Grenzen individueller Förderung

    • Offizieller Beitrag

    craff
    Vielen Dank für diesen Beitrag. Auch mir sprichst du aus der Seele.
    Wir erhalten von allen Seiten Druck, sollen jüngere Kinder mit durchschnittlich weiter abnehmenden Fähigkeiten zu Schulbeginn in jahrgangsgemischten Klassen unter "kostensparender Abschaffung" verhaltensauffälliger, sprachauffälliger und lernbehinderter Kinder an mehr und z.T. gleich hohe, z.T. höhere Ziele als vor Änderung des Rahmenlehrplanes (2004) heranführen.
    Grüße,
    Conni

  • hallo,


    auch ich beobachte, dass die anforderungen an uns lehrer immer mehr wachsen und zugleich aber die bedingungen immer schwieriger werden (viele verhaltensauffällige kinder, jahrgangsmischung, noch nicht schulreife kinder,...)...
    in meiner klasse habe ich zwei sehr leistungsschwache kinder. obwohl wir tagtäglich mit der anlauttabelle arbeiten und wir immer wieder aufs neue besprechen, wie das schreiben funktioniert, ich die buchstaben darüber hinaus einzeln thematisiere mit zahlreichen übungen zur motorik, akustik und optik, bekommen diese beiden kinder das mit dem schreiben (und dem lesen) nun nach mehr als einem halben jahr in der ersten klasse einfach immer noch nicht hin...
    ich unterrichte sehr individuell, jeder nach seinem tempo, mit differenzierten arebitsaufträgen und viel individueller hilfe durch mich und fitte kinder. zudem habe ich eine integrationshilfe in der klasse, die sich natürlich hauptsächlich um diese kinder kümmert, die beiden gehen zur sprachförderung und in den förderkurs.
    ich denke, mehr kann ich einfach nicht leisten, die eltern und auch die schulleitung muss akzeptieren, dass diese kinder a) einfach länger brauchen, b) einfach nicht zu den guten schülern zählen oder c) eventuell sogar in einer grundschule falsch sind...
    mich nervt es, dass es immer an uns als lehrern liegen soll, wenn es bei manchen kindern nicht ideal läuft...

  • Also wenn ich das hier so lese...


    ich glaube, ihr leistet echt gute Arbeit! Ich bin wirklich immer beeindruckt, wenn ich diese ganzen Sachen lese.


    Ich differenziere nämlich eigentlich NUR nach Quantität, sehr sehr selten nach Qualität.


    Es ist mir einfach meistens zu aufwändig... wenn überhaupt gibt es höchstens 2 Schwierigkeitsstufen auf dem Arbeitsblatt oder ich lasse z.B. in Mathe einige Kinder schon schwerere Aufgaben rechnen und andere noch die leichteren üben.
    Ich bin der Meinung, dass sich in vielen Bereichen die Kinder von selbst differenzieren.. Beim Freien Schreiben, beim "Noch-mehr-über-die-Sache-in-Sachbüchern-lesen", beim Ausdenken von Analog-Aufgaben etc....


    Wenn ich sowas lese wie "ich habe JETZT ENDLICH 1 bis 1 1/2 freie Wochenendtage" - das ist ja schrecklich! Das kanns doch echt nicht sein!


    Ich akzeptiere meine Wochenendarbeit momentan, weil ich zum ersten Mal ne 2. Klasse hab und ich akzeptiere sie vielleicht, wenn ich dafür am Freitag um 13 Uhr den Stift hab fallen lassen und ich akzeptiere sie von mir aus, wenn Zeugnisse geschrieben werden müssen.
    Aber grundsätzlich finde ich, sollte man ein FREIES Wochenende haben. Und zwar Samstag UND Sonntag.


    Lg, Nic

    • Offizieller Beitrag

    Ich finde diesen Thread auch als SekI-Lehrerin sehr interessant, weil die Förderthematik uns ja auch betrifft.


    Craff, ich fand deinen Beitrag auch sehr interessant, habe aber nicht alles verstanden, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich nicht in der Grundschule unterrichte und selbst noch kein Grundschulkind habe.
    Woran liegt es denn, dass die Schüler in der Grundschule nicht mehr üben können? Bedeutet individuelle Förderung denn nicht auch üben?


