Sitzenbleiben / Klasse wiederholen in der Grundschule

  • Das Lesenlernen ist Prozess, der in unterschiedlicher Geschwindigkeit abläuft. Bei manchen dauert es sehr lange, bis sie das Zusammenlesen von Buchstaben kapiert haben.

    Im dritten Schuljahr habe ich einige Kinder übernommen, die eine Diagnose in Richtung Lesestörung, Leseschwäche oder Lese- Rechtschreibstörung hatten oder wo wir sie im Lauf des 3. Schuljahrs beantragten. Der Vorteil war, dass sie nicht dem Stress der Notengebung, wo diese Fähigkeiten relevant waren, ausgesetzt waren. Dennoch wurde immer wieder weiter am Lesen gearbeitet, bei Lesehausaufgaben erhielten sie weniger Text. Viele hatten nach dem 4. Schuljahr dann alles so weit aufgeholt, dass sie keine weiteren Nachteilsausgleich mehr brauchten. Allerdings muss man sagen, dass bei allen diesen Schülern auch die Eltern mitgearbeitet haben und versuchten Empfehlungen umzusetzen

    Danke für das Teilen deiner Erfahrungen! Wurden diese Kinder denn auch in anderen Fächern individuell unterstützt? Also z.B. in Mathe bei Textaufgaben?

    Und wie werden Kinder unterstützt, wenn sie noch große Schwierigkeiten haben, Wörter zu schreiben, aber in der dritten Klasse gefordert wird, Aufsätze zu schreiben? Formuliert man für diese Kinder differenzierte Lernziele?

    Z.B. XY Kann zu einem Bild passende Wörter (aus einer Liste) auswählen und diese aufschreiben." Anstatt: "XY kann zu jedem Bild einer Bildergeschicht einen passenden Satz aufschreiben" oder "XY kann eine Bildergeschichte aufschreiben".

    Oder darf das Kind die Bildergeschichte dann sprechen und aufnehmen, anstatt den Text zu schreiben?

    Darf ich als Lehrkraft einfach so differenzieren oder darf ich das erst machen, wenn ein sonderpädagogisches Gutachten vorliegt? Ich frage das auch mit Blick auf Leistungsbewertung und Noten, die ja in manchen Bundesländern irgendwann vergeben werden müssen.

    Was ist, wenn ein Kind noch nicht so gut schreiben kann und deshalb seine Geschichte oder die Sätze zu einzelnen Bildern einer Bildergeschichte aufnimmt. Dann kann es am Unterricht gemeinsam mit den anderen Kindern teilnehmen. Aber gleichzeitig würde in diesem Fall die Zeit nicht dafür genutzt werden, schreiben zu lernen?

  • Wurden diese Kinder denn auch in anderen Fächern individuell unterstützt? Also z.B. in Mathe bei Textaufgaben?

    Man kann z.B. ein Partnerkind einsetzen, das die Aufgaben vorliest oder die Aufgaben in einer Gruppe bearbeiten lassen, in der es Rollenkarten gibt. Der „Leser“ fällt dann an andere Kinder, der „Schreiber“ auch. Oft sind in Klasse 2 die Textaufgaben zudem bebildert und häufig nach immer gleichem Schema.

    Alternativ kann man eine Arbeitsgruppe begleiten, während andere allein arbeiten, gerade bei Textaufgaben gibt es mehr Kinder, die Schwierigkeiten mit den Formaten haben.

    Und wie werden Kinder unterstützt, wenn sie noch große Schwierigkeiten haben, Wörter zu schreiben, aber in der dritten Klasse gefordert wird, Aufsätze zu schreiben? Formuliert man für diese Kinder differenzierte Lernziele?

