Nachteilsausgleich - Ein Widerspruch zum Schulsystem?

  • Wir haben im Kollegium auch schon häufig die "Sinnhaftigkeit" diskutiert. Schon im Grundschulbereich finde ich den NTA mehr als fragwürdig. Nach Aussage unserer Fachberaterin ist im Bereich Mathematik das Rechnen mit Material ein zulässiger NTA! Sind das dann tatsächlich noch die gleichen Leistungen??? Meiner Meinung nach nicht (mal ganz davon abgesehen, dass damit nicht gerechnet, sondern überwiegend gezählt wird!)! Material und möglicherweise mehr Zeit führt zu scheinbar guten Ergebnissen, hat aber mit der erwarteten Kompetenz nur noch wenig zu tun und verschleiern letztlich nur das Problem. Ich weiß auch nicht, wem damit geholfen sein soll. Scheinbar eh da Dilemma: Erst NTA, dann Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung und schließlich Förderbedarf Lernen - klassischer Weg! Was auf der Strecke bleibt ist eine echte bedarfsgerechte Förderung, weil dafür keine Leute da sind.

  • Anders sieht es bei einem Zugeständnis von mehr Zeit, dem Ansetzen eines anderen Erwartungshorizontes oder eben Absenken der fachlichen Anforderungen aus....

    Anderer Erwartungshorizont & Absenken der fachlichen Anforderungen sind nicht mehr reiner Nachteilsausgleich.
    Wenn so etwas (vorübergehend!) angewendet wird, dann muss das (in Niedersachsen) auf dem Zeugnis vermerkt werden ("In Fach X wurde von den Grundsätzen der Leistungsbewertung abgewichen."). Oder man befindet sich sowieso schon im Bereich der Inklusion. Dann wird aber nach dem Lehrplan der Förderschule (zieldifferent mit Förderschwerpunkt Lernen oder Geistige Entwicklung) unterrichtet & das steht auch so im Zeugnis. (Anekdote am Rande: Ein Vater wollte mal eine Bescheinigung dafür, dass sein inklusiv beschultes Kind (mit dem Leistungsstand eines 2.-Klässlers) das Gymnasium besucht, um bei seinem Arbeitgeber einen Praktikumsplatz für seinen Sohn zu bekommen...)


    Mehr Zeit: Ja, wovon sprechen wir denn hier & was ist schulorganisatorisch überhaupt machbar. Meist sind das doch nur 10-15 Minuten. Wenn Zeit sowieso nicht der Faktor ist und die meisten SuS früher fertig sind, dann arbeitet der eine Schüler eben mit gutem Gewissen und ohne gefühltem sozialem Druck noch an seinen Aufgaben (und geht auch so schon entspannter in die Klassenarbeit). Wenn ein Schüler LRS oder Legasthenie hat, dann braucht der einfach einen Moment länger, um auch in Multiple Choice Arbeiten die Aufgaben zu erfassen.



    Ein interessanter Punkt in dem Zusammenhang ist ja die Berücksichtigung von LRS: Anscheinend wird sie in Deutschklausuren manchmal berücksichtigt, manchmal nicht, und auch nur in manchen Jahrgangsstufen. Ob das wirklich Chancengleichheit ist (vor allem da orthographisch korrektes Schreiben ein zentraler Bereich des Deutschunterrichts ist), ist die Frage...

    LRS ist etwas, was mit entsprechend professioneller Hilfe über die Jahre hinweg deutlich besser wird (weshalb das Verwaltungsgericht in Mainz auch festgestellt hat, dass ein aktueller Nachweis jedes Jahr wieder vorzulegen ist). In NDS wird in Deutschklausuren aufgrund der Rechtschreibung bei allen Schülern maximal 2/3 einer Note (also umgerechnet 2 Notenpunkte) abgezogen - bei allen, nicht nur LRS-SuS. Bis in Klasse 9 hinein gibt's ja auch noch DIktate/Rechtschreibüberprüfungen. Da zählt die Rechtschreibung natürlich voll.
    Zu unterscheiden ist LRS übrigens von Legasthenie (wobei es da immer wieder verschiedenste Definitionsversuche gibt). Aber zumindest ist das klassifiziert nach der ICD-10 der WHO - ist also definiert als Behinderung. Ein Besserung ist möglich, aber die Probleme bestehen (anders als bei einer "behandelten" LRS) auch bis in die Oberstufe hinein.
    EIn Nachteilsausgleich aufgrund von LRS ist also was für die (frühe) Mittelstufe - das ist noch nicht so relevant für den späteren Arbeitsmarkt. Wird aber dafür sorgen, dass der Schüler begabungsgerecht in den Jahrgängen aufsteigen kann & irgendwann auch die Rechtschreibung im Griff hat...

