Sprachunterricht statt Rechtschreibreform!

  • ... muss doch mal unsere Forenmeister bitten, so ein Icon für "generelle politische Diskussionen" einzubauen...


    Ihr Lieben,


    im Moment lerne ich an Berufskolleg u. dgl. die andere Seite des Lebens kennen, von der man am Gymnasium einiges hört, mit der man aber wenig zu tun hat. Während sich unsere hochverehrten Oberstudienräte weiter in diversen Kommittees für viel Geld um die Feinheiten der Rechtschreibreform streiten, sitzen nun vor mir die Hauptschulabsolventen, bei denen die Schreib- und Lesefähigkeit an Analphabetismus grenzt.


    Sorry, ich muss mal Wut auf dieses System loswerden, weil ich mir das vorher so einfach nicht vorstellen konnte. Ich verteile am Gymnasium eine Sechs, wenn in der Oberstufe eine Arbeit in der Fremdsprache einen Fehlerquotient von 7 und mehr hat. Hier schaffen es 18jährige in 15 Minuten so gerade, einen zwischen 15 und 54 Wörtern langen freien Text (Thema: Beschreibe einen Mitschüler, also nix Wildes) in der Landessprache zu verfassen, der Fehlerquotient schwankt zwischen 15 und 33.


    Viele, keineswegs alle, Ausländer. Einige, keineswegs viele, ein bisschen dumm. Soweit ich aus den ersten Texten schließen kann, keine LRS-Leute im engeren Sinne. Sondern lauter Vernachlässigte, Herumgereichte, nicht rechtzeitig und lang genug Deutsch Gelernte, zu oft Geschwänzte, nie Arbeitshaltung Erworbene. Keine "Asis" - sie sind sogar wirklich lieb. Zwei Drittel sind nicht in der Lage, die grundlegenden Aussagen eines Kommentars in der Lokalzeitung zu verstehen. Die Textform "Personenbeschreibung" ist ihnen fremd, der Perspektivenwechsel "Beschreibe jemand anderen so, dass man ihn erkennen kann, auch wenn man ihn zum ersten Mal sieht" fällt den meisten sehr schwer. Und die Jungs sollen wählen gehn ????????


    Ich halte es für ein Verbrechen, Millionen für eine Rechtschreibreform auszugeben, bei der es letzten Endes um Formalien geht (einzig die Getrennt- und Zusammenschreibung berührt die Verständnisebene, und ausgerechnet da ist die neue Lösung sehr unübersichtlich), wenn hier gleichzeitig einer ganzen Bevölkerungsschicht die Fähigkeit zur schriftlichen Kommunikation flöten geht. Und wenn's "nur" auf sprachlicher Ebene wär... aber das eingeschränkte Vokabular, der Verlust von Nebensatzkonstruktionen (nach dem, was die Kollegen mir erzählen, auch in der Sprache ihrer Eltern - bilingual halbsprachlich oder wie das heißt) usw., macht die Sache mit dem abstrakten Denken verdammt schwierig.


    Wahrscheinlich sitzen jetzt die Kollegen von der Hauptschule da und wundern sich, warum ich so einen alten Hund ausgrabe, das sagen sie bestimmt schon seit Jahren. Ich frage mich, wie man die Gymilehrer dazu kriegen könnte, das Geliche zu sagen (und dafür auf etwas Geld und ein paar "Spitzen" im heren Gymnasium zu verzichten). Was haltet ihr von folgenden Thesen:


    1. Alle Lehrer durchlaufen zumindest in Form eines mehrwöchigen Praktikums sämtliche Schulformen.


    2. Sprachkompetenz (im Sinne von Textverständnis und Kommunikationsfähigkeit, bugger the Rechtschreibung) wird zum "sine-qua-non" - Schüler nehmen erst dann am regulären Unterricht teil, wenn hier die Grundlagen gesichert sind.


    3. Sämtliche Gremien, Arbeitskreise usw. zur Rechtschreibreform werden sofort aufgelöst, stattdessen gehen alle Gelder in die frühe Sprachförderung.


    4. Und - jetzt bin ich gespannt, woher ich Prügel krieg - kein Wahlrecht ohne Nachweis einer grundelgenden Medien- und Politikkompetenz (den Wählerführerschein müssen natürlich alle ablegen...)


    Sich erst mal beruhigen müssend,
    w.

