Ich überlege gerade so vor mich hin. Vielleicht liegt ein Grundproblem schon darin, dass Förderschulen begrifflich eine eigene Schulart bilden? Wenn überhaupt sollten eigentlich doch nur Schulen mit eigenem Lehrplan als eigene Schulart zählen. Dass es in Deutschland für jede "Behinderungsart" einen Förderschultyp gibt, ist ja nicht gottgegeben, sondern ein Konstrukt, an das man sich so gewöhnt hat, dass man meint, es ginge nicht anders.
Dabei ist die Zuordnung überhaupt nicht einfach, wer schonmal diagnostiziert hat, weiß das. Wir diskutieren bei vielen Kindern lange, welche Empfehlung wir aussprechen bzgl. des Förderortes (auf welche Schule es gehen sollte). Es gibt immer Grenzfälle in alle Richtungen und auch Kinder, die nirgends hinzupassen scheinen. Ob jemand auf eine Förderschule geht und auf welche, ist also zunächst mal nicht sonnenklar und auf den ersten Blick erkennbar. Erst ab der Sekunde, wo es das Schulhaus betritt, wird es zum Sonderschüler.
Nehmen wir die Schule für Erziehungshilfe. Dort gibt es beispielsweise 10 oder 12 Plätze pro Klasse und dann ist Schicht im Schacht, es ist also nicht die Frage, wie viele emotional gestörte Hardcorefälle an völlig überlasteten Regelschulen einer Stadt sitzen, sondern wie viele in der entsprechenden Förderschule unterkommen können. Das sieht dann so aus: eine Lehrkraft sieht alle zu begutachtenden Fälle vor sich mit dem Wissen, dass in Klasse 3 nur einer aufgenommen werden kann. Dann sagt sie der Kollegin, die die entsprechenden Gutachten schreibt, dass es nach Aktenlage den Anschein habe, dass Max von der 79. Grundschule derjenige sein wird, der diesen Platz gewinnt, weil er direkt aus der Psychiatrie dorthinkommen muss. An die alte Schule soll er nicht zurück, weil er dort regelmäßig alles kurz und klein geschlagen hat und beinahe täglich Tierlaute ausstoßend unterm Tisch lag. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass Jeremy-Joel von der 23. Grundschule und Lydia aus der Astrid-Lindgren-Schule, die auch im 3. Schuljahr sind und leiden und ihre Umwelt tyrannisieren nicht diesen Platz haben können. Sie kriegen trotzdem Förderbedarf, sind aber weiterhin Grundschulkinder. Das Förderschülersein bekommt man nicht in die Wiege gelegt oder auf die Stirn tätowiert. Menschen sind einfach verschieden und jede andere Kategorisierung würde sich absolut verbieten.
Und von der Ausbildungsseite: wenn man Förderschullehrkraft werden will, studiert man ein Schulfach und zwei sonderpädagogische Fachrichtungen statt eines zweiten Schulfachs. Also kann einer, der Mathe, Sprachbehindertenpädagogik und Lernbehindertenpädagogik studiert hat, an einer Realschule Mathe unterrichten, ohne dass es irgendwie fachfremd wäre. Er hat Mathe zusammen mit den Realschulkollegen (mwd) studiert.
Ist der Umkehrschluss, dass ein Realschullehrer, der Mathe und Sport studiert hat, nicht an einer Lernbehindertenschule arbeiten könnte? Wäre das fachfremd? Und würde er an einer Sprachheilschule fachfremd Mathe unterrichten? (-> derselbe Lehrplan). Und unterrichtet er fachfremd, wenn er in der Realschule Mathe unterrichtet und ein Kind mit Förderbedarf Sprache oder Lernen ist mit in seinem Unterricht?
Ich verstehe nicht, warum es immer wieder darum geht, wer am besten für welche Schulart ausgebildet ist und wo am liebsten unterrichtet. Natürlich sind alle für ihre Schulart am besten ausgebildet und arbeiten auch dort am liebsten. Das stellt niemand infrage. Selbst Quereinsteigerinnen ohne Lehramtsstudium sind in der Lage, sich didaktisch nachzuqualifizieren, daran zweifelt offenbar niemand.
Ich für meinen Teil halte mich nicht für die beste Lehrerin der Welt, ich weiß aber nach soundsoviel Jahren ziemlich realistisch, was ich kann und was ich mir noch aneignen könnte, wenn ich müsste. Ich würde zum Beispiel am wenigsten gern in einer Grundschule arbeiten, weil ich inzwischen lieber mit Jugendlichen zu tun habe und keine Lust auf Eltern hätte, die alles besser wissen. Lieber habe ich mit Eltern zu tun, die vorm Schulhaus rumschreien oder selbstgebastelte Ungetüme mit einem Schokoriegel darin verschenken.
Können könnte ich es natürlich, hab ja Grundschulfächer studiert und ich würde bei einer erfahrenen Grundschulkollegin hospitieren und mir Tips geben lassen, was im Alltag der Grundschule hilfreich ist. Trotzdem fasse ich Kinder unter 10 nicht als Zumutung an mich auf, das wäre eben, ich sagte es bereits, gruppenbezogen menschenfeindlich.
Langer Rede kurzer Sinn, ich finde es nicht verkehrt, sein Bild von Behinderung ab und an zu hinterfragen und das, obwohl ich in Förderschulen ein- und ausgehe und persönlich Kinder und Erwachsene mit geistiger Behinderung kenne und als Menschen prima finde, genau so, wie sie sind. Ich nehme nicht ihre Einschränkungen gesondert wahr, es sind die Personen Fritz und Frida und nicht Fritz und Frida ja aber die können ja nicht lesen.
Trotzdem habe ich natürlich auch Vorurteile und sehe bestimmte Dinge aufgrund meiner Erfahrungen auf eine bestimmte Weise und nicht, weil das objektiv so stimmen muss. Nennt sich Subjektive Theorien. Mein Weltbild bricht aber nicht zusammen, mir nur mal 5 min vorzustellen, welche Vor- und Nachteile ein Schulartwechsel hätte und was passieren würde, wenn wir keine Förderschulen als eigene Schulart mehr hätten. Selbst wenn ich zum Schluss käme, dass das nicht für alle gut wäre, ich kann den Gedanken tatsächlich zulassen, ohne mich deswegen in Luft oder Daseinsberechtigungslosigkeit aufzulösen.