    Was hat sich denn so verändert? Sind es größere Klassen, das frühere Eingangsalter, neue Lehrplänen mit höheren Anforderungen, Schüler, die oftmals grundlegende Eigenschaften nicht mitbringen oder was ist es?


    Bitte klärt doch eine Sek-Lehrerin mal auf. :)

  • Ich möchte noch einmal einen anderen Aspekt mit in die Diskussion bringen.
    In meiner jetzigen Klasse kann ich gar nicht anders arbeiten, als extrem individuell zu fördern.
    Ich kann nur für die Grundschule und nur für mich sprechen, ohne meine individuellen Förderpläne wüsste ich gar nicht, wie ich diese brisante, heterogene Mischung jemals auch nur annähernd in Kompetenznähe bringen sollte und könnte.


    Ich empfinde die individuelle Förderung für mich und meine Lerngruppe als zwingend notwendig und halte sie in meinem Rahmen ganz und gar nicht für Augenwischerei.
    Ich habe durch die individuelle Förderung auch nicht zwangsläufig mehr Arbeit, sondern die Arbeit verteilt sich ganz anders und ich muss mir meine Zeit eben eventuell anders einteilen.


    ABER, ich spreche hier von meiner Klasse, die ich als Klassenlehrerin leite, von einer Lerngruppe, einer einzelnen Lerngruppe mit 29 Kindern.


    Und mein Wochenende gehört in der Regel durchaus meiner Familie und nicht der Schule.


    Ich glaube, individuelle Förderung kann durchaus eine Bereicherung für Lehrer und Kinder sein.
    Dass Eltern sie einfordern könnten oder sich beschweren könnten liegt immer im Bereich des Möglichen.
    Gänzlich unabhängig von der individuellen Förderung.


    Übrigens sitze ich in einer Arbeitsgruppe der Bezirksregierung. Dort erarbeiten Lehrer aller Schulformen gerade Diagnose- und Förderkonzepte für die individuelle Förderung auch an weiterführenden Schulen.
    Diese Arbeit ist spannend und bereichernd.


    Auch wenn wir als Grundschullehrer nicht immer mit der Meinung der Kollegen der weiterführenden Schulen konform gehen.
    ;)


    Mir ist dieser Thread hier also eindeutig zu negativ.



    Viele Grüße
    strubbelsuse


  • Das Thema betrachte ich aus Elternsicht - aus Lehrersicht insoweit, als ich heute mit den Folgen geänderter Unterrichtsmethodik und das heißt für mich geringeren Basiskompetenzen konfrontiert werde als vor 15 Jahren. Und da fällt mir als Mutter altersdifferenter Kinder eine Entwicklung auf, die nicht gut ist.


    Mein ältestes Kind besuchte eine sehr leistungsheterogene Klasse mit einigen verhaltensauffälligen und/oder lerngestörten und vielen ausländischen (der Terminus "Migrationshintergrund" war noch nicht erfunden) Kindern in einem Brennpunktbezirk.
    Das schulische Vorgehen war in etwas so: Einführung in ein Unterrichtsthema - für allle - dann zweigeteilte Aufgaben je nach Leistungsvermögen, aber immer noch gleichzeitig für alle am Thema, anschließend weitere Differenzierung - leistungsstarke Kinder erhielten darüber hinaus Extra-Aufgabe, die sie alleine bearbeiten mussten - mit leistungsschwachen wurde anschließend als Kleingruppe extra alles mit Hilfe und am Vorbild des Lehrers eingeübt.
    Im ganzen jedoch immer im Gleichschritt mit gruppenweise unterschiedlicher Differenzierungstiefe.
    Ergebnis: Unabhängig davon, ob die Eltern deutsch sprachen, oder nicht, konnten alle - auch ausländische Kinder - mit unterstützenden Eltern, d.h. denjenigen, die ihre Kinder regelmäßig zur Schule schickten, Pausenmahlzeiten mitgaben etc. letztendlich gute weiterführende Schulen besuchen, haben gute Berufe gelernt und haben jetzt z.T. abgeschlossene Studien. Schwierigkeiten hatten und haben Kinder mit Lernstörungen organischer Art, z.B. bei Alkoholfetopathie - oder stark vernachlässigte und/oder misshandelte Kinder.


