Eine vielleicht bescheuerte Frage ...

  • meike: Diskutieren wir jetzt threadübergreifend? Oder müssen alle vor mir gewarnt werden?
    Findest du es angemessen, Menschen immer wieder ihre Fehler unter die Nase zu reiben, wenn sie erkannt haben, dass es Käse war, und dafür um Entschuldigung gebeten haben? Siehe: Mit Kindern über Homosexualität kommunizieren (Beitrag 270 in dem Thread)
    Ich hätte die Beiträge ja auch gelöscht/editiert, aber als ich das schon einmal tat, wurde ich dafür gerügt.

  • Gut, Plattenspieler, ich antworte dir trotz deiner Aussagen im anderen Thread, da die Diskussion hier auf eine sachlichen Ebene stattfindet. Ich habe mit dem Zitieren ein Problem und antworte jetzt mal so. (Piksieben, ist es o.k., dass wir dir den Thread "entführt" haben?)


    Das aktuell dominante Modell in Medizin, Psychologie, Sonderpädagogik etc. (ICF) wurde von nichtbehinderten Menschen entwickelt. Und da jene in der Mehrheit sind, ist es klar, dass die von ihnen entwickelten Modelle sich weiterhin verbreiten. Allein schon aus dem Grund, dass viele behinderte Menschen (ohne die alle in einen Topf werfen zu können) viel mehr Mühe haben, Abitur zu erwerben und zu studieren. Dann auch noch zu promovieren, ist ein Kraftakt, schon ohne Behinderung. Deshalb sind behinderte Menschen in den Wissenschaften völlig unterrepräsentiert. Hinzu kommt, dass viele behinderte Menschen im Lauf der Jahre gesellschaftliche Sichtweisen übernehmen und gelernt haben, nicht zu protestieren, sonst werden ihnen Steine in den Weg gelegt.


    Das habe ich im Referendariat sehr deutlich gespürt. Ich habe meine Seminarleiterin nach einem Jahr darum gebeten, mich wenigstens auf dem Weg zum 2. Examen zu unterstützen, um auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen (außerhalb der Schule!!!) zu haben. Ihre Antwort war: "Aber dann werden Sie ja verbeamtet!" (Ich habe einen Schwerbehindertenausweis.) Es war nur mein Glück, dass ich - wohl aus einer Vorahnung heraus -noch schnell den Magister erworben habe. Das fehlende 2. Examen ist bei der Arbeitssuche ein großer Bremsklotz, selbst im außerschulischen Bereich. Da meine Seminarleiterin und auch die Schulleitung es darauf angelegt haben, mir den Weg zum 2. Examen so schwer wie möglich zu machen und mir von ihnen sogar mit Rausschmiss gedroht wurde, wenn ich nicht selbst gehe, habe ich mich schweren Herzens für einen Abbruch entschieden. Ich bin froh, dass ich meiner Seminarleiterin im persönlichen Schlussgespräch noch sehr deutlich meine Meinung über ihr Verhalten gesagt habe und solange Contra gegeben habe, bis sie darauf nichts mehr antworten und mich nur noch betreten angucken konnte.


    Was den Begriff Lernschwierigkeiten betrifft: Der Übergang zu "geistiger Behinderung" ist ohnehin fließend und was spricht dagegen, einen Begriff mit einer neuen Bedeutung zu belegen? Aber da haben wir es schon, es sind Menschen mit akademischem Hintergrund, die darüber entscheiden, welche Modelle und welche Begriffe anzuwenden sind, und die sind mehrheitlich nichtbehindert. Menschen mit Lernschwierigkeiten befinden sich gesellschaftlich auf der untersten Ebene, ihnen wird nachgesagt, dass sie nicht refektiert denken könnten, also hat ihre Meinung keinen Wert. Da haben es Vertreterinnen des Feminismus einfacher, weil es genügend Frauen mit akademischem Hintergrund gibt, die wortstark auftreten können.


    Der Begriff "sonderpädagogischer Förderbedarf" ist scheußlich und aus Sicht der kritischen Behindertenwissenschaft außerordentlich diskiminierend. Das sage ich als jemand mit zwei Studienabschlüssen der Sonderpädagogik (die keine kritische Behindertenwissenschaft ist). Es würde genügen zu sagen, der und der hat diese und jene Behinderung (z.B. ist blind, ist gehörlos, sitzt im Rollstuhl, kann den Rollstuhl nicht selbst bedienen, kann nicht lesen und nicht schreiben), also müssen diese und jene Maßnahmen umgesetzt werden (z.B. Gebärdensprache, Lichtsignale, Braille, Audiobücher, Leichte Sprache, Rampen usw.) statt ihn mit scheinbar schöneren, aber umso mehr verbesondierenden Begriffen wie "sonderpädagogischen Förderbedarf" zu belegen und damit zu diskreditieren.

  • Vielen Dank für deine Beiträge, Powerflower! Die Links sind sehr interessant, die "Leidmedien" bringen die Sache gut auf den Punkt und bei Peter Radtke lese ich, dass es halt nicht so einfach ist.


