Denkprobleme bei Schüler

  • Liebe Kolleg*innen,


    ich habe einen sehr netten und durchaus begabten Schüler (22) in der Sek I , der eine lange Odyssee durch einige Länder hinter sich hat und fünf Sprachen spricht. Ich habe ihn im Deutschunterricht und übe mit der sehr diskussionsfreudigen Klasse Analyse und Interpretation einer KG ein. Dieser S. sagte mir, dass er dem Unterricht nicht folgen könne. Zunächst dachte ich, es wären sprachliche Probleme, aber der junge Mann schafft es nicht etwas zu hinterfragen, eine Deutungsthese aufzustellen und/oder diese argumentativ zu stützen. Er hat keine schulischen Vorerfahrungen bezüglich Gedicht- oder Textanalyse und hat nie gelernt Dinge zu hinterfragen, er war immer damit beschäftigt von einem Land ins nächste zu fliehen und die Sprache zu lernen.


    Wie helfe ich ihm? Habt ihr Ideen?

  • ...einen sehr netten und durchaus begabten Schüler (22)

    Darf ich fragen, woran seine Begabung zu erkennen ist?


    Ich habe in der Lernförderschule auch manchmal Schüler, die sehr nett sind, lebenspraktischvdurchaus pfiffig und mehrere Sprachen sprechen, aber eben trotzdem lernbehindert sind. Kommt der Mann in Mathe klar?


    Edit: Je nachdem was er hinter sich hat, kann es auch sein, dass sein Konzentrationsvermögen gerade nicht richtig funktioniert. Dann wäre therapeutische Hilfe als erstes angezeigt.

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  • Wie lange ist der junge Mann denn überhaupt in seinem bisherigen Leben schon zur Schule gegangen? Wir haben des öfteren mal "Flüchtlings-SuS" um die oder über 20, die nur fünf oder sechs Jahre zur Schule gehen konnten. Dass sie in dieser Zeit nichts zum Thema Textanaylse und Co. gelernt haben, ist ja irgendwo klar.

    Ich denke, dass es diesem Schüler durchaus gelingen kann zu hinterfragen, zu diskutieren und zu argumentieren, aber das braucht m. E. Zeit und Übung, da er dies evtl. noch nicht in seiner vorherigen Schullaufbahn lernen konnte. Er wird vielleicht dahingehend noch auf dem Stand eines Sechst- oder Siebtklässlers sein.

    Konkrete Ideen, wie man ihm helfen könnte, habe ich nicht, außer ihm Übungsmaterial zur Verfügung zu stellen.

    to bee or not to bee ;) - "Selbst denken erfordert ja auch etwas geistige Belichtung ..." (CDL)

  • Zunächst würde ich das Leseverständnis überprüfen oder einschätzen.

    Kann er gut genug Deutsch, um Fragen aus unterschiedlichen Lesestufen zu schaffen?


    Ähnliches gilt für Sprechen und Zuhören.

    Übersetzt er stetig oder kann er direkt antworten?


    Danach erst stellt sich die Frage, ob er bei Kurzgeschichten oder Gedichten etwas schaffen kann oder ob andere Textsorten sinnvoller sind oder ob es zudem Texte in einfacher Sprache braucht.

    Tatsächlich können sich viele im Alltag in ihrer Zweitsprache recht gut verständigen, die verdichtete Sprache lyrischer Texte ist aber etwas ganz anderes.

  • Ich habe die Mathekollegin gefragt, da hat er wenig analytische Probleme. Am Sprachverständis kann ich mit ihm arbeiten, er ist auch fleißig ist und will die Sprache lernen. Ich habe mit der Klasse "Das Brot" von Borchert gelesen. Sprachlich ist der Text m.E. durchaus geeignet für eine 10. Realschulklasse, inhaltlich konnte er den Text auch rezipieren, aber bei der Deutung drehte er sich nur im Kreis.


    Warum akzeptiert die Frau die Lüge des Mannes? Weil sie wieder ins Bett will. Warum lügt der Mann die Frau an? Weil er wieder ins Bett will.


    Die Funktion der Lüge war ihm völlig schleierhaft.

  • Ich könnte mir vorstellen, dass das Dinge sind, die in seinem Leben bislang noch nie eine bedeutsame Rolle gespielt haben. Jemand der immer so sehr mit den eigenen Grundbedürfnissen beschäftigt war, hat keine Kapazitäten sich um fiktive Probleme fiktiver Romanfiguren zu kümmern. Ich glaube Du müsstest ihm mal erklären, wozu das gut sein soll. Und wenn er das versteht, dann hilft nur Geduld. Hoffentlich kommt er jetzt mal zur Ruhe, dann hat er wahrscheinlich auch die Musse, sich auf sowas einzulassen.