    Den Einfluss von angeblich selbstgesteuertem individuellem Lernen von Anfang an - übrigens bei deutlich besseren Ausgangsvoraussetzungen erlebe ich bei meinen jüngeren Kindern im Ergebnis als extreme Verlangsamung. Die Lehrerin erklärt jedem einzelnen alles und macht somit nicht einmal oder dreimal sondern 25mal Unterricht, bei erheblich stärkerer Verunsicherung der Kinder, weil der Lehrerin dabei der Überblick verlorengeht, oder wie geschildert, das normale Aneignen des Unterrichtsstoffs nach Haus ins Belieben und die Fähigkeit der Eltern verlegt wird. Ein solches Vorgehen wäre bei meinem ersten Kind absolut nicht denkbar gewesen.
    Die Lehrpläne haben eher niedrigere Anforderungen, das frühere Leistungsniveau wird nicht mehr angestrebt. Wenn ich freie Texte (z.B. Briefe) meines ältesten Kindes mit altersentsprechenden meiner anderen vergleiche, liegen Welten dazwischen, was schriftlichen Ausdruck und Rechtschreibung anbelangt. Zusammengenommen: ich habe überhaupt nichts gegen Förderung - aber erlebe heute vieles als sehr ineffektiv vermittelt. Außerdem halte ich den Eindruck, die Schülerschaft sei heute so viel inhomogener als früher, für eine Täuschung, die bedingt ist durch Eingangsstufe, vorzeitige Einschulung und eben die Art der Unterrichtsmethodik.
    Zusammengenommen glaube ich aus meinen Erfahrungen sagen zu können, dass gerade schwächeren Schülern etwas weniger Individualisierung gut tut und kräfteschonender für Lehrer ist. Für die leistungsstarken reicht es doch nicht selten bereits aus, wenn der Unterricht nach oben hin nicht völlig verriegelt ist und Aufträge immer ein Stück Öffnung beinhalten. Der Zeitgewinn kann dann wieder den Schwächeren zugute kommen.


    craff

    • Offizieller Beitrag

    Und nun nochmal mein Senf...


    Wie craff festgestellt hat, liegen zwischen "Differenzierung" und "Differenzierung" Welten.


    Zitat

    Original von craff
    Mein ältestes Kind besuchte eine sehr leistungsheterogene Klasse mit einigen verhaltensauffälligen und/oder lerngestörten und vielen ausländischen (der Terminus "Migrationshintergrund" war noch nicht erfunden) Kindern in einem Brennpunktbezirk.
    Das schulische Vorgehen war in etwas so: Einführung in ein Unterrichtsthema - für allle - dann zweigeteilte Aufgaben je nach Leistungsvermögen, aber immer noch gleichzeitig für alle am Thema, anschließend weitere Differenzierung - leistungsstarke Kinder erhielten darüber hinaus Extra-Aufgabe, die sie alleine bearbeiten mussten - mit leistungsschwachen wurde anschließend als Kleingruppe extra alles mit Hilfe und am Vorbild des Lehrers eingeübt.
    Im ganzen jedoch immer im Gleichschritt mit gruppenweise unterschiedlicher Differenzierungstiefe.


    Ähnlich habe ich es in einer Klasse meiner Ausbildungsschule auch erlebt: Während die leistungsstärkeren Kinder an Gruppentischen saßen, weiterführende Aufgaben alleine erledigten und sich dabei halfen, saß die Lehrerin an einem Gruppentisch mit den leistungsschwächeren Schülern und half. Dies war in dieser Klasse möglich und überwiegend erfolgreich.


    In meiner jeztigen Klasse sieht es so aus:
    1. Jahrgangshomogene Stunden:
    - Einführung oder Wiederholung für alle gemeinsam
    - Weiterarbeiten im individuellen Tempo, gegenseitige Hilfe erlaubt und erwünscht
    - leistungsstärkere Kinder erhalten Extraaufgaben, unsere Hefte bieten da schon schwierigere Aufgaben an
    - sehr leistungsschwache Kinder (wären früher an die LB-Schule gegangen) erhalten ganz andere Aufgaben, z.B. rechnen bis 10, wenn die anderen bis 100 rechnen


