Wissenschaft für Kinder

  • Ich stehe dem "klassischen Religionsunterricht" gerade in den Grundschulen auch eher kritisch gegenüber. Die Kinder nehmen relativ kritiklos auf, was ihnen dort präsentiert wird. Das o.g. Lied finde ich ebenfalls grenzwertig, jedenfalls ohne entsprechende Anleitung des Hinterfragens. Noch weniger erschließt sich mir der Sinn, in einzelne konfessionelle RU-Gruppen aufzuteilen. Wieso kann es nicht wenigstens einen gemeinsamen Religionsunterricht, wenn nicht noch besser einen übergreifenden Ethikunterricht geben. Gerade zwischen den beiden großen Kirchen sollten die Unterschiede doch nicht so gravierend sein, dass es in den ersten vier Schuljahren signifikante Unterschiede macht. Die Vorbereitung auf die kirchenspezifischen Ereignisse, z.B.: Kommunion, findet doch sowieso in der Gemeinde statt.


    Letztlich haben wir eine Trennung von Kirche und Staat. Jedoch dürfen an den vielen konfessionellen Schulen nur Lehrer mit der richtigen Taufe Funktionsstellen übernehmen. Und dies, obwohl diese Schulen komplett staatlich finanziert werden und Bewerber auf diese Stellen sich nicht unbedingt die Klinke in die Hand geben. Stundenpläne werden häufig so gestaltet, dass zuerst die Religionsbänder festgelegt werden, damit evangelisch/katholisch in allen Jahrgängen besetzt ist. Auf die Einstellungspraxis wird auch Einfluss genommen, denn wenn nur von der Kirche abgesegnete Bewerber können sich auf ausgeschriebene Stellen bewerben usw.


    Ich wäre ebenfalls für einen Unterricht, an dem alle gemeinsam teilnehmen können, verschiedene Glaubensrichtungen nebeneinander und miteinander stehen können und alle voneinander profitieren.


  • Hast du dazu belastbare Quellen?


    Nun ja, dazu gibt es einige religionspädagogische Untersuchungen (z. B. Bernhard Grom), die aber vermutlich von euch nicht als "belastbar" oder objektiv betrachtet werden?


    Aber man kann sich auch ganz einfach selbst fragen, ob man wirklich in einer sogenannten säkularen Gesellschaft leben möchte ... Mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergeben: Verfall moralischer Werte, Materialismus und Konsumismus, Egoismus, Aufkommen von ideologischen "Ersatzreligionen" etc. Und ob man möchte, dass die Kinder schon im Geiste einer solchen aufwachsen.

  • Aber man kann sich auch ganz einfach selbst fragen, ob man wirklich in einer sogenannten säkularen Gesellschaft leben möchte ... Mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergeben: Verfall moralischer Werte, Materialismus und Konsumismus, Egoismus, Aufkommen von ideologischen "Ersatzreligionen" etc.

    :whistling:
    Achsooo, das passiert also, wenn Religionsunterricht abgeschafft wird.
    Oh man Plattenspieler, wirklich. :D
    Am schlimmsten wird wohl sein, dass die ganzen armen Kinder nicht mehr in den Himmel kommen. Tragisch.

  • Verfall moralischer Werte, Materialismus und Konsumismus, Egoismus, Aufkommen von ideologischen "Ersatzreligionen" etc. Und ob man möchte, dass die Kinder schon im Geiste einer solchen aufwachsen.


    Man muss nicht glaeubig sein um moralische Werte zu haben. (Wenn man die moralischen Werte einiger "Glaeubiger" bedenkt, waere es wohl sogar vorteilhafter wenn Leute ihre intoleranten und missgeleiteten Ideen nicht hinter ihrem Glauben verstecken koennten.)


    Ich bin getauft, ich glaube mehr oder minder an Gott...aber ich bin alles andere als kirchlich erzogen und ich werd nen Teufel tun dies anderen Leuten aufzudraengen. (Ich geh hoechstens zu Weihnachten in die Kirche, und da auch nur um meiner Oma ne Freude zu machen...schon als Kinder sind wir immer vom Gottesdienst ausgebuechst.) Unser Religionsunterricht war nie sehr religioes (wir haben Dostoyevsky gelesen, uns darueber ausgelassen, ob Summerhill eine moegliche Alternative zu normalen Schulen ist und die Position der Kirche waehrend des 2. Weltkriegs unter die Lupe genommen).


