Ich bin mir unsicher, ob wir in Sachen Bewegung nicht eher einen Gegentrend erleben. Fitnessstudios verzeichnen ja große Mitgliederzuwächse und die berühmt-berüchtigten 10.000 Schritte pro Tag sind ja kein Insidertipp mehr, sondern in der Mitte der Bevölkerung angekommen.
Karteileichen bringen den Fitnessstudios viel, ändern aber nichts an der individuellen Bewegung. Die „berühmt - berüchtigten 10.000 Schritte pro Tag“ haben nebenbei bemerkt keinen speziellen gesundheitlichen Vorteil im Vergleich zu 6000 - 9999 Schritten, sondern sind das Ergebnis cleveren Marketings. Zumindest dafür, dass 7000 Schritte pro Tag als Minimalziel einen gesundheitlichen Unterschied machen z.B. bei der Krebs - und Demenzprävention gibt es dagegen entsprechende Studienergebnisse.
Wenn du realistisch einschätzen möchtest, wie es tatsächlich ums Gesundheitsbewusstsein, Willenskraft und Fähigkeit zur Änderung des eigenen Lebensstils bestellt ist, dann schau dir an, wie viele Kinder und Jugendliche bereits adipös sind, wie viele Erwachsene ebenfalls adipös sind. Schau dir bewusst an, was andere Menschen einkaufen an Bergen von nur zuckerhaltigem, transfetthaltigem, billigstem Conveniencefood.
Ich war vor kurzem in der Reha. Als ich vor 10 Jahren schon mal in Reha war, gab es eine Adipositasgruppe, der Rest war weitestgehend normalgewichtig bis teilweise leicht über - oder untergewichtig. Dieses Mal waren trotz ständigem Patientenwechsels konstant 60-80% der Patienten klar adipös. Die meisten hatten null Ahnung davon, wie gesunde Ernährung tatsächlich funktioniert. Während ich also mit einigen wenigen Mitpatienten im semi - gesunden KKH- Essen den gesündesten Pfad genommen habe, wurde rundherum den ganzen Tag über Weißmehl gegessen, Nutella zentimeterdick aufgeschmiert oder gelöffelt, Zucker in Kaffee geschaufelt, ein Fruchtjoghurt hier („ist ja Obst drin, ist gesund“), ein Schweinesteak dort („Proteine, braucht der Körper“), etc. Und obwohl ich wiederholt auf das kostenfreie Appprogramm hingewiesen habe, das die Krankenkassen zur Ernährungsschulung Zahlen bei Übergewicht, wurde ständig nur darüber geschimpft, wie ungesund das Essen wäre, wie nutzlos der Ernährungsvortrag und man wisse das doch eh schon alles.
Was ich wahrnehme ist, dass erschreckend viele Menschen sich völlig unkritisch auf Ozempic und Co. stürzen bzw. das pauschal empfehlen, weil sie zwar äußerlich schlank sein wollen, um bestimmten Normvorstellungen zu entsprechen, sich davon auch mehr Gesundheit und Fitness versprechen, aber nichts dafür machen möchten, sich nicht anstrengen wollen, als wäre jede Bewegung eine Strafe und nicht das, wofür unsere Körper geschaffen sind und was sie auch unabhängig von der Kleidergröße zu leisten vermögen. (Vor allem viele Frauen sind trotz Sports und Bewegung durch Lipödem und PCOS nicht unbedingt schlank, ggf. aber - gerade bei PCOS - dennoch fit, mit sehr gut ausgebildeter Muskulatur unter dem Fett.)
Was wir bräuchten, damit sich tatsächlich etwas ändern kann, wäre meines Erachtens ein Schulfach „Gesundheit“ in jeder Schulart, wo gesunde Ernährung theoretisch besprochen, aber auch praktisch erprobt wird, wo Gesundheitsmythen wissenschaftlich fundiert geklärt werden (wie die 10.000 Schritte), wo es Raum gibt für gesundheitsbewusste Bewegung (Rückenschule, Yoga, Thai Chi,…), wo es aber gerade nicht um Blaming geht, wie du das betreibst à la „wer an Demenz erkrankt ist selbst schuld und sollte von der Solidargemeinschaft ausgeschlossen werden“.