    Effekt: Manchmal gibt es wirklich tolle Stunden, in denen fast alle Kinder weiterkommen und einige einen "Aha"-Effekt erleben.
    Oft sieht es eher so aus:
    Die ganz lernschachen Kinder benötigen eine ständige, pädagogisch durchdachte Unterstützung und Betreuung, maximal 2 Kinder nebeneinander, sonst wird es zu viel für die Aufmerksamkeit, am besten keiner davor, der sich umdrehen könnte. Alleine kommen sie nicht klar (da könnte ich ihnen maximal Ausmalblättchen geben, was ich im 2. Schuljahr nicht für angemessen halte). Eigentlich müsste ich hier sitzen und helfen.
    Eine Reihe anderer Kinder schafft es oft maximl 1 Minute, in leisem Tonfall miteinander zu reden, dann folgen 2 min Zimmerlautstärke, danach rufen sie durch die Klasse. (Ich bin schon froh, dass sie es jetzt schon 3 min in erträglicher Lautstärke schaffen, das war harte Arbeit von meiner Seite.) Sie wollen gerne helfen, inzwischen lassen sie auch nur noch selten abschreiben, sondern versuchen zu erklären, aber in einer Lautstärke, dass der Rest nicht mehr arbeiten kann. Wir wünschen uns also nun auf jeder Elternversammlung, dass die Eltern das leise Sprechen mit den Kindern üben, denn oft spiegelt die Lautstärke, die die Kinder in der Schule zeigen einfach die Gesprächslautstärke zu Hause (neben laufendem Fernseher) wider. Ich muss also immer wieder die Klasse beruhigen. Ich habe also höchstens 3 min Zeit, um mich einer kleinen Gruppe in Ruhe zu widmen. Meist nichtmal dies, denn:
    Einige Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten fangen an, durch die Klasse zu laufen und ihre Mitschüler zu ärgern, sobald sie alleine oder mit Hilfe des Banknachbarn eine Aufgabe lösen sollen. Diese Kinder muss ich ständig im Blick haben und sie wieder auf ihren Platz verweisen, wodurch ich mich selber beim Erklären unterbrechen muss.
    Wenn ich mir alle verhaltensauffälligen Kinder an einen Tisch setze und mich dazu, geht auch nichts, die lenken sich gegenseitig ab.
    In der jahrgangshomogenen Gruppe sind bei uns inzwischen 2 extrem lernschwache Kinder (LB-Diagnostik darf erst im 3. Jahr in der Schuleingangsphase durchgeführt werden), 14 Kinder mit Lern- oder Verhaltensauffälligkeiten (auch in Kombination). Hinzu kommen 11 Kinder mit durchschnittlichen Leistungen bis sehr guten Leistungen ohne Verhaltensauffälligkeiten.
    Und da kann ich nur sagen: Die Masse machts!


    2. Jahrgangsgemischte Wochenplanstunden:
    - Erklären des Wochenplans für alle, die Aufgaben sind möglichst selbsterklärend gewählt und die Kinder daran gewöhnt
    - individuelle Arbeit an meist gleichen Aufgaben
    - Kinder mit großen Leistungsschwächen bekommen weniger / andere Aufgaben
    - sehr leistungsstarke Kinder bekommen andere / Zusatzaufgaben


    Danach läuft es ähnlich wie oben, mit dem Unterschied, dass ich meine eigene Klasse häufiger zusammen habe als die jahrgangshomogene Gruppe und sie insgesamt oft ruhiger bekomme. Außerdem sind von meinen Erstklässlern einige ruhiger als meine Zweitklässler.
    Aber auch hier macht es die Masse, die Verteilung ist ähnlich der oben erwähnten: 2 extrem lernschwache, 18 Kinder mit Lern- oder Verhaltensproblemen (auch in Kombination), 7 Kinder ohne derartige Probleme.


    Ein Teil der Kinder ist traumatisiert oder lebt unter sehr schwierigen familiären Bedingungen (1/3 meiner Schüler). Diese Kinder können sich zeitweise gar nicht auf das Lernen konzentrieren bzw. haben eben aufgrund dieser Bedingungen große Schwierigkeiten mit sich und der Welt. Hier müsste ich eigentlich Sozialarbeiterin sein und diese Kinder auffangen, um sie zum Lernen in einer Großgruppe zu befähigen.