  • In NDS wird in Deutschklausuren aufgrund der Rechtschreibung bei allen Schülern maximal 2/3 einer Note (also umgerechnet 2 Notenpunkte) abgezogen - bei allen, nicht nur LRS-SuS. Bis in Klasse 9 hinein gibt's ja auch noch DIktate/Rechtschreibüberprüfungen. Da zählt die Rechtschreibung natürlich voll.

    Bin zwar kein Deutschlehrer, aber bei uns in NRW sieht es da etwas anders aus. Diktate gibt es nur bis Klasse 6, danach nur noch Aufsätze. Die Rechtschreibung macht bei den Aufsätzen zwar nur noch einen Teil der Note aus, aber es gibt eine Sperrklausel. Wenn die Rechtschreibung 6 ist, kann die ganze Klausur maximal mit der Note 5 bewertet werden, egal wie gut der Inhalt ist.


    Selbst ich als Fachfremder werde angehalten die Rechtschreibung zu bewerten und diese im Umfang von einer Note mit zu berücksichtigen. Rechtschreibung beim Ausfüllen des Kassenbuchs oder beim Aufstellen einer physikalischen Formel. :autsch:

  • Bin zwar kein Deutschlehrer, aber bei uns in NRW sieht es da etwas anders aus. Diktate gibt es nur bis Klasse 6, danach nur noch Aufsätze. Die Rechtschreibung macht bei den Aufsätzen zwar nur noch einen Teil der Note aus, aber es gibt eine Sperrklausel. Wenn die Rechtschreibung 6 ist, kann die ganze Klausur maximal mit der Note 5 bewertet werden, egal wie gut der Inhalt ist.
    Selbst ich als Fachfremder werde angehalten die Rechtschreibung zu bewerten und diese im Umfang von einer Note mit zu berücksichtigen. Rechtschreibung beim Ausfüllen des Kassenbuchs oder beim Aufstellen einer physikalischen Formel. :autsch:

    Von dieser "Sperrklausel" habe ich noch nie was gehört. Selbst im Abitur darf allenfalls die Gesamtnote wegen der Darstellungsleistung um 2 Punkte gesenkt werden, in Deutsch darf, da die Darstellungsleistung bereits 28 von 100 Punkten bzw. die Rechtschreibung 3 von 100 ausmacht, nicht doppelt gestraft werden. Ein NTA wegen LRS wird im Abi m.E. eher selten gewährt, in diesem Jahr bei uns abgelehnt,

  • Ich habe vor meiner Lehramtsausbildung an einer Regelschule als Integrationsfachkraft gearbeitet und mich daher viel mit dem NTA beschäftigt. Ein großer Fehler, der oft gemacht wurde, war NTAs "standardisiert" anzuwenden, z.B.: "der ist Autist, also kriegt er mehr Zeit bei der Bearbeitung, die Aufgaben werden ihm nacheinander und nicht auf einem DIN A4 Blatt gegeben und Klassenarbeiten schreibt er in einem gesonderten Raum!" Ob er das wirklich braucht, wurde gar nicht überprüft. Man muss natürlich gucken, was passend für diesen Schüler notwendig ist.
    Vielleicht hilft es auch manchmal, sich wirklich mit dem Grund des NTAs auseinander zu setzen : Wenn jemand Legastheniker ist, hat er keine 10 Minuten länger Zeit, sich inhaltlich mit der Aufgabe auseinander zu setzen, er hatte in der ganzen Zeit zuvor schlicht weniger Zeit, sich mit dem Inhalt zu beschäftigen, weil ihn das Lesen und Schreiben dermaßen angestrengt haben, dass er dafür überhaupt keine Ressourcen mehr hatte.
    Wenn ein Asperger-Autist motorisch nicht in der Lage ist, schneller zu schreiben, sagt das erstmal nichts darüber aus, wie er eine Aufgabe inhaltlich lösen kann.
    Um das Beispiel mit dem selektiven Mutismus aufzugreifen: Was ist, wenn sich im jungen Erwachsenenalter die Blockade löst (kommt oft vor)? Hat die junge Frau dann Pech gehabt, weil sie zwar klug, engagiert und begabt ist, aber es ihr als Kind und Jugendliche nicht möglich war, mit anderen Menschen zu sprechen?


    Ganz klar ist natürlich : Der NTA darf natürlich nicht inhaltlich sein, sondern eben nur die Rahmenbedingungen anpassen. Und das auch nur so weit, wie es zu diesem Zeitpunkt notwendig ist.


  • Um das Beispiel mit dem selektiven Mutismus aufzugreifen: Was ist, wenn sich im jungen Erwachsenenalter die Blockade löst (kommt oft vor)? Hat die junge Frau dann Pech gehabt, weil sie zwar klug, engagiert und begabt ist, aber es ihr als Kind und Jugendliche nicht möglich war, mit anderen Menschen zu sprechen?