    Frölich zärtlich lieplich und klärlich lustlich stille leysejn senffter süsser keuscher sainer weysewach du minnikliches schönes weib

    Einmal editiert, zuletzt von wolkenstein ()

  • Sehr schöne Forderungen, aber leider wohl in den Wind gesprochen, weil es eben kostet.
    Ich frage mich zurzeit, wie ich einem Pakistani in Kl. 3 gerecht werde, der altersmäßig in die vierte, leistungsmäßig in die erste gehört und der nur Urdu spricht. Da gibt´s noch nicht einmal einen Schüler, der übersetzen kann. Dem Jungen soll ich Rechnen und Lesen in einer ihm völlig unbekannten Sprache beibringen, und das alles so nebenbei. Da war der Schwimmunterricht schon eine nette Abwechslung. Er konnte zwar nicht schwimmen, hatte aber viel Spaß!
    Was hat der Junge für Zukunftsaussichten? Siehe oben...

  • Zitat

    wie ich einem Pakistani in Kl. 3 gerecht werde, der altersmäßig in die vierte, leistungsmäßig in die erste gehört und der nur Urdu spricht.


    Dir einen "Freiwilligen" suchen, der bereit ist, dem Kind ehrenamtlich zusätzliche Förderung zu erteilen.


    Mir saß gestern jemand gegenüber, der zwei Jahre einem indischen Kind half, freiwillig, ohne Entgelt und tgl., Deutschkenntnisse zunächst bei Null.
    Das Kind besucht heute mit Erfolg ein Gymnasium!


    Der wesentliche Punkt ist: FRÜHE Förderung -schon in der Grundschule... - bei den Kleinen anfangen....


    LG cecilia


    (s. mein Beitrag zu MENTOR e.V. weiter unten......- ein niedersächsisches Projekt......)

    • Offizieller Beitrag

    Liebe Wolkenstein,


    das klingt wirklich erschreckend und man fragt sich, wo und wann diese Kinder durch die Maschen gefallen sind! Und ob es niemand gemerkt hat oder welche Gründe sonst vorliegen, weshalb hier nicht früher gefördert wurde.
    Ein Junge aus meiner Deutschklasse, der sehr schlecht im Fach Deutsch war und die Buchstaben nicht behalten hat, etc. wurde, weil er in anderen Fächern auch nicht gut war, zurück versetzt - so war erstmal Ruhe. Was aber, wenn er es da auch nicht packt? Ein zweites Mal wird bei uns keine Kind "sitzen gelassen".
    Ich habe da einen "Fall" miterlebt, da wurde in Klasse 4 gesagt, eigentlich müsse das Kind die Klasse wiederholen, aber das habe keinen Sinn, weil aussichtslos sei, dass es den Lernstoff doch noch verstehe, außerdem habe es schon einmal eine Klasse wiederholt.
    Das Ende war, dass dieses Kind ganz normal versetzt wurde und nun auf eine Brennpunktgesamtschule geht - Ausgang scheint relativ klar...


    Was machst du denn mit diesen Jugendlichen jetzt? Das sind ja elementare Grundlagen, die hier zu fehlen scheinen.


    Zitat

    wolkenstein schrieb am 01.03.2005 23:04:
    1. Alle Lehrer durchlaufen zumindest in Form eines mehrwöchigen Praktikums sämtliche Schulformen.


    Das halte ich für eine sehr gute Idee! Würde mich auch persönlich sehr interessieren und ich denke, dass sich viele Kollegen gar nicht vorstellen können, wie es in anderen Schulformen läuft.


    Zitat


    2. Sprachkompetenz (im Sinne von Textverständnis und Kommunikationsfähigkeit, bugger the Rechtschreibung) wird zum "sine-qua-non" - Schüler nehmen erst dann am regulären Unterricht teil, wenn hier die Grundlagen gesichert sind.


    Ist das nicht in Finnland in etwa so? Und erklärt das nicht auch teilweise die Pisa-Ergebnisse...?



    Mensch, Wolkenstein, ich kann mir vorstellen, dass deine Arbeit zur Zeit stellenweise ziemlich frustrierend ist, besonders, wenn du den Jugendlichen gerne weiterhelfen möchtest (und davon gehe ich aus).
    Ich denke aber auch, sie können sich glücklich schätzen, an dich geraten zu sein. Du machst dir viele Gedanken um sie und hast noch Elan und tolle Ideen. Ich glaube, dass einem das nach Jahren an so einer Schule durchaus abhanden kommen kann.



