Weiterbildungskolleg

  • Hallo zusammen!


    In NRW gibt es ja sogenannte Weiterbildungskollegs, an denen man den Hauptschulabschluss, die "Mittlere Reife" und sogar das Abitur nachholen kann. Nun habe ich lage Zeit immer mal wieder davon gehört, dass Schüler es darauf anlegen, dorthin zu gehen, weil die Abschlüsse dort viel leichter zu bekommen sein sollen als an einer Regelschule.
    Nun frage ich mich, ob das Niveau dort wirklich so viel schlechter ist, denn eigentlich kann es sich doch keine Schule erlauben, Abschlüsse mehr oder weniger zu verschenken.


    Seit einem halben Jahr geht auch mein Cousin auf ein solches Weiterbildungskolleg. Auf der Realschule hatte er nur bescheidene Noten und in zwei Fächern sogar eine 5. Jetzt macht er den Realschulabschluss an einem Weiterbildungskolleg nach und hat plötzlich nur noch Einsen und Zweien auf dem Zeugnis.
    Liegt das an einem so enormen Motivationsschub oder ist es dort wirklich so viel einfacher?


    Mich interessiert diese Frage, weil jetzt natürlich auch innerhalb der Familie darüber geredet wird und würde mich freuen, wenn sich jemand dazu äußert, der / die Ahnung davon hat. Außerdem habe ich es während meine Zeit an der Hauptschule selber von einigen Schülern gehört, dass man an einem bestimmten Weiterbildungskolleg seinen Abschluss "nachgeschmissen" (das war O-Ton der Schüler) bekommt.

  • Klares und Entschiedenes: Jein!


    Wie Du ja schon angedeutet hast, sammeln sich an Weiterbildungskollegs viele Schüler mit schwieriger Schulbiographie ( so allgemein will ich das mal formulieren). Das erfordert eine deutlich stärkere Förderung, was oft dazu führt, dass Schüler ihre Abschlüsse schaffen, die vorher an der "Regelschule" arge Probleme hatten.
    Die fachliche Tiefe ist u.U. nicht in der Form gegeben, wie beispielsweise an einem ambitionierten Gymnasium. Dafür wird der Aspekt der "Anleitung zum Selbstlernen" stärker in den Vordergrund gebracht.
    Ein mir bekanntes Abendgymnasium unterrichtet nur an 4 Tagen/Woche jeweils 4 Stunden. Logisch, dass in dieser begrenzten Zeit Fachinhalte konzentriert und exemplarisch stärker ausgewählt werden müssen. Ob das allerdings die Behauptung rechtfertigt, dass der Abschluss hinterher geworfen wird?
    Meiner Meinung nach bieten Weiterbildungskollegs eine Chance, die es aber von Seiten der Schüler immer noch zu ergreifen gilt.


    Gruß, Forsch


    PS: Unser Alt-Bundeskanzler Gerhard S. hat sein Abitur (mit anschließendem Jurastudium) auf einem Weiterbildungskolleg abgelegt. Hmm, und was sagt uns das jetzt ?? :D

  • Ich unterrichte an einem Weiterbildungskolleg und wie Forsch würde ich mit einem ziemlich deutlichen "Jein!" antworten.


    Zu den Weiterbildungskollegs und der Frage des Zeugnisnachschmeissens gibt es eine ganze Menge zu sagen - die Situation ist komplex, deshalb wird das ganze lang. ;)


    Ersteinmal - ja, ganz klar, unsere Klientel ist bei weitem nicht so leistungsähig wie die Schüler auf Regelschulen. Schon aus pragmatischen Gründen; an "normalen" Schulen kann man davon ausgehen, dass die Hauptaufgabe eines Jugendlichen die Schule ist, und jeder Vormittag und größere Teile des Nachmittages als Lernzeit zur Verfügung stehen. Bei uns ist das nicht so - wir müssen davon ausgehen, dass unsere Schüler (wir nennen sie Studierende) ihren Lebensunterhalt verdienen müssen und oft auch eine Familie haben. Die Schule steht neben anderen Dingen und ist hat nicht immer Priorität. Es ist deshalb auch eigentlich vorgesehen, dass es keine Hausaufgaben geben soll - die Konsequenzen z.B. für den Fremdsprachenunterricht sind offensichtlich. Darüber hinaus ist die Dauer unserer Bildungsgänge stark komprimiert. Ein normaler Gang durch die Sekundarstufe I dauert sechs Jahre, mit Sek II insgesamt neun Jahre - zumindest im Augenblick noch. Wir haben drei Jahre für die Abendrealschule und nochmal drei Jahre für's Abendgymnasium! Bei der Einrichtung des zweiten Bildungsweges wurde das ursprünglich mal damit begründet, dass im ZBW Menschen aus dem Beruf stünden, die nötige Kompetenzen über die Lebenserfahrung mitbrächten. Dazu gleich mehr, aber dass man neun Jahre Vollzeit nicht in sechs Jahre Halbzeit packen kann, dürfte klar sein.


