Der Lehrer als Sozialarbeiter

  • Habe gestern Abend eine 37° Doku gesehen, die verdeutlichen sollen, wie es einem Lehrer mit Herzblut im Schulleben ergeht von der Belastung her und den Aufgabenbereichen. die eine porträtierte Lehrerin ist seit 30 jahren am Berufskolleg und sagte die größete Veränderung gegenüber früher sei, dass sie nicht mehr Stoff vermittelt, sondern viel mehr zur Sozialarbeiterin gewandelt ist. Mich würden eure Erfahrungen interessieren, gerne auch von Kollegen mit vielen Dienstjahren auf dem Buckel. Wie sieht ihr euch in eurer Lehrerrolle? Und wird man darauf vorbereitet als Anfänger?


    Das Video zur Doku:
    http://www.youtube.com/watch?v=DMBFzUmMm_A

    • Offizieller Beitrag

    Naja, den Lehrer als reinen Wissensvermittler gibt es nicht mehr. Wobei sich ja neben den sozialen Aspekten ja auch der Stellenwert des Stoffs geändert hat, der Lernstoff veraltet ja sowieso immer schneller, daher wäre selbst ohne die "Sozialarbeitertätigkeit" (die ich persönlich ja gerade interessant finde) der Unterricht ja heute anders als vor 30 Jahren.

    • Offizieller Beitrag

    Ich finde, in der Tendenz stimmt das definitiv. Es gibt aber extreme Unterschiede zwischen Brennpunktschulen, in denen man fast nur Sozialarbeiter ist und Schulen, in ländlichen Gebieten, in denen man zwar manchmal Sozialarbeiter ist, oft aber auch größtenteils recht problemlos unterrichten kann. Zumindest ist das meine Erfahrung und ich finde die Unterschiede zwischen verschiedenen Schulen gleicher Schulform sehr extrem.

  • ...dass das Lehren nicht mehr im Vordergrund steht.


    Dann sollte man die Institution konsequenterweise nicht mehr als Schule bezeichnen, sondern als Erziehungs- und Betreuungsanstalt und die Abschlüsse mit "hat teilgenommen" versehen.

    Planung ersetzt Zufall durch Irrtum. :_o_P


    8_o_) Politische Korrektheit ist das scheindemokratische Deckmäntelchen um Selbstzensur und vorauseilenden Gehorsam. :whistling:

  • Wunderbar! Ein alter Gedanke von mir:


    Erster Lehrertyp: der Verwalter. Lebt vom Ausfüllen von Anwesenheitslisten. Ist sehr ordentlich und gewissenhaft mit dem Papierkram, Geld oder wie bei uns neulich Impfpässe einsammeln, Organisieren von Klassenfahrten und so weiter und so weiter. An meiner Schule "relativ" zufrieden.


    Zweiter Lehrertyp: Der Sozialarbeiter und Pädagoge. Interessiert sich vorrangig für "den Schüler" und seine schreckliche Familie. Redet in den Pausen auch am liebsten darüber. Führt ständig Elterngespräche oder Schülergespräche. Und so weiter. An meiner Brennpunktschule relativ zufrieden.


    Dritter Lehrertyp: Der Fachmann. Man muss schon fast sagen: Job verfehlt. Denn der Stoff ist nur noch eine Ausrede dafür Typ 1 und Typ 2 sein zu können. Stoff wird ja notfalls einfach fachfremd vermittelt. Vermittelt werden soll bei uns nämlich nicht mehr Stoff sondern nur noch "Methodenkompetenz".



    Die unglücklichsten Lehrer an meiner Brennpunktschule sind Typ 3. Die glücklichsten Typ 1 und 2.

  • Na ja, Unterricht geht grundsätzlich vor - das finde ich erst Mal ganz wichtig für die Schüler. Wenn ich eine Klasse neu bekomme, habe ich am Anfang ganz viel Elternkontakt und schalte auch schnell unsere Sozialpädagogin ein. Jetzt habe ich die Klasse das zweite Jahr - und es läuft prima. Und wenn´s mal ein Problem gibt, haben wir die Basis, das schnell zu lösen. Ich würde sagen von 60 :40 sind wir jetzt zu 95 :5 zugunsten der Stoffvermittlung gekommen. Wobei sich auch mein Arbeitsaufwand extrem verringert hat. ;)

  • Hm - im Grunde habe ich schon das Gefühl, dass es jedes Mal anders ist - aber die Möglichkeiten und Wege kennt man schon teilweise - wobei auch das sich immer wieder ändert. Und ehrlich gesagt bin ich auch schon an Klassen gescheitert - aber ich lerne draus! :)

  • Also ich sehe das eher so, dass ich die Sozialarbeit zusätzlich zum Unterricht leiste (gemessen an meiner Gesamtarbeitszeit nimmt das tatsächlich einen immer größeren Anteil ein!), wobei ich da auch gerne an unsere Sozialpädagogen weiterleite (das nehmen aber nicht alle Familien an). Was in meinem Unterricht (Brennpunkt/Schulanfang) aber immer mehr Raum einnimmt und was tatsächlich zulasten der Wissensvermittlung geht, ist der immer größere Anteil an Erziehungsarbeit! Und ich sehe es nicht so, dass ich da die Wahl habe zwischen Wissensvermittlung und Erziehen, sondern letzteres ist die Voraussetzung für ersteres. Würde ich versuchen die Erziehungsdefizite, mit denen die Kinder bei uns ankommen zu ignorieren , wäre schlicht gar kein Unterricht mehr möglich, dann hätten wir da Chaos und Anarchie....

