Lug und Trug im Lehramt

  • Der sehr gute Haupschüler bekommt durch die Entwertung seines Abschlusses beispielsweise keine Bankkaufmannllehre mehr.

    Die bekam er maximal bis Mitte der 1960er-Jahre, als noch mehr als 60% aller Schüler die Haupt-(Volks-)schule besuchten. Banken haben schon seit Jahren einen guten Realschulabschluss oder Abitur als Einstellungskriterium vorausgesetzt.



    Dass Eltern ihre Kinder nicht mehr auf die Hauptschule, sondern mindestens auf die Realschule schicken, liegt aucgh daran, dass selbst gestandene Lehrer (die es eigentlich besser wissen sollten) behaupten, dass Schüler mit Hauptschulabschluss keine Ausbildungsstelle bekämen.


    Wenn alle Welt behauptet, dass man nur mit Abitur zum glücklichen Menschen werden kann und man ohne Abitur und Studium niemals seinen Lebensunterhalt wird bestreiten können, darf man Eltern und Schülern nicht vorwerfen, wenn sie eine entsprechende Schullaufbahn einschlagen.


    Gleichzeitig habe ich keinerlei Mitleid mit Handwerksbetrieben, die sich darüber beklagen, dass sie keine geeigneten Lehrlinge mehr bekommen, als Einstellungskriterium jedoch mindestens Abitur oder Realschulabschluss bis 2,0 voraussetzen - um den eigenen Aufwand für die Ausbildung des Nachwuchses möglichst gering zu halten.
    http://www.wiwo.de/erfolg/beru…lehrstellen/11627532.html


    Ich habe auch keinerlei Mitleid mit Handwerksbetrieben, die sich darüber beklagen, dass ihre Auszubildenden nach der (recht teuren) Ausbildung den Betrieb wieder verlassen haben, um ein Studium aufzunehmen - sie jedoch immer nur Abiturienten eingestellt hatten.


    Eine Bitte an alle: Hört auf, die Hauptschule tot zu reden. Das habt ihr durch euer Geschwätz schon erreicht.
    So wurde auch der Irrtum verbreitet, an der Hauptschule gäbe es nur noch Idioten.

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

    Einmal editiert, zuletzt von alias ()

  • Wenn jetzt allerdings meine Klasse dauerhaft keinerlei Lernziele erreicht, wie das hier beschrieben wurde, dann muss ich meinen Unterricht umstellen. Ob mir das jetzt passt oder nicht. Dann ist die bisherige Herangehensweise für diese Schülergruppe nicht geeignet.

    Ich habe schon Tests von Kollegen gesehen, bei denen ich mich gefragt habe, was denn als Antwort erwartet würde. Da waren die Fragen derart gedrechselt und verquer (um den Schülern ja keine Möglichkeit zu geben aus der Frage die Antwort ableiten zu können), dass eine korrekte Antwort schlicht unmöglich wurde.


    Wenn in einem Test meine Schüler bei einer Frage/Antwort in großer Zahl daneben liegen, hinterfrage ich daher zunächst meine eigene Fragestellung und rekapituliere meinen Unterricht. In der Regel finde ich es dann angemessen, diese Frage mit einer geringeren Punktzahl anzusetzen und als "Bonusfrage für besonders intelligente Schuler" zu werten.


    Wenn jedoch der Großteil meiner Fragen von fast allen Schülern falsch beantwortet würde, müsste ich mich zu Recht fragen, ob ich in den letzen Wochen überhaupt unterrichtet habe :pirat:

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

  • Ich für meinen Teil verschwende eigentlich relativ wenig Arbeitszeit in Überlegungen, ob jetzt eine bestimmte Zahl "Leistung" repräsentiert, ob das Verschieben von Kommazahlen durch die Regierung oder einer neuer Ansatz, das zu formulieren, was in der Schule gelernt werden soll, den allgemeinen Kulturverfall hereinbrechen lässt oder auch nicht. Ganz ketzerisch sage ich auch mal, dass Noten und Bewertungen das sind, was ich bei meiner Arbeit am unwichtigsten finde.


    Ich vermittele in meinem Unterricht bzw. versuche da das zu vermitteln, was ich an meinen Fächern für wesentlich halte: Kommunikationsfertigkeiten in Englisch, Freude an und ein besseres Auge für die Literatur; nicht nur die Fähigkeit, die Vergangenheit in ihrer Bedeutung für die Gegenwart zu verstehen, sondern dieses Verständnis auch kritisch rational zu definieren und auszusprechen. Kurzum, meinen Schülern auf dem Weg zu helfen, kritische, denkende Menschen zu werden, für die die Fragen wichtiger als die Antworten sind.


    Jemand bekommt ein Abitur, auch, wenn der Taschenrechner sagt, er verdient es nicht? So fucking what.


    P.S. Nein, das ist keine Utopie und ich bin nicht John Keating (fürchterlicher Film). Ich bohre nur jeden Tag geduldig dicke Bretter und weigere mich, über die Misserfolge, die ich dabei auch habe, jammernd Tränen zu vergießen.

  • Ich kann Deiner Argumentation nicht folgen ...
    http://www.faz.net/aktuell/ber…-gute-noten-13640199.html


    Besserer Schnitt und prozentual häufiger die 1.0 in Bayern. Aber halt ... das heilige Zentralabitur, ich vergass. Kannst Du denn persönlich beurteilen, wie sich die Qualität der gymnasialen Schulbildung in Berlin von 2002 bis 2014 verändert hat?