    Viel Kraft wünscht Melosine

    Für mich gibt es wichtigeres im Leben als die Schule.


    (Mark Twain)


    Auf dem Weg zur Weltherrschaft! :teufel:

    Einmal editiert, zuletzt von Melosine ()

  • Hallo Wolkenstein,


    du hast m.E. genau das herausgearbeitet, woran es in vielen Bereichen wirklich hapert.


    Das mit den Lehrern auf allen Schulformen finde ich gut. Ich gehe da sogar noch einen Schritt weiter.


    Alle Lehrer erhielten die gleiche Entlohnung. Sorry, es kann nicht sein, das GHS Lehrer zumindest hier in RLP gehobener Dienst sind, aber alle anderen im höheren Dienst.


    Jeder Lehrer wäre in allen Schulformen einsetzbar, zumindest ab Klasse 5. Dann allerdings nur mit dem Studienfach. Denn die fachfremde Besetzung finde ich auch für Lehrer belastend.


    Die Teilnahme am regulären Unterricht, erst wenn man die Sprache beherrscht, ist ein guter Vorschlag. Leider scheitert so etwas z.B. in RLP an den Ausländerbehörden die auf der Schulbescheinigung pochen. Die Schulen stecken sprachfremde Kinder einfach in den regulären Unterricht.


    Da ist man also zu wenig flexibel. Mein Kollege hatte z.B. im Falle seiner Thailändischen Stieftochter vorgeschlagen, dass das Mädchen erst einmal ein Jahr konsequent in Sprachkurse bei der VHS geht (auf Kosten meines Kollegen) und dann regulär in die Schule. Mein Kollege hätte sogar einen Nachhilfelehrer selbst bezahlt, der den Wissenstand aufbaut.


    Aber wir haben Schulpflicht. Das Mädchen erhielt 2 Förderstunden pro Woche und gut war. Sie wiederholte die Klasse 5, weil sie ja nichts verstanden hatte. Dabei war sie schon zu alt für Klasse 6.


    Auflösung der Gremien - ok!


    Wahlrecht erst nach Wählerführerschein? Au Backe, damit könntest Du keine Freunde gewinnen. Wer sollte den denn abnehmen?


    Am besten wäre ja die Schule, wofür gibt es denn Sozialkundeunterricht. Aber schon zu meiner Schulzeit hat man in Wahlzeiten sich mit Parteiprogrammen, Parteien, GG ect... befasst.


    Aber das war auf dem Gym. Von meinem Mann weiß ich, dass er dies auch an der HS gemacht hat. War aber in den späten 80ern.


    Wir fordern von unserer Tochter z.B., dass sie sich genau Nachrichten ansieht, nachfragt und die wichtigsten Dinge weiß.


    Sie kennt den Namen unsereres Kanzlers, des Außenministers, ihr sagt der Name des Bundespräsident, sie weiß sogar, wie unser Ministerpräsident heißt.


    Sie weiß noch vieles mehr, dabei ist sie erst 12,5 Jahre alt.


    Dürfte sie damit wählen? :D


    Aber wie kann man z.B. Arbeitswille ändern, Leitstungswille fördern - dafür ist das Elternhaus zuständig.


    Damit bräuchte man noch einen Elternführerschein.


    Denn die legen den Grundschein, egal welche Nationalität, ob aus den Kindern etwas wird. Dabei ist es nicht wichtig, dass man viel Geld hat.


    Ich kenne z.B. Harz IV Empfänger, die bringen ihren Kindern mehr Leistungswille, Fleiß ect... bei, wie Gutverdienende.


    Denn welche Werte man einem Kind vermittelt hat zum einen etwas mit eigener Einstellung und zum anderen etwas mit Intelligenz zu tun.


    Doris

  • Liebe Doris,


    entschuldige bitte, wenn ich mit meinem Posting ein wenig von deinem sehr guten ablenke, aber mich lässt das mit den Schulformen nicht in Ruhe:


    Zitat

    Melosine schrieb am 02.03.2005 18:16:


    Das halte ich für eine sehr gute Idee! Würde mich auch persönlich sehr interessieren und ich denke, dass sich viele Kollegen gar nicht vorstellen können, wie es in anderen Schulformen läuft.


