. machen sollte, steht auf einem anderen Blatt. Einen Behindertenbeauftragten habe ich bis heute an "meiner" Hochschule nicht angetroffen (vielleicht gibt es den auch gar nicht an Schweizer Hochschulen oder die Gleichstellungsabteilung ist dafür zuständig); ich kann jedoch nur bewerten, was ich sehe und höre. Dafür gibt es ein Kriterienraster, nach dem ich vorgehen muss.


    Ich möchte mir ungern Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen vorwerfen lassen. Trotzdem frage ich mich, wie sich Nachteilsausgleiche im weiteren Berufsleben - zum Beispiel im Beruf des Grundschullehrers - auswirken.


    LG
    das_kaddl


    (das erst wieder in 8 Tagen antworten kann, da ab morgen URLAUB! :) )

  • Kein Gerücht.
    Es gibt an Hochschulen Behindertenbeauftragte, die für einen Nachteilsausgleich sorgen. Beispiel bei Stottern: Verlängerung der Prüfungszeit der mündlichen Prüfung.


    Die Kriterien für die inhaltliche Bewertung bleiben unangetastet.


    Wie das in der Schweiz geregelt ist, weiß ich nicht, vielleicht gibt es da ja grundsätzlich keinen Nachteilsausgleich.

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