    Zu der extremen Differenzierungswut:
    Wenn leistungsstärkere Schüler Zusatzaufgaben bekommen, ist das laut Ausbildung (Uni, Vorbereitungsdienst) und laut Schulpsychologie gar keine Differenzierung. Eine richtige, echte, wünschenswerte Differenzierung ist immer direkt qualitativ und nicht quantitativ, das schließt ein, dass man eben extra Arbeitsblätter zum gleichen Thema bastelt und "jedes Kind dort abholt, wo es gerade ist".
    Wenn du nun eine Schulleitung und eine Elternschaft hast, die das fordert, stehst du unter großem Druck. (Ich habe da Glück.)
    Und ja, ich gebe dir recht, dass es nicht so effektiv ist, wenn ich 25 Kindern einzeln ihre Aufgaben und die nächsten Lernschritte erkläre.



    Zitat

    Original von Referendarin
    Woran liegt es denn, dass die Schüler in der Grundschule nicht mehr üben können? Bedeutet individuelle Förderung denn nicht auch üben?


    Was hat sich denn so verändert? Sind es größere Klassen, das frühere Eingangsalter, neue Lehrplänen mit höheren Anforderungen, Schüler, die oftmals grundlegende Eigenschaften nicht mitbringen oder was ist es?


    Einen Teil der Antwort hast du ja oben schon erhalten: Die Masse macht's.


    Und dann kommt hinzu: Die Schüler üben ja. Sie üben im Wochenplan, sie üben auch in den jahrgangshomogenen Gruppen.


    Aber: Wir üben weniger, denn es kostet mehr Zeit, die Klasse zur Ruhe zu bringen (siehe oben), die Streitigkeiten zu klären (immer wieder streiten sich große Gruppen, im Moment schon fast nur noch verbal, da bin ich sehr froh drüber - und wenn das nicht geklärt ist, können einige Kinder sich kaum auf den Unterricht einlassen), es werden mehr grundlegende Fähigkeiten geübt: leise sprechen, einen Stift halten, ein Lineal benutzen, Ordnung am Arbeitsplatz halten, sich melden, die Brotdose und das Malblatt wegpacken, wenn ich es ansage etc. Und es reicht nicht, das mal zu machen, das wird ständig geübt. Ferner sind es viele Kinder von zu Hause gewöhnt, alles auszudiskutieren und immer ihren Willen durchzusetzen. Auch wenn ich darauf im Unterricht nicht eingehe, kostet es Zeit, bis sich die diskutieren-wollenden Kinder wieder beruhigt haben. Außerdem üben wir das Sitzen, nach vorne schauen und Zuhören, auch im zweiten Schuljahr - und es setzt sich in den Folgejahren fort. Für Kinder, die das nicht schaffen, ist nämlich eine Übungsphase gar keine Übungsphase, weil sie ja von der vorherigen Einführung / Wiederholung nicht viel mitbekommen haben.


    Und: Das Üben ist weniger effektiv. Die Konzentration ist schwach, die Merkfähigkeit bei einigen sehr unterdurchschnittlich entwickelt, die Reizüberflutung zu stark: Viele Dinge gelangen nichtmal ins Kurzzeitgedächtnis oder sind dort sofort wieder raus. Letzte Woche haben mich einige meiner Zweitklässler schon wieder wie ein Marsmännchen angeschaut, als ich von ihnen die Selbstlaute hören wollte. Und das haben wir geübt und wiederholt, bis es den meisten aus den Ohren herauskam.


    (Und ich kann natürlich auch hier nur über meine Klasse und die Parallelklasse sprechen.)


    Schönen Sonntag euch,
    Conni

  • Früher habe ich so gearbeitet, wie Craff das in seinem ersten Beispiel beschrieb.... ich habe das als sehr effektiv empfunden und hatte immer das Gefühl, ich differenziere und werde jedem Kind gerecht.


    Als ich im Sommer an meine neue Schule kam, wurde mir erklärt, dass die Schüler hier mit Einstern arbeiten... jeder in seinem Tempo und absolut selbstständig. Die Aufgaben seien selbsterklärend. Und die Kinder seien das aus den ersten beiden Schuljahren der Eingangsstufe bereits so gewohnt.
    Sicher... ich bin flexibel und passe mich an... und das ist ja auch total toll differenzierend und individualisierend, wie es sein muss.
    Ich habe nach einigen Wochen bereits gemerkt, dass einige Kinder fleißig, konzentriert und zügig im Einstern arbeiteten und schon weit gekommen waren... und andere Kinder den Einstern nicht mal in die Schutzhülle gepackt hatten, geschweige denn aufgeschlagen und darin gearbeitet hätten.
    Diese Kinder konnte ich nicht in ihrem Tempo arbeiten lassen, denn sie standen auf der Stelle. Denen musste ich erstmal ein Tempo vorgeben. Und sie mussten lernen, dass sie in einer bestimmtem Zeit ein Ziel erreichen sollen.