    In Niedersachsen (ok: Studienseminar Goslar :D) ist es so, dass jeder Referendar (G-H-Realschule) in eine nicht von ihm im Rahmen der 18 Monate schwerpunktmäßig "besuchte" Schule muss. Heißt, die Grundschulrefs sollen in Haupt-/Realschule und die "Großen" sollen zu den "Kleinen". Wie aber sieht die Realität aus? Dieses "Muss" kontrolliert keiner. Nachdem man seine Prüfung bestanden hat, ist man sozusagen "vogelfrei" und meldet sich bei den sinnfreien Pädagogikseminaren krank.


    Ich ernte von meinen Referendariatskollegen jedesmal verwunderte Blicke, wenn ich sage, dass ich nach den Osterferien bis 30.4. (also 4 Wochen) in die Haupt-/Realschule gehen werde (und dort hoffe, auch selbst unterrichten zu dürfen - einfach mal ausprobieren!) - "Wieso machst du das denn, du musst doch nur 24 h insgesamt?"
    So müsste sich m.E. erstmal die Grundeinstellung vieler Referendare ändern, denn wer ahnt schon, ob er wirklich in der Grundschule eine Planstelle kriegt?


    fragt sich das_kaddl.

  • Interessanterweise ist ein durchaus erkläglicher Anteil unserer Politiker Lehrer. Wie kann es sein, dass die Damen und Herren sich mit Unsinn beschäftigen, obwohl sie doch eigentlich, sogar aus eigener Anschauung, wissen müßten, woes hapert?


    Ich fürchte: Geld korrumpiert ...
    gibt sich der Forsch eine Antwort selbst ...

  • Hallo wolkenstein und alle,


    hier einige Bemerkungen / Thesen zu dem vielen bisher Geschriebenen:


    1. "Rechtschreibung" wurde erstmals um 1880 willkürlich festgelegt und schon 20 Jahre später 1901 noch im Kaiserreich reformiert (Thor - Tor). "Recht-Schreibung" ist eine Wortbildung aus der Zeit von "Recht und Ordnung" mit Schwerpunkt auf Formalem und Gehorsam - eben typisch absolutistisch-autoritäre Kaiserzeit möglichst ohne Mitdenken – schon gar nicht kritisch.


    2. "Rechtschreibung" hat im direkten Sinn nichts mit "Sprachkompetenz" zu tun. Beides wurde zu unrecht bisher in einen Topf geworfen.
    Goethe hat sich dazu bekannt, große Probleme mit dem Schreiben zu haben. Wenn er selbst schrieb, hat er ein und dasselbe Wort im gleichen Text in ca. 5 Varianten geschrieben. Fehlte es Goethe an "Sprachkompetenz" ? Nein, gewiss nicht.


    3. "Schreiben überhaupt" - und damit auch "Rechtschreibung" - ist wirklich nur ein Hilfsmittel – ein Medium -, um in "Sprache" (= Gesprochenem oder zu Sprechendem) ausgedrückte Gedanken über größere Entfernungen zu transportieren oder Gedanken über die Zeit hin aufzubewahren.
    Das Fach heißt doch nicht "Deutsche Schreibe" sondern "Deutsche Sprache" (Sprache – sprechen).


    4. Zu Goethes Zeiten erfüllte in verschiedener Schreibweise Geschriebenes seinen Kommunikationszweck über Raum und Zeit, soweit es "entzifferbar " war. Warum nicht heute ?


    5. Die meisten Texte mit vielen Schreibfehlern – z.B. 20 pro A-4-Seite – erfüllen noch voll den Kommunikationszweck. Sie sind eindeutig lesbar = verstehbar. Man müsste sich nur an verschiedene Schreibweisen gewöhnen, wie wir es ja auch bei gleichen Wörtern in verschiedenen Fremdsprachen tun (Büro – bureau) oder vom Alt- und Mittelhochdeutschen her gewöhnt sind.
    Vielleicht würde diese Toleranzspanne gegenüber den Schreibweisen auch mit toleranterer Haltung generell einhergehen. Umgekehrt zieht die willkürliche Untoleranz der festgelegten "Rechtschreibung" allgemeine Untoleranz nach sich. Es gibt nur die krassen Alternativen "richtig" und "falsch", nichts dazwischen.


