(...) Bei Übergriffen von Unbekannten ist mit einer recht hohen Anzeigebereitschaft zu rechnen, im Nahbereich (Familie, Schule, Kirche, Sportverein, etc.) eher nicht, d.h. die meisten Fälle werden im Nahbereich passieren und sich im schlimmsten Fall über längere Zeit fortsetzen. (...)
Ja, wenn jemand ein traumatisches Erlebnis hatte, dann darf er begründet Angst haben (und bitte eine Therapie machen, PTBS geht nicht von allein weg) und ja, wenn man von einer Person weiß, dass sie etwas getan hat, dann darf man vor dieser Person auch begründet Angst haben (deshalb z.B. das erweiterte Führungszeugnis im Lehrerberuf). Ansonsten sollte man seine Angst vielleicht zurückstellen und einfach leben. (...)
Man weiß inzwischen- und ich gehe davon aus, dass dir das auch bekannt ist angesichts deines Hintergrundes- dass sich Traumata bzw, die daraus resultierenden dauerhaften Persönlichkeitsveränderungen auf nachfolgende Generationen übertragen, bzw. an diese weitergegeben werden. Insbesondere in Bezug auf Holocaust-Überlebende und deren Familien wurde diese sogenannte transgenerationale Trauma-Weitergabe* recht gut beobachtet und dargestellt, lässt sich natürlich aber auch für andere Kriegsopfer und deren Angehörige oder Opfer schwerer Gewalttaten und deren Familien beobachten. Natürlich hilft allen Beteiligten eine therapeutische Aufarbeitung, damit eine solche Trauma-Weitergabe zumindest begrenzt werden kann (komplett ausschließen lässt sie sich in Fällen komplexer und/oder schwerer Traumatisierung sicherlich oft dennoch nicht), dennoch werden dadurch natürlich Ängste von klein auf implementiert, die durch kogitive und emotionale Arbeit abzulegen zumindest außerordentlich schwer sein dürfte. Wenn man sich vor diesem Hintergrund noch einmal erneut die Zahlen zu angezeigten sexuellen Übergriffen auf Frauen betrachtet, wenn man sich vor Augen hält, seit wann erst z.B. Vergewaltigung in der Ehe überhaupt als Straftat gilt in Deutschland, wenn man sich bewusst macht, dass die Mehrheit der sexuellen Übergriffe nicht durch den ominösen Fremden geschieht, sondern im Familienkreis (sprichst du ja auch an), weshalb diese oft nicht zur Anzeige gebracht werden (oder erst dann ein Bewusstsein für rechtliche Schritte beim Opfter entstanden ist, wenn die Verjährungsfrist für im Kindesalter erlittene Übergriffe überschritten wurde), wenn man sich bewusst macht, dass PTBS als psychische Erkrankung in einer Kategorie von Erkrankungen klassiert ist, die bis heute als besonders stigmatisierend empfunden wird, weshalb es Betroffenen zusätzlich zur Last des indivuellen Leids oft schwer fällt Hilfe zu suchen und anzunehmen aus Angst als "irre" zu gelten, dann sollte klar sein, dass es viele Kinder gibt, die die unartikulierten, traumainduzierten Ängste der Elterngeneration übernommen haben und selbst oftmals ebenso unreflektiert weitergeben. Sind die dahinterstehenden Ängste unbegründet, weil kein persönliches Erleben dahinter steht, sondern es sich um transgenerationales Weitergeben handelt? Ich denke, diese Frage zu bejahen, wäre zu einfach, denn dazu erleben zu viele Menschen im Laufe ihres Lebens sexuelle Übergriffe in ihren verschiedensten Facetten. Das fängt an mit dem Onkel, der einen immer viel zu eng an sich gedrückt hat, oder ab der Pubertät unangemessene Kommentare über die Brüste der Nichten gemacht hat bei jeder Begegnung, dem jungen Mann, der einem als Kind beim Spaziergang mit dem Hund begegnet ist, das Genital herausholte und strahlend lächelnd die kleine Schwester fragte, ob sie es mal anfassen wolle, dem Kollegen, der unangemessene Sprüche oder Witze macht, die gerade so unangenehm sind, um ein schales, angewidertes Gefühl zu hinterlassen, ohne direkt die Grenze zu sexueller Belästigung zu übertreten...
Ich plädiere persönlich immer dafür zu differenzieren (was auch mir nicht immer leicht fällt), dennoch habe ich großes Verständnis dafür, dass es Opfern schwer fallen kann diese Differenzierung zu leisten, umso mehr, wenn eigene, reale Erfahrungen erlernte Ängste (meine Mutter- sebst schwerst traumatisiert- hat meinen Schwestern und mir beigebracht, dass Männer fast ausnahmslos Schweine seien und im Zweifelsfall immer nur an "das Eine" denken würden; wir mussten alle sehr hart daran arbeiten, dieses einseitige Bild nicht zum beherrschenden Motiv werden zu lassen, was leichter wurde, weil unser Vater ein besonders feiner und anständiger Mensch ist, der ein solches Steretoyp direkt im Alleingang entkräftet) bestätigen, wie ja auch ich selbst das erlebt habe. Natürlich ist ein Generalverdacht abzulehnen, dennoch sollte die berechtigte Empörung und dahinter stehene Kraft zunächst einmal dafür aufgewendet werden, Übergriffe auf Mädchen wie Jungen, Frauen wie Männer besser zu verhindern durch ensprechende präventive Arbeit, Opfer therapeutisch besser zu versorgen (die Anzahl der qualifizierten Traumatherapeuten kann man in meinem Bundesland an eineinhalb Händen abzählen, mit Wartezeiten von mehreren Jahren, um mehr als nur eine Notversorgung im Akutfall zu erhalten, von der Begrenzung der Therapiestunden mal abgesehen), durch Maßnahmen, um insbesondere familiäre Übergriffe früher aufzudecken, als Opfer geschützt anzuzeigen und vor allem im gerichtlichen Verfahren besser geschützt zu werden (das aktuelle Verfahren ist an sich bereits geeignet ein Opfer zu retraumatisieren; gilt im Übrigen durchaus auch für das OEG-Verfahren, welches deshalb von vielen Opfern insbesondere sexueller Gewalt abgebrochen oder gar nicht erst durchlaufen wird, weil es zu belastend wäre, obgleich gerade dieses Verfahren unablässig ist, um beispielsweise die erforderliche therapeutische Versorgung langfristig sicherzustellen).
Nein, ich habe keine Lösungen für die von mir angesprochenen Aspekte, finde aber, diese wären einen 12-seitigen Thread mehr als wert, statt sich am Aspekt des koedukativen Sportunterrichts (der letztlich dort, wo er nicht durchgeführt werden kann eben oft nur ein Symptom darstellt, nicht aber dazu geeignet wäre, am zugrundeliegenden gesellschaftlichen Problem zu arbeiten) aufzuhängen. Ist zugegeben unbequemer und bedeutend weniger plakativ, als sich an der Frage des koedukativen Sportunterrichts (oder gar des Geschlechts von Gynälologen) aufzuhängen.
* Wen das Thema interessiert kann z.B. hier eine Publikation des Bundestages dazu finden.