    Das wäre gut, wenn es sich löst. Ich habe ja auch geschrieben, dass ich nicht gegen den Ausgleich bin. Ich frage mich eben nur, wie es nach der Schulzeit weitergeht. Und da gibt es eben Dinge, die sich leicht regeln lassen, nämlich z.B. die von jemand anderem angesprochene größere Bildschirmdarstellung, und Probleme, die tiefer sitzen.


  • ...
    Ich hatte das Gefühl, dass Dein Argument darauf rauslaufen soll, das man sagt "Macht doch eh nix groß hin und her - also einfach mal den NTA gewären!" Aber das ganze kann man doch auch einfach umdrehen, mit dem selben Argument. Oder nicht?

    Ja, das stimmt. Aber du entscheidest das doch pro Schüler. Ob du jemand die Zusatzzeit, das Vorlesen eines Textes oder whatever gewährst, ist doch Entscheidung der Klassenstufenkonferenz. Man erteilt das doch nur, wenn man den Eindruck hat, jemand kann aufgrund einer körperlichen Einschränkung nicht sein volles Potential ausschöpfen.


    Als Mutter kämpfe ich nicht für den (vom Kultus vorgeschlagenen!) Nachteilsausgleich meines Kindes. Wenn ich merke, dass es dem Lehrer scheissegal ist, wie es dem einzelnen Kind geht, dann braucht er nicht noch genervt Zeitzugaben erteilen und das Kind spüren lassen, dass er das für Kokolores hält. Dann lieber eine 3 statt ner 2 und keine Sonderrolle eingenommen.

  • Vielen Dank für Eure Beiträge!


    Momentan scheint es mir, dass bei den "fachlichen Anforderungen" der Hund begraben ist.
    Da gehen die Meinungen eben auseinander, was zu "fachlichen Anforderungen" gehört oder nicht. Vor allem der Faktor Zeit wurde häufiger genannt: für die einen ist es egal, wie lange ein Schüler benötigt, für die anderen nicht.


    Falls man es so sieht, dass "fachliche Anforderungen" unberührt bleiben, stellt es keinen Widerspruch zum Schulsystem dar.
    Mir persönlich scheinen manche Maßnahmen des NTA die fachlichen Anforderungen mehr und manche weniger zu berühren.
    Beispiel:
    + Ein beinahe Blinder Schüler benötigt nicht nur eine Brille, sondern elektronische Vergrößerungsgeräte. Für mich kein Problem.
    - Sog. "Textoptimierte Aufgaben" berühren meines Erachtens die "fachlichen Anforderungen" jedoch ganz zentral (Lesekompetenz).

  • Hallo zusammen,


    gleich vorne weg: es geht mir in diesem Thema nicht darum, ob man persönlich Nachteilsausgleich für eine gute oder schlechte Sache hält.
    Es soll darum gehen zu beurteilen, ob oder inwiefern Nachteilsausgleich widersprüchlich zum Schulsystem ist.


    [...]


    Meiner Meinung nach ist der Nachteilsausgleich in Ordnung. Es soll ja gar nicht alles gleich behandelt werden, sondern Gleiches soll gleich, aber Ungleiches darf auch ungleich behandelt werden (Juristengrundsatz). Ein Kind, das körperlich behindert ist, kann eben nicht die gleichen sportlichen Leistungen vollbringen wie ein körperlich gesundes Kind.


    Ein Problem sehe ich nur in der gelegentlichen "Heimlichtuerei", wenn nicht gesagt werden soll, dass ein Kind gewisse Sonderrechte besitzt und deshalb bestimmte Dinge im Unterricht nicht oder anders machen darf. Die anderen Kinder beobachten das nämlich genau und fragen auch danach. Deshalb halte ich nichts davon, wenn Eltern den Nachteilsausgleich haben wollen für ihr Kind, ich aber nichts dazu sagen soll in der Klasse.


    Ich halte es so, dass ich durchaus auf die "Sonderrechte" hinweise und sage, dass ich mehr aber nicht dazu sage, XY könne selbst erklären, warum, wenn er/sie es wolle.

    Es gibt für alles ein Publikum und für jede Meinung das passende Argument.

  • Bei NTA hat man dann irgendwann Deutsch-Lehramtstudenten mit einer sehr starken LRS und starken Sprachfehlern. Was bedeutet das dann für zukünftige Schüler dieser Lehramtsstudenten?

    • Nicht, wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt. -Machiavelli-
    • Zwei Mächte gehen durch die Welt, Geist und Degen, aber der Geist ist der mächtigere. -Napoleon-
    • In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst! -Augustinus-

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