    Früher einmal in der gutenaltenZeit(tm) waren unsere Studierende tatsächlich Leute, die mit beiden Beinen fest im Leben standen und noch einmal ihren Bildungsstand verbessern wollten. Das ist jetzt anders, gerade in der ARS. Wir haben uns immer mehr zu einer Schule entwickelt, die den starken Selektionsdruck des Regelschulsystems auffangen und darüber hinaus Integrationaufgaben zu leisten hat. Die ARS beginnt ohne Schulabschluss, wir haben viele ehemalige Sonderschüler - pardon Förderschüler. Die Aufgaben in der ARS sind im Vergleich zu vor fünfzehn Jahren zunehmend sozialtherapeutischer Natur. Das hängt auch mit der Motivation zusammen - der Besuch des Weiterbildungskollegs ist eine Möglichkeit, BaföG zu erlangen aber Schüler-BaföG muss nicht zurückgezahlt werden (zumindest noch nicht.) Da das BaföG vom Land bezahlt wird, raten die Kommunen mit ihren klammen Kassen Bedürftigen natürlich zum Schulbesuch - was allerdings der Lernmotivation nicht unbedingt zuträglich ist. Alles in allem zeigt sich auch hier nicht gerade ein Bild, in dem große schulische Leistungen zu erwarten sind.


    Ein motivierter Studierender, wie dein Vetter, wird in der Situation natürlich Erfolge haben.


    Auf der anderen Seite: unsere Abbrecherquoten sind ungeheuer groß, 60% und mehr. Obwohl unsere Anforderungen im Vergleich zu den Regelschulen tief gehängt sind, schafft es die Mehrzahl der Studierenden anscheinend doch nicht, diese Schulform durchzuhalten. Das hängt u.U. daran, dass das Weiterbildungskolleg sehr große Selbstdisziplin verlangt - neben dem Job Abend für Abend, fünf Tage die Woche dranzugeben, um die Schulbank zu drücken, ist nicht einfach. Wie körperlich anstrengend die Arbeit am Abend ist, merke ich ja an mir selber. Viele Studierende halten das nicht durch - und die ARS hat eine Klientel, die oft an der Regelschule gescheitert ist, weil sie sich Strukturen nicht selbst schaffen konnte... Man sieht, was das für eine pädagogische Aufgabe ist. Vor einem Studierenden, der ARS und AG erfolgreich durchzieht, ziehe ich persönlich jedenfalls den Hut - trotz aller angenommenen inhaltlichen Defizite. Das ist eine Leistung, die Regelschule ist da viel einfacher.


    Persönlich bin ich übrigens auch der Meinung, dass wir an der ARS/AG den "Pisa-Effekt" verstärkt erleben. Ältere Kollegen berichten von ungeheuer dramatischen Einbrüchen in der außerschulischen Bildung, auf die wir ja aus o.g. Gründen zurückgreifen müssen. Ich bin regelmäßig in der Situation, dass ein ganzer Sek. II Kurs mit Erwachsenen Anfang 20 nicht über die nötige Lesekompetenz verfügt, einen Schulbuchtext (Cornelsen Kursbuch Geschichte) schlicht und einfach zu verstehen und wir reden hier nicht über die Quellen sondern über den Verfassertext. Oder daran scheitert, mit Hilfe des Dreisatzes selbsttätig ein Scheibendiagram mit Wahlergebnissen zu erstellen. Es hat mich nicht sonderlich aus der Bahn geworfen, dass sich in einem ganzen Kurs niemand gefunden hat, der jemals vom trojanischen Pferd gehört hätte. Stefan Raabs Witzchen mit dem "Erstwählercheck" sind für mich Alltagsrealität. Wissen - egal welches - ist außerhalb bildungsbürgerlicher Schichten anscheinend gesamtgesellschaftlich nicht mehr da und das ist die Situation, mit der wir am Weiterbildungskolleg zu arbeiten haben. Im Gegensatz zu den Regelschulen können wir nicht mit einem "Friss oder Stirb" auf eigene Vorarbeit zurückgreifen.


    Demgegenüber machen wir natürlich auch die Schulentwicklung durch, die vom Ministerium durchgeführt wird. Das ist ja auch prinzipiell richtig so - die Schule ist ja vor die Wand gefahren worden und muss jetzt wieder in richtige Bahnen gelenkt werden. Aber leider ist der politische Wille der, dass unsere Abschlüsse - mittlerer Bildungsabschluss, Fachhochschulreife, Abitur - identisch zu denen der Regelschulen sein sollen. Dass das nicht funktionieren wird, ist vielleicht klargeworden. Welche Konsequenzen das in der Zukunft haben wird, wird sich zeigen, der Plan(?) der Ministerin zur Qualitätsverbesserung wird an unserer Schulform jedenfalls scheitern. Anbetracht der hohen Schulabbrecherquote wird man allerdings kaum auf eine Bildungsform jenseits der Regelschule verzichten können. Mal sehen, was kommt.


    Zusammenfassend: inhaltlich weniger stark, nachgeschmissen wohl kaum.


    Nele

  • Danke Euch zweien, besonders neleabels für Deine sehr informative und ausführliche Antwort!


    Mein Cousin geht übrigens vormittags ins Weiterbildungskolleg. Da er noch zu Hause wohnt reichte es ihm ein paar Stunden die Woche nebenher zu jobben.

    • Offizieller Beitrag

    Wollte nur mal anmerken, dass ich eure Beiträge sehr interessant fand. Es ist äußerst interessant, mal den Blick von innen auf eine Schulform zu lesen, die man nur vom Papier kennt.


    Danke!

Werbung