    Bisher ging es um ein Kind Ende 1. Klasse, nun geht es um die 3. Klasse. Dazwischen liegt ein ganzes Jahr, das für Förderung und Abklärung genutzt werden sollte. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder Ende 1 im Lesen noch nicht so weit sind. Es ist aber etwas anderes, wenn sie auch nach der Förderung nur geringe Fortschritte zeigen oder Schwierigkeiten in anderen Bereichen, in Klasse 2 sichtbar beim Abschreiben oder beim Aufbau des ZR 100 oder beim Einmaleins (oder, oder, oder).

    für Niedersachsen:
    Bis zum 3. Schuljahr sollte man deshalb klären (und mit Elterngesprächen begleiten), was der Knackpunkt ist und was es nach sich zieht.
    a) das Kind hat gravierende Auffälligkeiten in mehreren Bereichen, dann muss man über ein Gutachten (ab Februar möglich) nachdenken. Das Gutachten braucht viel Vorbereitung schon vor Februar, sonst wird es abgeschmettert. Ist das Gutachten durch, wird das Kind zieldifferent unterrichtet, bleibt in der Klasse und rückt in den 3. Jahrgang auf.


    b) das Kind schwankt zwischen Fortschritten und Rückschritten, es sieht immer kritisch aus oder ein Freiwilliges Zurücktreten in Klasse 1 wurde von den Eltern nicht beantragt (trotz Empfehlung): Im Zeugnis gibt es eine Versetzungsbemerkung, es gibt entsprechende Elterngespräche und am Ende der 2. Klasse kann das Kind sitzen bleiben und die 2. Klasse wiederholen.

    c) das Kind hat im Lesen und Schreiben Schwierigkeiten. Dazu gibt es in NDS einen Erlass. Es besteht die Möglichkeit, einen Nachteilsausgleich einzusetzen. Dieser ist an Bedingungen geknüpft. Er gilt dann für alle Fächer, also auch für Textaufgaben oder Musikarbeiten. Der Nachteilsausgleich ist in NDS nicht an eine externe Testung gebunden.

    d) die Förderung hat geholfen und die Probleme sind nach einem Jahr geschmolzen.

    Immer ist es deine Aufgabe, alles in die Wege zu leiten, alles zu dokumentieren (ILE und Förderplan, ggf. Arbeitsproben, ggf. Testungen), notiere, dass du den Eltern Arztbesuche angeraten hast (Augenarzt, Pädaudiolige- erläutern und Adressen bereithalten). Erläutere den Eltern die Dringlichkeit und was die nächsten Schritte sein werden.

    Zu den Testungen: Du kannst in der Schule selbst etwas machen, z.B. Stolperwörter-Test (kostenfrei, kann man in wenigen Minuten mit allen machen und ist ein gutes Screening) oder PLT - kann die Schule anschaffen oder die Lese-Teile aus dem alten Lisum-Test.

    Die Eltern können das Kind bei einem Psychologen testen lassen.
    Du kannst die Schulpsychologin einbeziehen - zumindest versuchen, die stellt fest, kann aber keine Ergo/Logo verordnen, dann müssen die Eltern das über den Kinderarzt oder erneut über einen niedergelassenen Psychologen versuchen.

    Du kannst die Eltern bitten, das Kind in einem SPZ vorzustellen, die Wartezeiten sind meist mehr als ein halbes Jahr, deshalb muss man das dann Ende 1 oder Anfang 2 anraten, wenn man im Ablauf des 2. Schuljahres Ergebnisse benötigt.

  • Wurden diese Kinder denn auch in anderen Fächern individuell unterstützt? Also z.B. in Mathe bei Textaufgaben?

    Das ist bei normaler Intelligenz (wenn jemand nur eine Leseschwäche/störung hat) kein Problem. Man liest den Kindern einfach die Aufgaben nochmals vor. Im 3. Schuljahr heißt es nicht, dass die Schüler überhaupt nicht lesen können, sondern sie hinken der Vergleichsgruppe stark hinterher.

    Und wie werden Kinder unterstützt, wenn sie noch große Schwierigkeiten haben, Wörter zu schreiben, aber in der dritten Klasse gefordert wird, Aufsätze zu schreiben? Formuliert man für diese Kinder differenzierte Lernziele?

    Kinder mit Leseschwäche können trotzdem Aufsätze schreiben. Allerdings war bei Kindern mit großen Rechtschreibproblemen (wieder im Vergleich zur Kontrollgruppe) vieles falsch geschrieben. Da die Rechtschreibung nicht zählte, habe ich alles nochmals leserlich abgetippt und dann korrigiert.

