Coming out im Jahre 2019?

  • Ich pflege sehr konkret zu antworten. "Das geht Sie nichts an." reicht als einmalige Ansage.

    Ich spreche gern freundlich mit meinen Schülern. Vor allem, wenn sie freundlich etwas gefragt haben.

  • Worum machst du dir da Gedanken?


    Du bist ein erwachsener Mensch in einem freien Land und kannst lieben wen du willst.
    Wenn dich jemand nach deiner Partnerschaft fragt, hast du genug Möglichkeiten: Sei es der Hinweis auf Privatsspähre oder eine en detaile Erzählung der von dir genutzten Sexualpraktiken um dem Gegenüber die Ohren schlackern zu lassen.

    • Nicht, wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt. -Machiavelli-
    • Zwei Mächte gehen durch die Welt, Geist und Degen, aber der Geist ist der mächtigere. -Napoleon-
    • In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst! -Augustinus-
  • Inwiefern ist Distanzlosigkeit freundlich?

    Kommt drauf an, fragt ein Berufsschüler: "Sind Sie untervögelt?" oder eine 9-Jährige, du, Frau X, hast du eigentlich auch Kinder?"

  • Inwiefern ist Distanzlosigkeit freundlich?

    Hängt davon ab, wie sehr der Gefühlschip auf "menschliche Interaktion" programmiert ist.

    Bolzbold #5

    Gutmensch und Spaß dabei (= das GG und der Diensteid sind schon 'ne gute Sache 😉)

    "Und hast du die Ausrufezeichen bemerkt? Es sind fünf. Ein sicheres Zeichen dafür, dass jemand die Unterhose auf dem Kopf trägt." (T. Pratchett)

  • Der "ländliche" Bereich ist natürlich wenig förderlich

    Es hat mit "ländlich" nichts zu tun, sondern erfahrungsgemäss mit "katholisch". Im reformierten Baselland interessiert es keine Sau wer oder was ich bin. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in Luzern (Stadt!) arbeiten wollte.


    "Wir" sind mindestens zu dritt bei uns an der Schule (sicher weiss ich auch nicht von allen) und wir halten es alle drei wie Beruffschule93 in Beitrag Nr. 2 beschrieben hat. Ich bin ein einziges mal in 6 Jahren von Schülern konkret danach gefragt worden. Das war aber ein eher kindischer Haufen, für die das irgendwas Aufregendes zu sein schien. Ansonsten kommentiert hier niemand irgendwas. Meine Schüler sind in der Regel zwischen 15 und 19 Jahren alt und vor allem mit den älteren unterhalte ich mich zwischendurch auch mal wie man sich eben mit ganz normalen Leuten unterhält. Natürlich geht die nicht alles was an, das wissen sie aber auch selbst und stellen eigentlich nie wirklich unpassende Fragen.

  • Schreibst Du aus persönlicher Erfahrung oder ist das lediglich Dein Eindruck als persönlich nicht "Betroffener"? Die Wahrnehmung fällt da nämlich sehr unterschiedlich aus.

  • Es ist natürlich nur eine anekdotische Erfahrung...
    Dieser Eindruck wurde bestätigt, als eine gemischt-orientierte Gruppe aus Kollegen und Freunden gemeinsam essen war. Der Outing-Prozess ist durchaus aufwendig, danach ist man aber akzeptiert; wohingegen man sich als Vegetarier (und auch als Nicht-Alkohol-Trinkender) jedesmal wieder etwas anhören darf.

  • Mit so einer Resonanz habe ich ehrlich gesagt gar nicht gerechnet, vielen Dank erstmal für alle bisherigen Antworten. Ich versuche mal auf einiges einzugehen:

    der letzte Abschnitt hat mich etwas verwundert... das siehst du als "Outing"... ich habe über das Thema "Outing" nicht wirklich nachgedacht. Ich bin einfach ich, und das heißt, ich bin lesbisch, und das schon mein Leben lang.
    Ja - ein gesundes Selbstbewusstsein ist da absolut notwendig. Du musst dazu stehen, dass an dir eben nichts "falsch" ist, und dass die, die dummes Zeug reden, eben minderbemittelt sind, und deiner Aufmerksamkeit gar nicht erst wert. Jeder Mensch ist "anders", ich vermutlich sogar in ziemlich vielen Punkten "anders als die Mehrheit" - ich habe das als Stärke definiert, nicht als Schwäche, und damit lebt es sich ganz gut.