    Und dann stellte ich auch ein Defizit bei mir selbst fest: Ich schaffe es nicht, 30 Kinder im Auge zu behalten und immer genau zu wissen, wo welches Kind gerade ist, wo welches Kind Schwächen und Stärken hat, wenn die alle an unterschiedlichen Seiten im Einstern arbeiten. Auch die Hausaufgabenkontrolle... jeden Tag einfach 20 Minuten da weiterarbeiten, wo man gerade ist... überforderte mich und ich hatte keinen Überblick mehr.
    Hut ab vor Lehrern, die das können... und selbstverständlich den Deutschunterricht ähnlich abhalten... und Sachunterricht...
    Aber ich kanns nicht.
    Von daher ist bei mir da die Grenze der individuellen Förderung erreicht, weil ich gar nicht mehr im Überblick habe, wo welches Kind gerade individuell ist.


    ich bin ziemlich schnell dazu übergegangen, den Einstern in Wochenplanarbeit zu machen. Alle Kinder mussten Freitag mit einer bestimmten Seite fertig sein. Wer es nicht geschafft hatte, hatte Frist bis Montag und konnte zu Hause nacharbeiten. Montags war Kontrolltag... da habe ich die Wochenplanaufgaben kontrolliert.
    Die leistungsschwachen Kinder mussten also nicht nur den Einstern in die Hülle packen, sondern auch darin arbeiten. Sie konnten es sich selbst einteilen, aber bis Freitag war halt ein bestimmtes Pensum zu schaffen. Die Pflichtaufgaben MUSSTEN gemacht werden. Und schon hatte ich dieses... jedes Kind in seinem Tempo... ausgehebelt, denn ich gestand diesen Kindern ihre langsame Arbeitsweise ja nicht mehr zu, sondern beschleunigte sie etwas.
    Die schnellen Kinder bekamen Zusatzaufgaben, die der Einstern ja bietet. Nicht nur ein paar Aufgaben mehr... sondern auch auf einem höheren Niveau, aber zum Thema. Und diese Aufgaben habe ich für diese Kinder ebenfalls zu Pflichtaufgaben erklärt, denn sonst machen die das ja nicht.


    Meine Differenzierung läuft also mittlerweile im Wochenplan ab.
    Ich behalte so den Überblick, denn spätestens am Kontroll-Montag merke ich ja, wo bei einem Kind Schwierigkeiten sind und ich kann darauf eingehen und dieses Kind speziell in einer Förderstunde fördern.
    Für die schwächeren Kinder ist das auch gut, denn sie hängen nicht hoffnungslos weit hinter der Klasse zurück... sie sind immer am Ball.Ich merke sogar, dass sie erleichtert sind, denn sie waren von diesem selbstständigen Lernen hoffnungslos überfordert. Die können sich einfach noch nicht selbst organisieren mit ihren acht oder neun Jahren.
    Für die leistungsstarken Kinder ist es auch in Ordnung... die lernen ja eh immer gut und erreichen die Unterrichtsziele, egal, was wir für Methoden anwenden. Und ich habe immer extra Aufgaben für sie und mache regelmäßig Knobel-Förderunterricht.
    Die Eltern meiner Schüler haben mir übrigens auch signalisiert, dass sie so sehr zufrieden sind.
    Und von daher ist das jetzt die Methode, die für mich und meine Klasse prima passt... und ich will gar nicht so ganz genau wissen, ob das denn auch alles ganz korrekt ist.


    Übrigens habe ich IMMER ein freies Wochenende... ich bestehe darauf und arbeite da prinzipiell nicht.
    Ausnahmen gibt es nur in besonderen Zeiten... Vorbereitung Elternsprechtag oder Zeugnisschreiben oder so.
    Und Forenbeiträge schreibe ich natürlich auch ... 8)

    Das Leben ist unberechenbar. Iss das Dessert zuerst!