    Ich hab gerade auch so ein Burschi am Bein, das daheim ziemlich sich selbst überlassen wird und keine 2 cm über den eigenen Tellerrand rausgucken kann. Irgendwas tut sich aber gerade bei ihm. Er muss jetzt (wie alle in der Jahrgangsstufe) eine kleine, selbständige Arbeit verfassen mit einer selbstgewählten Fragestellung. Das hat mit ihm ganz persönlich zu tun, da versteht er plötzlich, dass er sich Gedanken machen muss und vielleicht mal irgendwo nachlesen soll was andere Leute dazu schon gedacht haben. Solche Häschen muss man auf der persönlichen Ebene packen.

  • Ich habe die Mathekollegin gefragt, da hat er wenig analytische Probleme. Am Sprachverständis kann ich mit ihm arbeiten, er ist auch fleißig ist und will die Sprache lernen. Ich habe mit der Klasse "Das Brot" von Borchert gelesen. Sprachlich ist der Text m.E. durchaus geeignet für eine 10. Realschulklasse, inhaltlich konnte er den Text auch rezipieren, aber bei der Deutung drehte er sich nur im Kreis.


    Warum akzeptiert die Frau die Lüge des Mannes? Weil sie wieder ins Bett will. Warum lügt der Mann die Frau an? Weil er wieder ins Bett will.


    Die Funktion der Lüge war ihm völlig schleierhaft.

    Hallo,

    wenn der Schüler den analytischen Teil der Interpretation bewältigt, ist das schon ziemlich gut, finde ich. Auch die inhaltliche Wiedergabe des Textes, die auch schon eine Art Interpretation darstellt, zu schaffen, ist eine tolle Leistung. Für die Deutung des Textes könnte man neben der Interpretationshypothese überlegen, ob man nicht einen handlungs- oder produktionsorientierten Ansatz wählen könnte, sofern der Schüler damit klar kommt. Sollte dies nicht der Fall sein, könnte man Hypothesen vorgeben, von denen der Schüler eine passende ankreuzen und Belege am Text suchen muss. Das sind aber nur Vorschläge aus der Hauptschule.

  • Sprachlich ist der Text m.E. durchaus geeignet für eine 10. Realschulklasse, inhaltlich konnte er den Text auch rezipieren, aber bei der Deutung drehte er sich nur im Kreis.

    Wenn er so viel kann, ist er doch schon recht weit.

    Vielleicht versteht er nicht, was verlangt ist.

    An der Stelle bin ich häufig bei Aufsatzerziehung: Man erwartet, dass Kinder (oder Jugendliche) etwas können, ohne ihnen zu sagen oder zu zeigen, wie es geht.

    Es gibt Rechenwege, Techniken bei Sportarten und in allen möglichen anderen Fächern, aber bei Deutsch und beim Schreiben wird gerne mal erwartet, dass es von sich aus plausibel ist. IST es aber für manche oder mehrere SchülerInnen nicht.


    Dazu gehört dann, dass es ein Muster gibt, das man an Beispielen erläutert, wie es aussehen kann und welche Möglichketien es gibt, was richtig ist und was falsch ist.

    Auf dieses Beispiel bezogen: Man kann

    - theoretisch erläutern, was erwartet wird.

    - zeigen, was erwartet wird, indem man eine Musterlösung präsentiert und gemeinsam zerpflückt.

    - unterschiedliche Bausteine geben und allein oder gemeinsam abwägen oder besprechen, welche zur Aufgabe passen und welche nicht.

    - unterschiedliche Bausteine geben, die verschiedene Meinungen darlegen und daraus wählen lassen und so die Interpretation zusammensetzen, dabei muss sie dennoch in sich schlüssig bleiben.

    - unterschiedliche Ausarbeitungen zeigen und an ihnen die gesetzten Kriterien nachvollziehen sowie die Bewertung zeigen.


    Dazu gehört dann auch, dass man darlegt, wie viel zusätzliches Hintergrundwissen einfließen soll, welche Belege es braucht, was gesetzt ist und was man selbst zufügen muss.

  • aber bei Deutsch und beim Schreiben wird gerne mal erwartet, dass es von sich aus plausibel ist. IST es aber für manche oder mehrere SchülerInnen nicht

    Stimmt. Ich habe Textanalysen als Schülerin regelrecht gehasst. Ich habe halt geschrieben, was in der Schülerhilfe stand und mich damals schon geärgert, dass es sowas überhaupt geben muss damit man versteht, was gemeint ist.

  • Stimmt. Ich habe Textanalysen als Schülerin regelrecht gehasst. Ich habe halt geschrieben, was in der Schülerhilfe stand und mich damals schon geärgert, dass es sowas überhaupt geben muss damit man versteht, was gemeint ist.

    +1! Ich könnte es jetzt auch immer noch nicht.