    Insofern... ich gehe nicht damit hausieren, dass ich lesbisch bin. Aber wenn jemand fragt, gibts eine wahrheitsgemäße Antwort, und wenn Fragen sind - wieso soll ich die nicht beantworten? Ich bin bei uns schließlich auch Vertrauenslehrerin, und wenn da jemand Fragen hat auch zu dem Thema... na wo ist das Problem?

    Das sehe ich durchaus als Outing an, ja.
    Ich muss sagen, dass ich gern selbstbewusster wäre, um eben auch bei Leuten, die ich neu kennenlerne von Anfang an zu mir stehen zu können, wobei ich, sofern ich konkret gefragt werde, ebenfalls die Wahrheit sage. Alles andere würde sich anfühlen als würde ich mich selbst verleugnen und das habe ich lange genug gemacht. Da besteht eben nur das "Problem", dass sich derartige Nachrichten oft recht schnell verbreiten. Heißt konkret: weiß ein Kollege bescheid, wissen es die anderen nächste Woche auch und gerade im Hinblick auf das Ref scheint man mir hier ja doch eher davon abzuraten, das öffentlich zu machen. Wäre irgendwie leichter, wenn man mir meine Orientierung auf 20 Meter Entfernung ansehen könnte. Dem ist aber leider nicht so.


    An meiner jetzigen Schule bin ich auch bei den Schülern geoutet. Das hat sich nach einem halben Jahr dort ergeben. Ganz einfach durch die erste Frage: Sind Sie verheiratet? Ja. Was macht Ihr Mann beruflich? Meine Frau macht dies und das.
    Meine 7er waren ziemlich interessiert an dem Thema. Wann ich es gemerkt habe und so weiter... Ich antworte gerne auf solche Fragen, wenn sie nicht zu privat werden sondern allgemeiner Natur sind. Mein eigenes Coming Out war spät und sehr schwierig, ich hätte mir ein Vorbild gewünscht.
    Ähnliche Situationen kamen in 3 oder 4 Klassen vor. Die 5er haben teils sehr süß reagiert. Ein Junge konnte sich die ganze restliche Unterrichtszeit nicht mehr konzentrieren... Am Ende kam er zu mir und sagte: Das hab ich mir noch nie vorgestellt, dass eine Frau eine Frau heiratet. Aber ist ja auch voll cool. :)

    Gerade dieser "Vorbildcharakter" ist, bedingt dadurch, dass ich als Schülerin auch gerne eine Lehrerin gehabt hätte, die offen damit umgeht, etwas was sehr stark in meine Überlegungen mit einfließt. Vor allem weiß ich wie gesagt auch noch sehr gut, wie sehr es mir geholfen hat,zu wissen, dass es überhaupt abseits von Film- und Fernsehen noch homosexuelle Menschen gibt und ich eben nicht vollkommen unnormal bin. Die kamen in meiner behüteten Kindheit schlicht und ergreifend nicht vor.

    Schade, dass man das Gefühl hat, sich outen zu müssen. So nach dem Motto, Leute bei mir stimmt was nicht, ist was anders. Das wollte ich euch sagen, hoffentlich mögt ihr mich noch. Schade, dass Homosexualität nicht so selbstverständlich ist, dass keiner danach fragt wie bei den Heteros.

    In unserer Gesellschaft werden die meisten Menschen (Stereotype jetzt einmal ausgenommen) so lange als hetero wahrgenommen, bis sie etwas anderes sagen. Gerade im ländlichen Raum, zumindest bei uns, kommt alles abseits von Heterosexualität in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen einfach nicht vor. Da ist von Selbstverständlichkeit absolut keine Spur, was zur Folge hat, dass ein Coming out früher oder später notwendig wird, wenn man nicht ewig als Hetera gelten möchte.

    ... oder zerreißen sich hinter meinem Rücken das Maul, mag sein, dann können sie selbst damit ihr Leben füllen.

    Ehrlich gesagt ist es mir sogar lieber, wenn die Leute mir direkt sagen, wenn ihnen an mir etwas nicht passt. Dieses "Weißt du was xy letztens gesagt hat?" ist mir eher unangenehm, da kann ich ja nicht zu xy hingehen und ihn direkt damit konfrontieren. Das wäre dann auch wieder merkwürdig.

    "Wie würde ein heterosexueller Kollege reagieren?". Der verkündet auch nicht in der ersten Unterrichtsstunde: "Ich bin heterosexuell und das ist auch gut so.",

    Gerade in Kennlernstunden erzählen viele heterosexuellen Kollegen auch etwas Privates, aka von Frau und Kindern, was einem Outing gleichkommt, nur dass es bei heterosexuellen nicht als solches gewertet wird.