    Das ist es wirklich nicht. Ich erlebte bei einer Veranstaltung, dass ein blinder Mann darum bat, zur Toilette geführt zu werden. Da stand einer auf und sagte: "Klar. Sagen Sie mir, was ich tun soll. Ich habe noch nie einen Blinden geführt." Ich habe diese erfrischende, unverkrampfte Offenheit bewundert und gedacht, dass ich in lauter Unsicherheit darüber, was ich sagen und tun soll, in Krampf erstarre und dass damit niemandem geholfen ist. Es ist sicher wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, was und wie man redet und - speziell als Journalist - schreibt, und einige Beispiele bei den "Leidmedien" sind mir auch schon oft aufgefallen (speziell dieses "er bewältigt sein Schicksal heldenhaft, obwohl ..." verursacht mir immer Widerwillen).


    Diese Sprachregelungen sind Ausdruck eines Prozesses, man kann sie nicht verordnen. Einige Ausdrücke setzen sich durch, andere nicht. Es ist nicht gelungen, die Kalorien durch Joule zu ersetzen, und auch das Binnen - I will eigentlich keiner mehr haben. Gemäß "Euphemismuskarussell" ist es nur eine Frage der Zeit, bis "Inklusion" auch zum Schimpfwort verkommt und ersetzt werden muss.


    Die Jugendlichen haben feine Antennen und ihre Sprache bringt manches zum Ausdruck. Sie lassen sich von Tabus nicht abschrecken. Natürlich bleiben wir mit ihnen im Gespräch und machen sie aufmerksam, wenn sie gedankenlos vor sich hin plappern und -schimpfen und ihre Sprache kränkend und diskriminierend ist. Aber unser Einfluss ist beschränkt. Die Jugendlichen untereinander haben ihren eigenen Sprachcode, und der Klang, den ein Wort für sie hat, ist ein anderer als das, was ich da heraushöre. Es ist ein bisschen wie eine Fremdsprache. Man muss da erst richtig eintauchen, bis man begreift, wie bestimmte Ausdrücke gemeint sind. Bei der Jugendsprache ist das nicht so einfach, weil die Vokabeln größtenteils die unsrigen sind, und sich doch etwas anderes dahinter verbergen kann (nicht muss).


    In meiner Gegenwart reden die Jugendlichen in der Regel "zivilisiert", aber meine Tochter zum Beispiel reagiert ziemlich grantig, wenn man diese Jugendlichenausdrücke, die man eben doch ab und zu aufschnappt, mal selbst benutzt. Das ist peinlich!


    Gerade in Schulen ist man in Deutschland mit der Barrierefreiheit noch nicht sehr weit. Bei uns ist ein gebrochener Fuß schon ein Problem, weil einige Räume tatsächlich nur über Treppen zu erreichen sind. Irgendwie wird es sich hoffentlich weiterentwickeln. Vielleicht reden Jugendliche nicht immer so, wie wir das wünschen. Aber ich bin trotzdem sicher, dass sie trotzdem an dieser Entwicklung mitarbeiten werden. "Das ist ja behindert!" ist ein gräßlicher Ausruf, aber - und das war auch mein Ansinnen bei meinem Ausgangsposting - es könnte so etwas heißen wie "Das ist absurd, muss sofort geändert werden, ist menschenunwürdig, ..." Und wir hören nur den Tabubruch und das politisch Unkorrekte.


    Und jetzt im Moment, wo ich dies schreibe, verunsichert es mich auch schon wieder. Verstehst du das?

  • Die Jugendlichen untereinander haben ihren eigenen Sprachcode, und der Klang, den ein Wort für sie hat, ist ein anderer als das, was ich da heraushöre. Es ist ein bisschen wie eine Fremdsprache. Man muss da erst richtig eintauchen, bis man begreift, wie bestimmte Ausdrücke gemeint sind.


    Diese Jugendsprache ist oft auch unreflektiert. Ich erinnere mich an "meinen Jugendslang". Ein stehender Begriff war: "Da arbeitet man bis zur Vergasung." Das war witzig gemeint. Verstanden war es von uns so, dass man arbeitet, bis man sich selbst auflöst. Erst später ist mir die brutale Konnotation zur und implementierte Verharmlosung der Judenvernichtung im Dritten Reich bewusst geworden.

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

  • [Diese Jugendsprache ist oft auch unreflektiert. Ich erinnere mich an "meinen Jugendslang". Ein stehender Begriff war: "Da arbeitet man bis zur Vergasung." Das war witzig gemeint. Verstanden war es von uns so, dass man arbeitet, bis man sich selbst auflöst. Erst später ist mir die brutale Konnotation zur und implementierte Verharmlosung der Judenvernichtung im Dritten Reich bewusst geworden.


    Das war kein Jugendslang, auch nicht eurer. Der Ausdruck ist viel älter, schau mal hier. Ich kann mich selbst erinnern, diesen Ausdruck erstmals von der Mutter einer Freundin gehört zu haben.


    Es mag gedankenloses Nachplappern sein, aber dazu gehörte zuerst mal das gedankenlose Vorplappern.

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