Ich hab in dem Thread schon einmal das entsprechende Urteil des BVerwG zitiert. Um es ganz offen und leicht verständlich zu sagen Wolfgang Autenrieth: deine Rechtsauffassung widerspricht so eklatant herrschender Lehre, dass sie absolut unvertretbar erscheint.
Die Aussage eines Schülers, dass er zwei Seiten einfach auswendig gelernt hat und diese zuerst Mal ohne jeden Aufgabenbezug aufgeschrieben hat, ist ganz offensichtlich eine Schutzbehauptung, das würde nicht einmal in NRW von der Bezirksregierung kassiert werden und die ist oft ebenso unvertretbar schülerfreundlich, weil von Seiten der Schule ja keine Klage droht.
Ich stimme dir zu, dass deine Bezirksregierung (und alle weiteren 4 Bezirksregierungen in NRW) die Behauptung, die Schülerin bediene sich einer Schutzbehauptung, nicht so ohne weiteres "kassiert" (obwohl du, glaube ich, etwas anderes meintest), sondern den Fall sorgfältig untersuchen würden. Die von dir wahrgenommene vermeintliche Schülerfreundlichkeit der Bezirksregierung gegenüber Schülern dürfte m.E. Ausdruck dessen sein , dass dort eben Volljuristen die zur Entscheidung vorgelegten Sachverhalte vorurteilslos, differenziert und unvoreingenommen und eben mit einer großen Expertise ausgestattet beurteilen.
Die vom Bundesverwaltungsgericht formulierten grundsätzlichen Merkmale für das Vorliegen einer Täuschungshandlung beziehen sich auf einen Fall, bei dem im Rahmen einer Aufstiegsprüfung wörtlich inhaltliche Bestandteile aus der tatsächlichen Lösungsskizze verwendet wurden, der vollständige Inhalt dieser Lösungsskizze also offenbar bekannt war. Wörtliche Übereinstimmungen in der vorgelegten Arbeit konnten nach Erkenntnis des Gerichts daher nur durch Täuschung erfolgt sein, eben durch die Kenntnis der Lösungsskizze bei gegebener Aufgabenstellung. Wie genau die Täuschung erfolgte, war dabei unerheblich.
Grundsätzlich ist eine solche Konstellation im Schulbereich eher unwahrscheinlich, weil hier ein Erwartungshorizont zu den gestellten Aufgaben durch eine Lehrkraft "verwaltet" wird und eine bewusste Einsichtnahme für Schüler dementsprechend ausgeschlossen ist.
Im vorliegenden Fall geht es zunächst aber offenbar eben nicht in erster Linie um den Inhalt, sondern um die sprachliche Darbietung der Arbeit einer "schwachen" Schülerin mit einem "grauenhaften Schreibstil", die in einem Teil der Arbeit "grammatisch einwandfrei" und in ordentlicher Schrift formuliert. Der Rest sei u.a. "katastrophal, schlecht lesbar und grammatisch völlig daneben". Inhaltlich scheint also auch der als "katastrophal" bezeichnete Teil der Arbeit aber nicht zu beanstanden zu sein. Die sprachlichen Mängel wären aus meiner Sicht natürlich bewertungsrelevant, allerdings nicht in dem Maße, wie das vermutlich im Fach Englisch der Fall wäre.
ZitatErgänzt wird allerdings später:"Ja, wir haben quasi immer die gleiche Aufgabenstellung. Kern ist die Darstellung von Theorien und die Anwendung auf ein Fallbeispiel. Die beiden Theorieteile (eigentlich wären 4 gefordert gewesen) sind die, von denen ich vermute, dass sie reingeschummelt worden sind. Die sind noch nicht mal korrekt gelöst ... wir hatten eine Musterklausur samt Musterlösung im Unterricht besprochen, daran hätte sie sich halten können, aber es sind Begriffe definiert und erklärt, die gar nicht nötig gewesen wären bzw. unter eine andere Theorie fallen. Einige SuS haben Dinge auswendig gelernt (Thesen der Sozialisation), das ist auch ok, manchmal ist das so. Aber 2.5 Seiten auswendig lernen wäre viel. Vor allem ist das Schriftbild und der Schreibstil ein wirklich heftiger Bruch - ich bin mir zu 100% sicher, dass sie das nicht in der Klausur geschrieben hat."