    Empfinde ich mich selbst als normal? Ja. Als akzeptiert? Nein, nicht überall. Du hast wohl recht und ich bin in dieser Hinsicht etwas gebrandmarkt, allerdings vermute ich, dass es 95% der sich in meiner Situation befindenden Kolleg*innen exakt genauso geht.

    Ich pflege sehr konkret zu antworten. "Das geht Sie nichts an." reicht als einmalige Ansage.

    Ich bin wie gesagt nicht der Typ dafür, SuS bei jeder noch so kleinen Frage zu meinem Privatleben vollkommen abblitzen zu lassen, wobei das, wie ja auch schon jemand angemerkt hat, wer fragt und wie diese Frage gestellt wird. Ich persönlich fand es als Schülerin auch immer schöner, nicht nur den Lehrer als solchen vor mir zu haben, sondern auch einen Menschen mit Charakter und Persönlichkeit zu erkennen.
    Das fällt mir für persönlich auch noch nicht unter den Aspekt Distanzlosigkeit.



    Es hat mit "ländlich" nichts zu tun, sondern erfahrungsgemäss mit "katholisch". Im reformierten Baselland interessiert es keine Sau wer oder was ich bin. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in Luzern (Stadt!) arbeiten wollte.

    Katholisch ist die angestrebte Gegend glücklicherweise nicht. Theologie studiere ich auch nicht. Aber trotzdem sind irgendwo gewisse Bedenken da, die man in einer größeren Stadt vielleicht weniger hat.

  • Es ist natürlich nur eine anekdotische Erfahrung...

    Das beantwortet meine Frage nicht. Glaub mir, nach 39 Jahren Leben als "Betroffene" habe ich da ein bisschen mehr als nur "anekdotische Erfahrungen". Zumal ich bereits an einigen sehr verschiedenen Orten gelebt habe.

  • Welche Nachteile erwartest du denn konkret von dem Wissen um deine Lebensweise? Schlechte Unterrichtsbewertung? Lästernde Schüler? Tratschende Eltern?

    Quasi alles genannte, wobei gerade für das Ref eine schlechte Unterrichtsbewertung meine größte Angst ist. Man sollte meinen, alle Leute wären professionell genug, ihre eigenen Ansichten über eine Person nicht in die Bewertung mit einfließen zu lassen, aber wir sind alle nur Menschen und dieser Gedanke ist schlicht Utopie.


    Was die SuS angeht, habe ich vor allem die negativen Aussagen meiner Klassenkameraden im Kopf, die auf Gerüchte einer unsere Lehrerinnen betreffend, gar nicht gut reagierten. Man muss dazu sagen, dass wir damals in der 9. Klasse waren, also durchaus die Hoffnung besteht, dass sich deren Meinung im Laufe der Jahre geändert hat, aber dennoch kann man diese Aussagen nicht vergessen, zumal ich zu der Zeit selbst mitten in meiner Selbstakzeptanz-Phase steckte.


    Die Eltern sehe ich aktuell, bedingte dadurch, dass meine Schulform nicht Grundschule ist, eher als das kleinste Problem, wobei diese, wo ich so darüber nachdenken, natürlich auch viel Einfluss auf ihre Kinder (abhängig von deren Alter) und deren Meinungsbild haben. Eltern, die ihre Kinder aus religiösen Gründen nicht am Sexualkundeunterricht teilnehmen lassen, werden vermutlich auch nicht allzu begeistert davon sein, wenn ihr Sprössling sich in WiPo Klasse 11 mit dem gesellschaftlichen Wandel und "Familienbilder heute" beschäftigen darf.

  • Das beantwortet meine Frage nicht. Glaub mir, nach 39 Jahren Leben als "Betroffene" habe ich da ein bisschen mehr als nur "anekdotische Erfahrungen". Zumal ich bereits an einigen sehr verschiedenen Orten gelebt habe.

    Ich persönlich bin nur Vegetarier. Es sind Erfahrungen von etwa zwei Dutzend homosexuellen MusikerInnen und TänzerInnen (wird es dadurch mehr oder weniger anekdotisch?), die eben diesen Vergleich angestellt haben.

  • wer fragt und wie diese Frage gestellt wird.

    Die Formulierung der Frage ändert nichts an der Tatsache, dass die Schüler gewisse Dinge nichts angeht.


