@WillG Ich lese Deine Beiträge sonst echt gerne und kann mich wahrscheinlich zu 90 % Deinen Meinungen anschliessen. Umso mehr irritiert es mich, dass Du an dieser Stelle auch auf den Zug der Polemik drauf hüpfst. Willst Du damit andeuten, dass eure Realschüler in Mathe nicht mehr können als bis 100 zählen? Das täte mir sehr leid für eure Realschüler. Mein Neffe hat in Bayern den qualifizierten Hauptschulabschluss gemacht, dem hat man zum Glück mehr als das beigebracht. Aber keine Sorge, der macht nur ne Berufslehre zum Chemikanten. Aber jetzt mal ohne Zynismus. Selbstverständlich beherrschen unsere Fachmaturanden in Mathe mehr als den Zahlenraum bis 100. Matritzenrechnung wäre jetzt ein Gebiet in der Mathe, das die im Gegensatz zu den Gymlern nicht mehr lernen. Ehrlich jetzt ... muss ein Grundschullehrer Matritzenrechnung können um einem Kind das Rechnen beizubringen? Ich habe Matritzenrechnung in der Schule gelernt (Mathe LK - juhuu!!) und habe während der Promotion erst begriffen, wozu man das gebrauchen kann. Weiss irgendeiner der hier anwesenden Chemielehrer was eine Fourier-Selbstentfaltung ist? Nein?? Du meine Güte ... wie könnt ihr überhaupt Chemie in der Oberstufe unterrichten. Das ist jetzt die gleiche Art von Argumentation wie "wer Lehramt Grundschule nicht an der Uni studiert hat, beherrscht nicht mehr als den Zahlenraum bis 100".
Ich nehe mal an, dass du meinen Beitrag einfach missverstanden hast, sonst müsste ich dir vorwerfen, dass du mir die Worte im Mund umdrehst. Polemik war das jedenfalls nicht. Ersten spreche ich mit dem Beispiel des "Zahlenraum bis 100" explizit von der Grundschule, nicht von Realschule oder Abitur/Matura. Warum du das Beispiel jetzt auf die Sek I/II beziehst, verstehe ich deshalb nicht. Zweitens war das eben nur als Beispiel gedacht, als "pars pro toto". Klar machen Grundschullehrer mehr als nur den Zahlenraum bis 100, aber diese Erkenntnis unterstützt doch meine Argumentation nur noch. Also versuche ich nochmal, diesmal mit Beispielen aus der Sprache, damit sie eben differenzierter ausfallen. Was weiß ich schon von Mathematik:
Mein Fachstudium ist für meine Arbeit in der Sek I/II meiner Meinung nach unabdingbar, gerade weil ich so viel mehr gelernt habe als der Lehrplan fürs Gymnasium und die Bildungsstandards für die gymnasiale Oberstufe einfordern. Das hat mehrere Gründe:
1.) Es kommt immer mal wieder vor, dass Schüler Fragen stellen, die mehr oder weniger weit über den Lehrplan hinausgehen. Das müssen gar keine sehr abwegigen oder speziellen Fragen sein. Erst letzte Woche hat mich ein Schüler in der Unterstufe (!) gefragt, ob die Präteritumsform von "saugen" nun "saugte" oder "sog" heißt und warum es da zwei Formen gibt. Eine qualifzierte Antwort hat etwas mit Flexionsmorphologie zu tun, mit mittelhochdeutschen Ablautreihen, mit Sprachwandel und mit Sprachpragmatismus. Diese Antwort konnte ich ihm geben, natürlich deutlich heruntergebrochen und ohne eine Aneinanderreihung von Fachbegriffen, die er ohnehin nicht braucht. Aber in der Sache hat er eine korrekte, wenn auch vereinfachte Antwort erhalten. Wenn es ihn noch weiter interessiert hätte, hätte ich es ihm erklären können. Ab einem bestimmten Punkt hätte ich wohl selbst nochmal nachlesen müssen, aber ich hätt sofort gewusst wo, ich hätte das betreffende Fachbuch in meinem Bücherregal im Arbeitszimmer gehabt und es hätte mich nicht mehr als 20min gekostet, mich wieder in die Materie einzuarbeiten.