    "Die Wahrheit ist ein Zitronenbaiser!" Freitag O'Leary

  • Vermittelt werden soll bei uns nämlich nicht mehr Stoff sondern nur noch "Methodenkompetenz".


    Wie jetzt.... Fachkompetenz ist nicht mehr?!?!
    Dann repariere ich meine Steckdosen in Zukunft lieber selber (wegen der Überlebenschancen).

    Planung ersetzt Zufall durch Irrtum. :_o_P


    8_o_) Politische Korrektheit ist das scheindemokratische Deckmäntelchen um Selbstzensur und vorauseilenden Gehorsam. :whistling:

  • Vermittelt werden soll bei uns nämlich nicht mehr Stoff sondern nur noch "Methodenkompetenz".


    Kann man Methodenkompetenz ohne Fachkenntnis vermitteln? Ich kann das nicht. Ich bin sogar immer wieder froh darüber, dass ich in meinem Fach promoviert habe. Ich definiere mich darüber, auch auf der sozialen Seite. Ich stelle z. B. immer wieder fest, dass ich als Chemielehrerin besonders gut mit dem Schülerinnentyp "Tussi" kann. Irgendwie merken sie bei mir, dass ich sie nicht für dumm halte, egal wie "dumm" ihre Fragen oder Antworten vielleicht sind. Ich habe gerade wieder eine Schülerin von diesem Typ, die auf jede Frage mit "keine Ahnung" antwortet. Wir spielen jetzt ein Spiel ... ich merke mir, was sie irgendwann schon mal in irgendeiner Aufgabe richtig gemacht hat und frage sie gezielt danach. Direkt mit der Ansage "sagen Sie bloss nicht, Sie hätten keine Ahnung, ich weiss, dass sie es können". Mittlerweile grinst sie schon. Ich frage mich oft, was mit den Jugendlichen passiert ist, dass sie schon mit so einem schlechten Selbstvertrauen in den Unterricht kommen.


    Ich finde, dass unsere Schule sich insgesamt sehr gut auch um schwierige Fälle kümmert, also um Schüler bei denen es zu Hause Probleme gibt, die krank sind, etc. Bei uns ist aber keiner für sich alleine der Übermensch und ausschliessliche Sozialarbeiter, es trägt einfach jeder seinen Teil dazu bei. Vielen Schülern ist ja schon geholfen, wenn sie an der Schule klare Strukturen erfahren und man sie einfach mal ein bisschen voran schubst, wenn sie selber gerade nicht mehr können.


    Ach ja ... die Frage war ob man darauf vorbereitet wird. Jein. Ich hatte tatsächlich eine Praktikumsklasse, die es zumindest versucht hat, mich zu nerven. Da finde ich das System hier in der Schweiz gut. Man gibt die Klasse nach einer sehr begrenzten Zeit wieder ab und kann also zwischenzeitlich frisch und frei alles mögliche mit ihnen ausprobieren. Ich hab mir einfach gedacht ... wenn ihr mir dumm kommt, komme ich euch auch dumm und ansonsten Ruhe bewahren. Ich hatte auch sehr demotivierte Praktikumsklassen, das ist auch mühsam. Aber man lernt dabei, irgendwas muss man sich halt einfallen lassen.


    Ist es heute so viel anders als früher? Aus meiner Sicht nicht. Ich war selber in einer ziemlich unmöglichen Klasse, von daher hatte ich durchaus eine gewisse Vorstellung davon, was da kommen kann ;)

  • Ach ja, zum Film: Mr. Mathelehrer würde wohl erheblich an Energie und Nerven sparen, würde er einfach nur weniger labern. 8_o_)

  • He he ... genau :) Ich muss auch manchmal aufpassen, dass ich nicht zu viel labere. Die meisten SuS nervt es auch glaub ich einfach nur.


    Wer übrigens ernsthaft mein, früher sei sowieso alles besser gewesen mit der Disziplin und so, dem empfehle ich dringend mal Iganz Scherr oder Johann Pestalozzi im Original zu lesen. Ihr werdet staunen, welche Probleme es früher schon so gab :) Für mich ist fast der einzige Unterschied, dass heute alles was geschieht innerhalb von 2 min per Smartphone im Internet auftaucht und so die ganze Welt daran teilhaben kann.

  • Das interessante ist ja, es wird irgendwie angenommen im Film: Kumpeltyp=Lehrer mit Herzblut. Dabei muss das ja nicht zwingen so sein.


    Und irgendwie kam mir eben der Gedanke, dass die Länder ja durchaus auf die Ideen kommen könnten Sozialpäd. wegzulassen, weil die Lehrer ja als solche fungieren..

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