    Z.B. XY Kann zu einem Bild passende Wörter (aus einer Liste) auswählen und diese aufschreiben." Anstatt: "XY kann zu jedem Bild einer Bildergeschicht einen passenden Satz aufschreiben" oder "XY kann eine Bildergeschichte aufschreiben".

    Darf ich als Lehrkraft einfach so differenzieren oder darf ich das erst machen, wenn ein sonderpädagogisches Gutachten vorliegt? Ich frage das auch mit Blick auf Leistungsbewertung und Noten, die ja in manchen Bundesländern irgendwann vergeben werden müssen.

    Du verwechselst hier die Lese-und Rechtschreibschwäche bzw. Störung mit einem inklusiven Kind. Wenn jemand eine Legasthenie in welcher Ausprägung auch immer hat, geht man von einem normalen IQ aus bzw. von einem signifikanten Unterschied zwischen IQ und Lese- bzw. Rechtschreibleistung. Diese Kinder haben keine sonderpädagogischen Gutachten, sondern sie werden bei uns von der Beratungslehrkaft oder der Schulpsychologie getestet.

    Palim hat das schon geschrieben: Wenn zieldifferent beschult wird, liegt ein sonderpädagogisches Gutachten vor. Dann ist das etwas Verwaltungskram.

    Ansonsten kannst du in der Klasse immer differenzieren zum Zweck die einzelnen Kinder individuell auf das Niveau zu bringen. Allerdings müssen diese in Bayern die gleichen Proben schreiben. Ausnahme: offizielle zieldifferente Beschulung mit Aussetzen der Noten. Welche Erleichterungen Schüler beim Lesen und Rechtschreiben bekommen, hängt von der Ausprägung ab. Das wird über die Schulpsychologie festgelegt. Das nennt sich dann "Nachteilsausgleich".

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    Ich hatte auch schon Kooperationsklassen, da waren tatsächlich Kinder mit in der Klasse, die laut Diagnose auch auf die Förderschule L hätten gehen können. Die hatten dann je nach Ausprägung Probleme in Mathe und Deutsch und bekamen einen individuellen Förderplan. Als die Zeiten noch besser waren, hatte ich ein paar Doppelbesetzungen, wo diese Kinder besonders gefördert wurden. Dennoch gab es große Teile im Unterricht, wo sie mitmachen konnten.

    In meinen Augen stellst du dir das zu kompliziert vor. Meine Devise war immer, die Schüler dort mitzunehmen, wo es ging und ihnen unter Umständen abgespeckte Aufgaben oder mehr methodische Hilfestellungen zu Aufgaben zu geben bzw. ihnen etwas mehr zu erklären. Während des Unterrichts ergeben sich da immer wieder Zeitfenster oder in Bayern während der Morgenarbeit, wo die Schüler indiviuell arbeiten. Das hat man aber immer, dass man einigen Kindern nochmals etwas individuell erklären muss.

    Die wirkliche Herausforderung ist eine zieldifferente Beschulung, aber da hatte ich wenige Fälle. Das waren mal Kinder, die kein Wort Deutsch konnten (das gibt es auch wieder Sonderregelungen für diese Fälle) oder ein wirklich inklusives Kind, das Hilfe brauchte und deswegen eine Schulbegleitung hatte.


    P.S.: Habe gleichzeitig mit Palim geschrieben. Meine Erfahrungen beziehen sich auf Bayern.

  • Welche Erleicherungen Schüler beim Lesen und Rechtschreiben bekommen, hängt von der Ausprägung ab. Das wird über die Schulpsychologie festgelegt.

    In NDS legt es die Klassenkonferenz fest.

    BY hat etwa 3x mehr Schulpsycholog:innen und diese sind ganz anders eingebunden, NDS hat in den letzten Jahren aufgestockt, dennoch sind SchuPsy wenig greifbar. Auch Beratungslehrkräfte gibt es so leider nicht.

    Wenn die Förderschullehrkraft, die die sonderpädagogische Grundversorgung übernimmt, erkrankt, wird die nicht ersetzt, aber die SL kann beim Dezernenten um ein paar Stunden bitten, dann kommt es ggf. zu einer Abordnung (da dreht sich bei uns gerade sehr viel, da die FöS-LuL alle an die Regelschulen versetzt werden, die Zuständigkeiten sind noch nicht transparent genug).

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