    6. Die sogenannte "deutsche Rechtschreibung" ist in hohem Maße unvernünftig, weil sie die deutsche Sprache sehr oft gar nicht richtig oder zumindest nicht eindeutig in jenem verordneten Schriftbild wiedergibt. Der Buchstabe "o" im Wörtchen "doch" repräsentiert einen ganz anderen Laut als der gleiche Buchstabe "o" im Wörtchen "oder". Wer die internationale Lautschrift kennt, weiß, dass hier ganz verschiedene Zeichen verwandt werden. Eines der wenigen deutschen Wörter, das eindeutig richtig lautgetreu geschrieben wird, ist ausgerechnet das Wort "doof".


    7. Warum nehmen wir uns nicht ein Beispiel an den Spaniern ? Sie bringen sogar ihre romanische Sprache weitgehend lautgetreu auf's Papier und schreiben "farmacia" und "filippo" anstatt "Pharmacie" und "Philipp". Weiß der Geier, warum die Römer aus dem einen griechischen Buchstaben des "PHI" die zwei lateinischen "P+H" gemacht haben.


    8. Wir würden viel Lernernergie unserer Kinder auf echte Wissens-Inhalte richten können, wenn wir die formale Schreibung deutlich vereinfachen und dazu noch eine Toleranzspanne akzeptieren würden. Und darüber muss offensichtlich noch lange diskutiert werden. Ich war erschüttert, als bei Einführung der neuen "Rechtschreibung" eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung die behauptete Vereinfachung in einer Befragung mit dem Argument ablehnte "Wir mussten uns in der Schule mit der Rechtschreibung abquälen, da sehen wir ja gar nicht ein, dass zukünftigen Generationen das erspart bliebe. Die sollen gefälligst auch darunter leiden." Dass eine große Zahl Menschen so unlogisch und so primitiv denkt und urteilt und so sehr am Eingedrillten hängt, erschreckt mich.

    Wir würden viel Schulfrust und wachsende Schulunlust vermeiden, wenn wir eine radikal vereinfachte lautgetreue und tolerante Schreibweise einführen würden. Die Inhalte der Lernfächer interessieren die Kinder und Jugendlichen viel mehr – motivieren sie viel mehr als das Eindrillen kaiserlicher Formalien.


    Ab einer gewissen "recht-schreib-Unsicherheit" tritt bei Schülern oft ein "Fehler-Vermeidungs-Verhalten" ein, so dass sie vor lauter Angst vor den von den meisten Lehrern ja wirklich so streng getadelten Schriftbildfehlern möglichst wenig Text schreiben – nach dem Motto "was ich nicht schreibe, kann ich auch nicht falsch schreiben". Und dann beurteilen wir Lehrer den Inhalt des Textes als "dürftig" und "mangelhaft" oder sogar "6".


    9. Zusammenfassend behaupte ich, dass der "Recht-Schreibung" ein völlig unangemessen zu hoher und für alles wirkliche Lernen schädlicher Rang in der Schule rein traditionell eingeräumt wird – erst recht einer Schreibung in dieser so wenig sinnvollen Form. Man bedenke mal, ein Tonaufzeichnungsgerät würde das Gesprochene so verzerrt wiedergeben, wie es das verordnete Schriftbild tut, und man brauchte sowohl zur Aufzeichnung als auch zur Wiedergabe so viele speziellen Kenntnisse – man müsste jahrelang die Bedienung des Gerätes lernen und üben.


    Über diese These der derzeit falschen zu hohen Rangordnung und mangelhaften Funktion der "Rechtschreibung" ist die ernsthafte didaktische Diskussion noch lange geduldig zu führen.


    Übrigens ist die jeweils beschlossene "Recht-Schreibung" ganz ausdrücklich nicht im Leben sondern nur für die Schulzeit verbindlich. Allein dies Faktum erscheint mir schon als Schildbürgerstreich zur Qual nur der Schüler. "Rechtschreibung" in dieser Form und Wertung dient einer ungerechtfertigten schulischen Selektion. Einstein ist deswegen vor dem Abitur von der Schule geflogen. War er blöd ? Gerade in diesen Tagen wird seine Genialität gefeiert.


    Wollen wir auf Kulturträger wie Goethe und Einstein verzichten ? Nein.