Damit scheidet die Anwendung des "Anscheinsbeweises" m.E. aus: Die Klausur wird offenbar regelmäßig immer mit einer identischen Aufgabenstellung gestellt, nämlich die Darstellung von vier Theorien und ihre Anwendung auf ein Fallbeispiel. Darauf kann man sich als Schüler natürlich gut vorbereiten, eben auch durch Auswendiglernen eigener Exzerpte. Unter Schülern, die eine solche Klausur bereits geschrieben haben, dürften außerdem mittlerweile viele Lösungen kursieren, die sie den aktuellen Kandidaten natürlich zur Verfügung stellen könnten.
Gegen eine Nutzung eines vorbereiteten Textes, den die Schülerin in der Klausur genutzt haben könnte, spricht m.E. allerdings einerseits, dass er nur zwei der 4 geforderten Thesen umfasst und andererseits natürlich, dass die Lösung der bearbeiteten 2 Thesen nicht korrekt war. Hier spricht einiges dafür, dass die "schwache" Schülerin an der korrekten Wiedergabe des Textinhalts wegen ihrer unzureichenden Memorierung gescheitert ist. 2.5 Seiten für 2 Thesen waren wohl zu viel, 4 Thesen offenbar aussichtslos. Darüber hinaus dürfte auch Zeitnot bestanden haben, nachdem zweieinhalb Seiten mühsam zu Papier gebracht worden sind. Das könnte das deutlich veränderte Schriftbild, die Häufung grammatikalischer und anderer Fehler erklären. Eine Schutzbehauptung der Schülerin scheidet m.E. ganz offensichtlich aus, der vergebliche Versuch der memorierten Darstellung erfolgte auch eindeutig aufgabenbezogen.
Ich würde die Klausur ganz normal bewerten, nach den hier genannten Informationen dürfte die Leistung ohnehin im unteren Bereich zu bewerten sein. Allerdings würde ich auch über ein variableres Aufgabensetting nachdenken. Das OVG Rheinland-Pfalz hat 1998 in einer Entscheidung im Rahmen des Abiturs auf eine Mitschuld der Schule hingewiesen, wenn Schüler im Abitur scheitern, weil sie lediglich Textvorlagen auswendig gelernt haben, aber dabei die eigenständige Problemlösung im schriftlichen Abitur nur bedingt beherrschen:
Zitat„Wird eine Abituraufgabe, deren Gegenstandsbereich durch § 16 Abs. 2 S. 1 PrüfO eingegrenzt und damit für den Schüler in gewisser Hinsicht „berechenbar" wird, so wie hier, aus einer allgemein zugänglichen Publikation unverändert entnommen, dann muss nicht nur mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass die Aufgaben den Prüflingen bekannt sind, sondern es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass mancher sich sogar durch Auswendiglernen der Textvorlage auf die Prüfung vorbereitet hat. Bleibt dann ein Prüfling den Nachweis seiner Befähigung zur eigenständigen Problemlösung im schriftlichen Teil der Abiturprüfung unter Umständen teilweise schuldig, an diesen die Schule erhebliche Mitverantwortung trägt, dann hat sie in dem Maße, in dem sie zur Nachweisvereitelung beigetragen hat, diesen Sachverhalt bei der Leistungsbewertung Rechnung zu tragen. Dies kann, wie ohne weiteres einleuchtet, nicht in der Weise geschehen, dass eine bewertungsspezifische Gleichstellung zwischen den hier vorliegen atypischen Fall und dem regulären prüfungsrechtlichen Geschehensablauf der teilweisen Nichterbringung der geforderten Leistung erfolgt." (OVG Rheinland-Pfalz 2. Senat, Urt. v. 04.12.1998 – 2 A 11233/98).