    Ich persönlich fand es als Schülerin auch immer schöner, nicht nur den Lehrer als solchen vor mir zu haben, sondern auch einen Menschen mit Charakter und Persönlichkeit zu erkennen.

    Nunja, Charakter und Persönlichkeit dürften die Schüler auch erkennen, ohne meinen Beziehungsstatus oder meine sexuellen Präferenzen zu erkennen. Sie erleben von mir, was sie von mir erleben. Das ist jede Menge. Für alles andere, insbesondere für die Exploitation meines Privatlebens, ist mir die Vergütung dann doch nicht hoch genug. Mal angesehen davon, dass ich den Job nicht machen würde, wenn der persönliche Striptease dafür notwendig wäre.


    In unserer Gesellschaft werden die meisten Menschen (Stereotype jetzt einmal ausgenommen) so lange als hetero wahrgenommen, bis sie etwas anderes sagen.

    Diese Wahrnehmung ist schon nicht legitim. Es gibt für mich keinen Grund, darüber nachzudenken oder beurteilen zu wollen, ob jemand heterosexualle ist oder nicht.

    „Fakten haben keine Lobby.“


    (Sarah Bosetti)

  • Was die SuS angeht, habe ich vor allem die negativen Aussagen meiner Klassenkameraden im Kopf, die auf Gerüchte einer unsere Lehrerinnen betreffend, gar nicht gut reagierten.

    Das Problem besteht grundsätzlich bei jeglicher Art von Gerüchten. In solchen Fällen hilft nur die offene Konfrontation und ein scharfes Zurechtweisen tratschender Schüler. Ich musste mal mit einer Klasse sprechen in der sich Gerüchte über die Erkrankung ihres Klassenlehrers breitmachen. Ich habe ihnen gesagt, dass sie sicher Bescheid wüssten, wenn Herr X das wollte. Da er das aber offenbar nicht will, hören sie bitte augenblicklich auf sich irgendwas auszudenken und das was sie spekulieren ist obendrein nicht zutreffend. Ende der Diskussion.



    Eltern, die ihre Kinder aus religiösen Gründen nicht am Sexualkundeunterricht teilnehmen lassen

    Moment mal ... sowas geht in Deutschland!? :staun:

  • Es sind Erfahrungen von etwa zwei Dutzend homosexuellen MusikerInnen und TänzerInnen (wird es dadurch mehr oder weniger anekdotisch?), die eben diesen Vergleich angestellt haben.

    Musiker und Tänzer leben in einer sehr speziellen Welt. Deren Meinung zu diesem Thema halte ich in der Tat nicht für repräsentativ. Überspitzt ausgedrückt gehört es am Theater fast schon zum "guten Ton", dass mindestens die Hälfte des Männerballetts schwul ist. Ich kenne einen Maskenbildner dessen Mann Bauingenieur ist. Rate, wer von beiden die grösseren Probleme hat.

  • Ich kann mir schon denken, worauf du hinauswillst, bin mir aber gar nicht so sicher, ob das immer noch der Fall ist. Vor einigen Jahren gab es ja noch darum, nach außen hin zu zeigen, dass es überhaupt Homosexualität gibt. Inzwischen ist man da ein bisschen weiter und geht es eher darum, zu zeigen, dass Homosexualität kein "Lifestyle" ist und man nicht automatisch ein schriller Vogel ist, der am liebsten mit Frauen über den letzten Gossip tratscht und als Friseur arbeitet, nur weil man sich sexuell zu Männern hingezogen fühlt. Der Bauingenieur kann sich dann eher von dem Klischee distanzieren und unter Beweis stellen, dass die Sexualität ihn nicht als Menschen ausmacht (immer noch ein sehr weit verbreiteter Fehlglaube), sondern vielmehr die Interessen, Fähigkeiten, Entscheidungen und Stärken.

  • Nein. Ich habe persönlich kein Interesse an einer weiteren Diskussion darüber mit jemandem, der solche Plattitüden raushaut:



    Vor einigen Jahren gab es ja noch darum, nach außen hin zu zeigen, dass es überhaupt Homosexualität gibt. Inzwischen ist man da ein bisschen weiter und geht es eher darum, zu zeigen, dass Homosexualität kein "Lifestyle" ist und man nicht automatisch ein schriller Vogel ist, der am liebsten mit Frauen über den letzten Gossip tratscht und als Friseur arbeitet, nur weil man sich sexuell zu Männern hingezogen fühlt.

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