    10. Andere Probleme der Lerngruppe im Berufskolleg wie Ausländer-Sein will ich hier nicht auch noch behandeln.


    Im praktischen Schulalltag bleibt Dir, wolkenstein, gar nichts anderes übrig, als Dich auf das jetzige Niveau Deiner Schüler hinab zu begeben und "so kleine Brötchen mit ihnen zu backen, wie sie es eben nur können". Nur dann können sie und auch Du kleine (!) Erfolgerlebnisse erarbeiten und langsam weiterkommen. Du allein bist zuständig für die Organisation des so auf diese Schüler abzustimmenden Unterrichts, dass diese was lernen – willig lernen. Da helfen gymnasiale Vorstellungen von Sprachkompetenz gar nichts. Gymnasiales Niveau wirst Du mir diesen Schülern nie erreichen, sonst würden sie ja Oberstufen-Gymnasiasten.


    Du bist enttäuscht und ohnmächtig wütend, weil Du Dich selbst in Deiner Erwartung getäuscht hattest. Schau erst mal genau hin, wo sie sind und hole sie dort geduldig ab.


    Bekommst Du bei dieser harten Arbeit jetzt Zweifel daran, dass es richtig sei, dass Gymnasiallehrer für deutlich weniger Unterrichtsstunden mehr Geld bekommen als Hauptschullehrer ? Auch das sind kaiserliche Relikte.


    PS zu LRS: "LRS" und "Legasthenie" sind definiert am Symptom, dass bei verschiedenen Ursachen rein quantitativ eine im Verhältnis zur allgemeinen Leistungsfähigkeit übermäßige Schreibfehleranzahl vorkommt. Die Definition ist in keiner Weise auf die Art der Schreibfehler bezogen. Danach wären viele Deiner Schüler eindeutig LRS-ler.
    Dabei sind mangelnde deutsche Sprachkenntnisse schon im Mündlichen aber ein Ausschlusskriterium für LRS u. Legasthenie.


    PS zum "Wählerführerschein": Wieviele Gymnasiallehrer wählen Steuersenkungsparteien und fordern zugleich mehr Lehrer in kleineren Klassen und besser ausgestatteten Schulen ?
    Mit weniger öffentlichen Mitteln mehr öffentliche Leistung ?
    Diese nur "aus-gebildeten" Leute müssten bei der Wahl-Berechtigungs-Prüfung auch gleich durchfallen.


    Viele Grüße, gemo

    Glückliche Kinderaugen machen glücklich !
    "Lehren" = beim Lernen unterstützen + "Erziehen" ist noch wichtiger als "Stoff" vermitteln.

  • Zitat

    gemo schrieb am 03.03.2005 03:36:
    1. "Rechtschreibung" wurde erstmals um 1880 willkürlich festgelegt und schon 20 Jahre später 1901 noch im Kaiserreich reformiert (Thor - Tor). "Recht-Schreibung" ist eine Wortbildung aus der Zeit von "Recht und Ordnung" mit Schwerpunkt auf Formalem und Gehorsam - eben typisch absolutistisch-autoritäre Kaiserzeit möglichst ohne Mitdenken � schon gar nicht kritisch.


    Sorry, aber als Geschichtslehrer: Das deutsche Kaiserreich hatte bestimmt autoritäre Elemente, aber es war nicht absolutistisch!

    Zitat


    2. "Rechtschreibung" hat im direkten Sinn nichts mit "Sprachkompetenz" zu tun. Beides wurde zu unrecht bisher in einen Topf geworfen.
    Goethe hat sich dazu bekannt, große Probleme mit dem Schreiben zu haben. Wenn er selbst schrieb, hat er ein und dasselbe Wort im gleichen Text in ca. 5 Varianten geschrieben. Fehlte es Goethe an "Sprachkompetenz" ? Nein, gewiss nicht.


    Nicht jeder, der die Rechtschreibung nicht beherrscht, war/ist ein Genie. Quod licet iovi, non licet bovi.