    Ich zweifle aber eigentlich nicht daran, dass ich zumindest durchschnittlich interligent bin. Obwohl Dunning-Kruger für diese Auffassung verantwortlich sein könnte 🤔

    Entropy is a bitch, embrace her.

    Einmal editiert, zuletzt von s3g4 ()

  • Ich habe halt geschrieben, was in der Schülerhilfe stand

    Bei einer Lehrkraft fand ich es gut, beim anderen Lehrer habe ich Inhalte und Hintergründe vermisst.

    Ich weiß, dass ich selbst als Schülerin gedacht habe, was denn wohl erwartet worden wäre oder was in meinen Klassenarbeiten denn nun gefehlt hat.

    Gleichzeitig hatte ich befreundete Deutsch- und Geschichtslehrkräfte, die am Gym in der Oberstufe ihren Unterricht aufeinander abgestimmt haben, sodass man in Geschichte die Hintergründe lernte, die man im Deutschunterricht brauchte. Das fand ich gut.


    Aber es ist doch doof, wenn SuS die Schülerhilfe abschreiben (müssen), weil sie selbst nicht verstehen, wie es anders gehen kann.

    Da muss Unterricht das notwendige Handwerkszeug vermitteln, wenn selbstständige Interpretationen möglich sein sollen, sonst bringt es ja für später nichts, schließlich bekommt man bei anderen Texten auch keine Schülerhilfe geliefert.

    In einer Fremd- oder Zweitsprache dann Wortspiele, Vergleiche oder Konnotationen sowie geschichtliche Hintergründe zu kennen und einordnen zu können, finde ich schon sehr herausfordernd.

  • Vielen Dank für eure Anregungen. Ich werde sie die Tage aufnehmen, bzw. vertiefen. Die SuS erarbeiten bei mir eine Matrix, an der sie sich entlang hangeln können. Die enthält Punkte wie Inhalt (Zusammenfassung), Textstruktur, Sprache etc. Jeder einzelne Aspekt soll in dem Dreischritt Benennen, Belegen, Deuten abgearbeitet werden können. Ich kenne die Erwartungen genauso wie Wollsocken und habe durchaus Lehrgeld als Lehrer bezahlt, aber mir ist wichtig, dass ich jeden SuS in die Lage versetzte, die Arbeit mit Würde zu bestehen (Würde ist ein "ausreichend").

    Morgen wird diese Arbeitsstruktur nochmals aufgegriffen und vertieft. Das machen meine SuS auch selber. Sie erhalten von mir passende und weniger passende Begriffe und strukturieren sie an der TA, ergänzen und streichen. Solange sie mir und einander schlüssig ihr Konzept verkaufen können, nehme ich das, ich bin nicht auf ein Schema festgelegt und die Klasse ist diskussionsfreudig genug das selber vernünftig hinzubiegen. Sie müssen es verstehen, Perfektion kommt später in der Laufbahn.


    Zur nächsten Kurzgeschichte erarbeite ich den Inhalt wie Yubel vorschlägt. Vielleicht setzte ich ihn auf die richtige Spur. Kurzgeschichten sind auch deutungsoffen, als Geschichtslehrerin bin ich mir des persönlichen Standpunktes bei der Deutung bewusst. Da können die SuS mir alles (nahezu) verkaufen, Hauptsache, sie bemühen sich um gedankliche Stringenz.


    Ich denke übrigens auch, dass es in seinem bisherigen Leben nie die Notwendigkeit bestand, Dinge zu hinterfragen, bzw. das es mitunter auch nicht ungefährlich für ihn war, diesen Teil seines Verstandes zu entwickeln. Das ich das durchbreche, halte ich auch für gewagt, aber die Klasse ist sehr freundlich, auch miteinander, sie diskutiert gerne und sie puschen sich gegenseitig, indem sie ihre Aussagen voreinander rechtfertigen. Ich muss da nicht mal des Teufels Advokat spielen. Evtl. gibt ihm das über die Zeit die Sicherheit die Tür zur Kritikfähigkeit zu öffnen.


    Dieser Thread hat zur Klärung meines Vorgehens einiges beigetragen- Danke dafür

  • Ich habe mir die Geschichte gestern mal durchgelesen und mich gefragt, ob der S evtl. mehr verstanden haben könnte, als er zugibt, immerhin geht es ja um Notlügen, eine Notsituation nicht eingestehen wollen, den Schein um jeden Preis wahren, Armut, Hunger - Dinge, die er vermutl. alle erlebt hat. Das kannst Du in Kenntnis der Person sicher besser beurteilen, aber so ganz harmlos finde ich den Text für jemanden, der Krieg und Armut erlebt hat, nicht.

  • Gerade hat mir der Schüler eine wunderbare Interpretation von "Forgive me" gezeigt. Er hat in den letzten Wochen hart gearbeitet und einen persönlichen Durchbruch geschafft. Ich bin so stolz auf ihn.

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