    • Offizieller Beitrag



    Und jetzt habe ich wieder was gelernt! Vielen Dank für eure Antworten.
    Als ich zu Beginn des Refs ein Praktikum an einer Grundschule gemacht habe (weil mein damaliger Fachleiter irrtümlicherweise dachte, das müsse man machen - es war aber trotzdem interessant, obwohl wir es nicht hätten machen müssen), lief der Unterricht - nach dem, was ich in Erinnerung habe - so ab, wie ihr es in eurem ersten Beispiel schildert.


    Im Prinzip ist das auch das höchste Maß der Differenzierung, das wir in der SekI machen (können) und wie ich es auch mache, wenn ich die Möglichkeit und Zeit dazu habe (im Englischunterricht ist es im 5. Schuljahr z.B. so, dass so viele Lerninhalte zu vermitteln sind, dass man teilweise nur noch durch das Buch hetzen muss X( ).


    Jedenfalls war genau das meine Vorstellung vom Grundschulunterricht und ich kann mir - auch wenn ihr es hier schreibt - immer noch nicht hundertprozentig vorstellen, wie solch individualisierter Unterricht in der Praxis aussieht und aussehen kann.


    Ich frage mich auch immer noch, wie die Kinder, die solchen Unterricht erlebt haben, in der Sek I weiterkommen, wo man (z.B. weil wir in der Regel kein Klassenlehrer- sondern das Fachlehrerprinzip haben) überhaupt nicht so arbeiten kann.

  • Ganz großen Respekt vor eurer Leistung :super:


    Den Tipp mit der Wochenplanarbeit werde ich demnächst auch einmal in einer Klasse in der Sek 1 ausprobieren. Hoffentlich hilfts...


    Gruß !

    Mikael - Experte für das Lehren und Lernen

    • Offizieller Beitrag

    Ach so, eine Frage habe ich noch, nachdem ich alles in Ruhe noch ein zweites Mal durchgelesen habe:


    Also ist die veränderte Situation, also die Beobachtung, dass die Kinder heutzutage angeblich weniger können (was ja im Thread festgestellt wurde) gar nicht, wie von Craff vermutet (ich hoffe, ich habe es richtig wiedergegeben) auf die moderneren Methoden zurückzuführen, sondern eher auf die schlechteren Ausgangsbedingungen?
    Wäre es mit den jetzigen Bedingungen für euch Grundschullehrer einfacher, schwieriger oder schlichtweg gar nicht möglich, nicht so individuell zu arbeiten, wie es gewünscht wird?

  • Zitat

    Original von Referendarin



    Also ist die veränderte Situation, also die Beobachtung, dass die Kinder heutzutage angeblich weniger können (was ja im Thread festgestellt wurde) gar nicht, wie von Craff vermutet (ich hoffe, ich habe es richtig wiedergegeben) auf die moderneren Methoden zurückzuführen, sondern eher auf die schlechteren Ausgangsbedingungen?


    Ich versuch mal eine Antwort - nicht aus Lehrersicht, aber aus Erfahrung mit etlichen "neu" und "alt" arbeitenden Klassen: die Umstrukturierung der Schulen, insbesondere die Eingangsstufe mit klassenübergreifendem Unterricht bedingt eine Art des Unterrichts, die die Schüler quasi ferner vom Lehrer als früher hält, auch Anleitung zum selbständigen Lernen genannt. Dadurch wird das Unterrichtstempo verlangsamt und gleichzeitig die Gesamtzeit an direkter Instruktion durch den Lehrer vermindert. Alle Kinder lernen im eigenen Takt, weil es weniger direkte Taktgebung durch den Lehrer gibt, das wird individuelles Lernen genannt. Damit kommen einige Schüler ganz schlecht klar, es gibt mehr Aufmerksamkeitsstörung, Wahrnehmungsstörung, Disziplinschwierigkeiten, aber auch mehr Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, die bei direktiverem Unterricht eher umgangen werden konnten. Diese Störungen wiederum werden individuell diagnostiziert und mit Förderprogrammen belegt.
    Die Schüler sind nicht schlechter geworden - jedenfalls im Durchschnitt nicht. Das zeigen sämtliche Querschnittsintelligenzuntersuchungen, die den Schülern heute generell ein höheres Intelligenzniveau bei Schuleintritt attestieren als vor ca. 15 Jahren.


    craff

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