    "Die Rechtschreibfehler werden heute etwas anders eingeschätzt und bewertet als früher; den Inhalten geschriebener Texte wird mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den Formen; Rechtschreibfehler werden nicht mehr als Mängel von allgemeinen sprachlichen Fähigkeiten und Intelligenz fehlgedeutet [...] Aus der Rechtschreibung eines Schülers falsche Schlüsse zu ziehen in Bezug auf Intelligenz, Sprachfähigkeit oder Sprachmoral ist ebenso falsch, wie die Rechstchreibung unbeachtet zu lassen; sie rigide zu beurteilen so unangemessen, wie angesichts der Menge von Fehlern zu kapitulieren [...] Die Rechtschreibung darf nicht hochstilisiert werden zum wichtigsten Sprachkulturgut an sich; auch ist es, wie J.Fritsche richtig herausstellt [...] unangemessen, orthographische Korrektheit mit Verständlichkeit zu begründen oder gar gleichzusetzen. Sie aber sich selbst zu überlassen der als zweitrangig zu betrachten, ist gleichermaßen falsch. Orthographie kann eben nur dann dem ,Geschriebenen einen üerpersönlichen, abstrakten Charakter' verleihen und somit den Schreibenden selbst mit seinen Auffälligkeiten und Mängeln nichts ständig ins Spiel schriftsprachlicher Kommunikation bringen, wenn sie fehlerfrei ist" (Menzel, Wolfgang: Didaktik des Rechtschreibens in:Taschenbuch des Deutschunterrichts, Bd. 1, Hohengehren 1994 [5. Auflage])


    Zitat


    Übrigens ist die jeweils beschlossene "Recht-Schreibung" ganz ausdrücklich nicht im Leben sondern nur für die Schulzeit verbindlich. Allein dies Faktum erscheint mir schon als Schildbürgerstreich zur Qual nur der Schüler. "Rechtschreibung" in dieser Form und Wertung dient einer ungerechtfertigten schulischen Selektion.


    Das erzähle mal den Personalchefs, wenn sie Bewerbungsschreiben lesen 8o


    Zitat


    10. Andere Probleme der Lerngruppe im Berufskolleg wie Ausländer-Sein will ich hier nicht auch noch behandeln.


    Im praktischen Schulalltag bleibt Dir, wolkenstein, gar nichts anderes übrig, als Dich auf das jetzige Niveau Deiner Schüler hinab zu begeben und "so kleine Brötchen mit ihnen zu backen, wie sie es eben nur können". Nur dann können sie und auch Du kleine (!) Erfolgerlebnisse erarbeiten und langsam weiterkommen. Du allein bist zuständig für die Organisation des so auf diese Schüler abzustimmenden Unterrichts, dass diese was lernen � willig lernen. Da helfen gymnasiale Vorstellungen von Sprachkompetenz gar nichts. Gymnasiales Niveau wirst Du mir diesen Schülern nie erreichen, sonst würden sie ja Oberstufen-Gymnasiasten.


    Du bist enttäuscht und ohnmächtig wütend, weil Du Dich selbst in Deiner Erwartung getäuscht hattest. Schau erst mal genau hin, wo sie sind und hole sie dort geduldig ab.


    Ich stimme dir prinzipiell zu. Musst du aber wolkenstein deswegen persönlich so angehen? Sie hat doch den Thread eröffnet, um diese Missstände anzuprangern!
    Dass jeder erst einmal im eigenen Unterricht und dann im schulischen Feld beginnen soll, bevor er alles auf die böse Politik abwälzt, kann ich nur unterschreiben!

    Zitat


    Bekommst Du bei dieser harten Arbeit jetzt Zweifel daran, dass es richtig sei, dass Gymnasiallehrer für deutlich weniger Unterrichtsstunden mehr Geld bekommen als Hauptschullehrer ? Auch das sind kaiserliche Relikte.


    Was hat das mit kaiserlichen Relikten zu tun? In der gleichen Sparte ist die Entlohnung der Berufseinsteiger immer abhängig von der Ausbildung. Eine universitäre Ausbildung ist eben höher als eine Ausbildung, die der der FHs entspricht (=gehobener Dienst bei Beamten). Das sagt nichts über die Qualifikation, die Belastung und Bemühungen eines Menschen aus; eben deswegen sollen ja jetzt die Laufbahnen geöffnet werden, so dass ein guter, engagierter Hauptschullehrer mehr verdienen kann als der durchschnittliche Studienrat.

    Zitat


    PS zum "Wählerführerschein": Wieviele Gymnasiallehrer wählen Steuersenkungsparteien und fordern zugleich mehr Lehrer in kleineren Klassen und besser ausgestatteten Schulen ?
    Mit weniger öffentlichen Mitteln mehr öffentliche Leistung ?
    Diese nur "aus-gebildeten" Leute müssten bei der Wahl-Berechtigungs-Prüfung auch gleich durchfallen.