2.) Für den Unterrichtsalltag, also auch wenn Schüler keine vertiefenden Fragen stellen, benutze ich jeden Tag, ohne Ausnahme, das vertiefte Verständnis für mein Fach bei der Unterrichtsplanung und bei der Unterrichtsgestaltung. Wenn ich eine neue Lektüre vorbereite, sehe ich beim ersten Lesen welche Motive besonders relevant, wie die Motive miteinander verknüpft sind und welche Bezüge zum Epochenhintergrund bestehen. Ich erkenne, allgemein formuliert, die narrative Struktur des Textes, denn die Auseinandersetzung mit literarischen Strukturen habe ich im Studium grundlegend und tiefgehend gelernt. Dieses Wissen brauche ich sowohl, wenn es um Texte von Shakespeare oder Goethe geht als auch - weniger abstrakt - wenn ich die "Vorstadtkrokodile" für die fünfte Klasse vorbereite. Ich nutze dieses Wissen, um die Schwerpunkte meiner Unterrichtsreihe festzulegen, die Progression zu planen und um eventuelle Schwierigkeiten zu antizipieren. Im Unterricht selbst hulft es mir, flexibel auf Interpretationsansätze und Thesen der Schüler zu reagieren, statt nur die gängige Interpretation in der Sekundärliteratur zu vermitteln. Das kann ich mit einem gewissen Selbstbewusstsein tun, da der Kollege, der die Lektürehilfe geschrieben habt, im Regelfall selbst nicht besser qualifiziert ist als ich. Selbst wenn ich literaturwissenschaftliche Fachartikel von promovierten oder habilitierten Autoren heranziehe, kann ich beurteilen, ob die Herangehensweise nachvollziehbar und die Argumentation schlüssig ist. Einen kritischen Umgang mit der Forschung habe ich nämlich ebenfalls im Studium gelernt und in Seminararbeiten, in Klausuren und in meiner Examensarbeit unter Beweis stellen müssen. Sicherlich nicht so tiefgehend wie in einer Dissertation oder Habilitation, aber das grundlegende Handwerkszeug habe ich gelernt. Und das brauche ich dann eben, um meinen Unterricht offen für andere Meinungen und Ansätze gestalten zu können.
3.) Dieses Verständnis für die Grundlagen der Fachwissenschaft halte aus den genannten Gründen ich für unabdingbar, ganz egal wie abstrakt oder kompliziert die Lehrplaninhalte nun eigentlich sind. Ob ich jetzt Kommasetzung, Subjekt-Prädikat-Objekt oder Pragmatismus und Sprachphilosophie unterrichte, stellt dann nur noch unterschiedliche Anforderungen an die reinen Inhalte an. Diese Inhalte sind aber meist tatsächlich nicht das, was das Studium vermittelt. Wenn ich nun in der Oberstufe Kommunikationsmodelle unterrichten muss, dann kann ich nur sehr bedingt auf Inhalte aus Seminaren zurückgreifen, weil wir so etwas nur gestreift haben. Aber ich kann die Texte von Watzlawick, Grice, deSaussure etc. lesen und problemlos verstehen, weil ich grundlegend verstanden habe, wie Sprache funktioniert. Der Grundschullehrer, der Subjekt-Prädikat-Objekt unterrichtet, muss in der Lage zu sein, zumindest für sich den Unterschied zwischen einem Objekt, einem Adverb und einem Prädikativ zu erkennen, um dann entsprechend entscheiden zu können, ob er das Prädikativ überhaupt unterrichtet oder ob er hier differenziert. Er muss die Regeln zu Groß- und Kleinschreibung in den Kontext von Syntax und Lexik und Morphologie setzen können, um eine sinnvolle Entscheidung darüber zu treffen, welche Regeln er wie vermittelt. Sonst hast du jemanden, der nur einfache Regeln ohne Kontext vermitteln kann. Das kann meiner Meinung auch nicht Sinn der Arbeit in der Grundschule sein. Das meine ich mit Grundverständnis für das Fach und seine Strukturen.
4.) Bei den Grundschulkollegen kommt aufgrund der jüngeren Schülerschaft die Notwendigkeit hinzu, ein verlässliches Verständnis für Entwicklungspyschologie, Lern- und Begabungspsycholgie, Pädagogik, Didaktik und vermutlich noch anderen Bereichen zu haben, das weit über das hinausgeht, was ich gelernt habe. Das, was ich in diesen Bereichen gelernt habe, könnte man nämlich durchaus im Rahmen einer Ausbildung vermitteln - bei mir war es im Rahmen des Refs. Das merke ich an mir selbst aber auch. Ich kann bei der Beratung von Schülern mit LRS/Legasthenie ein paar allgemeine Hinweise geben und bei der "Diagnose" schematisch ein paar Grundsätze anwenden. Differenziert und verlässlich ist das nicht, denn mir fehlen die Hintergründe in der Gehirnforschung, in Fragen des Schriftspracherwerbs etc. Könnte ich mir das anlesen? Klar, wahrscheinlich wäre das gar nicht so schrecklich aufwendig, aber das liegt wiederum daran, dass ich im Rahmen meines Studiums gelernt habe, wie ich mich eigenständig in neue Fachgebiete einarbeite. Das ist bei Ausbildungsberufen verständlicherweise kein Schwerpunkt. Auch hier ist also die universitäre Ausbildung hilfreich, wenn nicht sogar notwendig.
5.) Mein Argument ist explizit nicht, dass die Grundschulkollegen gefälligst studieren sollen, weil ich es auch getan habe (- ich Beziehe mich auf deine Analogie mit deiner Promotion), sonder dass ich verstanden habe, wo ich mein Fachstudium im Beruf für eine wichtige Grundlage halte. Das übertrage ich jetzt auf mein Verständnis / meine Vorstellung von der Arbeit der Grundschulkollegen. Wenn jemand tatsächlich der Meinung ist, ein Sek II-Lehrer müsste promoviert haben, um Wissenschatspropädeutik angemessen zu vermitteln, höre ich mir die Argumente gerne an. Aber ich nehme an, das war wiederum nur Polemik von deiner Seite.