    Ich werfe noch ein weiteres Argument in den Ring. "Das" Zentralabitur (so es denn ein solches über fast alle Fächer gibt, z.B. in Niedersachsen) gibt es erst seit ca. 2005 und später
    (mit Ausnahme von Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern, dort wurde es seit 1990 beibehalten). 2002 konnte jede Schule die Schwierigkeit der eigenen Abiaufgaben an den eigenen Unterricht anpassen (das beginnt schon mit unklaren Aufgabenstellungen) und damit auch die Punkteverteilung beeinflussen, damit es bloß nicht zu viele Einser gibt. Dies wird nun durch Vorgaben aus den Lösungsvorschlägen geregelt (Operatorenliste, Punktevergabe,...), so dass eine größere Klarheit darüber herrscht, wie die einzelnen Bewertungen zustande gekommen sind.


    À+

    • Offizieller Beitrag

    So lange es keine zentralisierten, extern korrigierten (!!), standardisierten Prüfungen gibt, ist das eh alles Augenwischerei.
    Ich verschwende da keine Zeit mehr drauf, mir einzubilden, wir machten da irgendwas Objektives und hielten "DAS Niveau", das wir ja nicht verschenken dürften.


    Ich arbeite in einer koordniert arbeitenden, sehr gut zusammenarbeitenden Fachschaft und wir können immerhin behaupten, dass wir 20+ Englischlehrer ungefähr dasselbe verlangen und serh ähnlich bepunkten. Das beruhigt unsere Schüler. Damit ist es das schon wert. Und in dem Maße standardisiert, wie es in einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Schule Sinn macht. Beim Ringtausch im Abi merken wir aber auch, wie groß die Unterschiede von Schule zu Schule sind. Wir hatten schon Ringtäusche, bei denen alle unsere Kollegen den Kopp schüttelten über das Punktekonfetti, das da auf die Schüler hereinregnete - und solche, bei denen wir den Kopp schüttelten, über die absurd wirkenden Ansprüche, die da an die Schüler gestellt wurden.


    Es gibt überhaupt keine real existierenden, flächendeckenden "Standards".


    Und ansonsten halte ich es mit Nele:

    WE are the music-makers, and we are the dreamers of dreams,
    World-losers and world-forsakers on whom the pale moon gleams
    yet we are the movers and shakers of the world for ever, it seems.

  • Was genau kannst du nicht nachvollziehen? Das Verschenken von Bildungsabschlüssen, wie es besonders in den neuen Bundesländern praktiziert wird, stellt natürlich eine Entwertung des Bildungssystems dar.

    Lustig, dass das "in den neuen Bundesländern" genau andersrum gesehen wird. In Sachsen beispielsweise kann man kein Fach abwählen- um das Abitur zu bekommen, muss man alles belegen. Und vergleiche mal die Lehrpläne von verschiedenen Bundesländern, ich wette, die Unterschiede sind nicht so groß, dass sich darüber zu reden lohnte, außer um sich in einem ewigen Vorurteile-Reigen einzureihen, was in Bayern so toll und in Hessen so doof ist.


    Und auch sonst halte ich die Aussage für an den Haaren herbeigezogen. Wo steht denn geschrieben, dass Abschlüsse verschenkt werden? Hast du Belege? Hast du selbst schon mal Hauptschulabgänger kennengelernt und miteinander verglichen? Oder Lehrlinge ausgebildet?


    Das Problem ist doch ein ganz anderes, nämlich dass man in strukturschwachen Gegenden mit einem Dr.-Titel gar keine Arbeit findet und mit einer Lehre nur einen beschissen bezahlten Job auf Montage ergattern kann.


    Du misst der Schule und ihren Abschlüssen ein bisschen zu viel Bedeutung bei, fürchte ich.

  • 2002 konnte jede Schule die Schwierigkeit der eigenen Abiaufgaben an den eigenen Unterricht anpassen (das beginnt schon mit unklaren Aufgabenstellungen) und damit auch die Punkteverteilung beeinflussen, damit es bloß nicht zu viele Einser gibt.

    Um hier mal die Sichtweise einiger Bayern zu erklären: Wir wurden als Schüler geradezu indoktriniert mit der Idee, dass die Lehrer in Niedersachsen, Bremen, etc. die Prüfungsaufgaben ja passend zu ihrem Unterricht stellen und deshalb die SuS vorher schon wüssten, was drankommt - alles pipieinfach also. Wir Bayern sind dagegen viel schlauer, weil wir ja geistig flexibel sein müssen und uns den Ansprüchen eines beliebigen Lehrers anpassen können müssen. Ich unterrichte heute in einem System ohne zentrale Prüfungen und kann nur noch milde lächelnd den Kopf über solche (Wahn-)Vorstellungen schütteln. Zentrale Prüfungen = teaching to the test. ;)


    Wir müssen bei uns im Kanton alle zwei Jahre pro Fachschaft eine gemeinsame Prüfung schreiben, angeblich zu Zwecken der Qualitätskontrolle. Mir hat noch keiner erklären können, warum das die Qualität unseres Unterrichts beeinflussen soll. Dass es um Kontrolle geht, ist klar, ja ... aber Qualität? De Fakto haben wir da nichts zu befürchten. Wir pflegen regen Austausch von Ideen und Unterrichtsmaterial in der Fachschaft und stellen alle auch ähnliche Anforderungen in den Prüfungen.


    Ich habe mir letztens auch mal den Spass gegönnt, das Chemie-LK-Abi 1999 aus Bayern rauszusuchen und konnte ganz zufrieden stellen, dass meine Schwerpunktfach-Zweitklässler zum jetzigen Zeitpunkt exakt die Hälfte der Aufgaben relativ problemlos bearbeiten können. "Früher war alles besser" kann ich damit für mich persönlich nicht bestätigen. :)

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