    Volle Zustimmung. Viele "einfache Arbeiter" haben stringentere politische Ansichten als Laberakademiker!

    Erziehung ist die organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend.

    Einmal editiert, zuletzt von Timm ()

  • Hat zwar jetzt nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun, aber:


    Zitat

    Was hat das mit kaiserlichen Relikten zu tun? In der gleichen Sparte ist die Entlohnung der Berufseinsteiger immer abhängig von der Ausbildung. Eine universitäre Ausbildung ist eben höher als eine Ausbildung, die der der FHs entspricht (=gehobener Dienst bei Beamten).


    Bei uns in Bayern ist es so, dass bereits vor vielen Jahren (einige Zeit, bevor ich angefangen habe zu studieren vor immerhin schon 6 Jahren) die GS- und HS-Lehrerausbildung an die Uni verlegt wurde mit dem Versprechen, dann auch die Besoldung zu erhöhen. Tja, und unsere tolle universitäre Ausbildung mit fachwissenschaftlichen Seminaren haben wir also genossen, trotzdem bekommen wir nur A12, Realschul- und Gymnasiallehrer dagegen A13 oder mehr. :(
    Ich meine, ich mache den Beruf ja nicht wegen des Geldes oder so, ich find's nur irgendwie ungerecht, da wir bestimmt nicht weniger Arbeit/Stress haben. Aber da gab's ja schon einen anderen Thread dazu...


    P.S.: Inhaltlich stimme ich dem Grundtenor dieses Threads voll und ganz zu. (um auch was zum Thema gesagt zu haben :) )

  • Zitat

    biene maja schrieb am 03.03.2005 16:55:
    biene maja schrieb am 03.03.2005 16:55:
    Hat zwar jetzt nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun, aber:


    Bei uns in Bayern ist es so, dass bereits vor vielen Jahren (einige Zeit, bevor ich angefangen habe zu studieren vor immerhin schon 6 Jahren) die GS- und HS-Lehrerausbildung an die Uni verlegt wurde mit dem Versprechen, dann auch die Besoldung zu erhöhen. Tja, und unsere tolle universitäre Ausbildung mit fachwissenschaftlichen Seminaren haben wir also genossen, trotzdem bekommen wir nur A12, Realschul- und Gymnasiallehrer dagegen A13 oder mehr. :(
    Ich meine, ich mache den Beruf ja nicht wegen des Geldes oder so, ich find's nur irgendwie ungerecht, da wir bestimmt nicht weniger Arbeit/Stress haben. Aber da gab's ja schon einen anderen Thread dazu...


    Das Lehramt für den höheren Dienst ist schlicht und ergreifend 2 Semester (Regelstudienzeoit) länger und das des gehobenen Dienstes dem eines Fachhochschulstudiums gleichgestellt. Dass das Ganze an die Uni verlagert wurde, hat wohl eher mit erhoffter Mittelersparnis zu tun als mit irgend etwas anderem.
    Die meisten, die sowohl die PHs in BW kennen lernen durften als auch die entsprechenden Studiengänge an Unis in anderen Ländern, würden den PHs den Vorzug geben.
    Ein Ausgleich (bei gleichzeitger Öffnung der Laufbahnen) für die längere Studienzeit erscheint mir nur als gerecht.
    Die starre Einteilung in gehobener und höherer Dienst ist wohl aber wirklich ein Relikt aus preußisch geprägten Zeiten...


    Zitat


    Ich meine, ich mache den Beruf ja nicht wegen des Geldes oder so, ich find's nur irgendwie ungerecht, da wir bestimmt nicht weniger Arbeit/Stress haben.


    Nach deiner Definition von Entlohnung würde ich meinem besten Freund (Kranken- und Altenpfleger in der individuellen Schwerstbehindertenpflege) auch mehr zahlen.
    So sehr ich es jedem gönne: Es ist wohl kein unredliches Motiv, dass sich die Ausbildung an einer (Fach-)Hochschule auch einmal bezahlt machen soll. Die Anrechnungszeiten für Pensions- und Rentenleistungen wurden ja schon rigide genug zusammengestrichen!!!

    Erziehung ist die organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend.

    Einmal editiert, zuletzt von Timm ()

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