    Ab naechstem Schuljahr unterrichte ich wieder "Religion", obwohl ich's bisher immer gerne fuer Informatik oder Sport getauscht habe. Bei uns koennen Eltern ihre Kinder aber problemlos vom Religionsunterricht abmelden. Ausserdem ist es eher Religionskunde - also, meine Schueler lernen verschiedene Religionen kennen, aber niemand sagt ihnen, was sie glauben sollen. Sie haben alle Religion zusammen, also kein getrennter Unterricht. Angesichts dessen, haette ich damit kein Problem, denn ich sehe Religion als Bestandteil unseres kulturellen Erbes (und wie meine Mutter schon immer sagte: "Kenne deinen Feind.")


    Wuerden meine Kinder dieses Bibellied in der Schule lernen, wuerde ich sie wohl vom Unterricht abmelden. Religioese Bildung ist Sache des Elternhauses und sollten Eltern dies so wuenschen, Sache der betreffenden Kirche. Es ist keine Schulangelegenheit...zumindest von meiner persoenlichen Sicht aus nicht.

  • Zitat

    Aber man kann sich auch ganz einfach selbst fragen, ob man wirklich in einer sogenannten säkularen Gesellschaft leben möchte ...


    Ja, will ich! Säkulare Gesellschaft heißt ja nicht Gesellschaft ohne Religion, es bedeutet die Trennung von Staat und Kirche.
    Wer seine Religion leben will, soll das tun, aber daraus keine Machtansprüche ableiten um eben seine Religion allen anderen aufzudrücken.


    Zitat

    Mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergeben: Verfall moralischer Werte, Materialismus und Konsumismus, Egoismus, Aufkommen von ideologischen "Ersatzreligionen" etc.


    In welcher säkuaren Gesellschaft war das bisher so und wie konkret hat sich das geäußert?
    Und wo ziehst du die Grenze zwischen Religion und "Ersatzreligion"? Liest so ein bisschen wie: Alle der eigenen Gruppe/Religion Zugehörigen sind die Guten, alle anderen die Bösen.
    Da nehme ich die Relativierung religiöser Werte gerne in Kauf für eine pluralistische und freie Gesellschaft.


    Grüße
    Steffen

    Planung ersetzt Zufall durch Irrtum. :_o_P


    8_o_) Politische Korrektheit ist das scheindemokratische Deckmäntelchen um Selbstzensur und vorauseilenden Gehorsam. :whistling:

  • Sagt mal, ihr kennt doch alle die Situation in den USA, oder? Wem diese Situation bekannt ist, der kann doch nicht mehr automatisch davon ausgehen, dass eine säkulare Gesellschaft zu echter religiöser Wahlfreiheit führt....

  • Sagt mal, ihr kennt doch alle die Situation in den USA, oder? Wem diese Situation bekannt ist, der kann doch nicht mehr automatisch davon ausgehen, dass eine säkulare Gesellschaft zu echter religiöser Wahlfreiheit führt....


    Worauf genau spielst du an?
    Im übrigen, automatisch geht in Gesellschaft gar nichts, das wird immer von konkret handelnden Menschen ausgestaltet.


    Grüße
    Steffen

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  • Geh mal nach Utah und schau, wies dir da geht, wenn du keiner christlichen Religionsgemeinschaft angehörst.
    Der gesellschaftliche Druck in punkto Religiösität ist doch in den USA DEUTLICH höher als hier. Und das hat auch einen hohen Einfluss auf das angeblich auch so laizistische Schulsystem. Da werden Schüler/innen vom Prom/der Graduation ausgeschlossen, weil sie homosexuell sind und ihre Partner mitbringen möchten. Ich möchte mal sehen, was passieren würde, wenn eine deutsche Schule das täte. Nicht mal eine katholische Schule würde vor Gericht damit durchkommen!
    Und hier scheinen ja einige anzunehmen, dass die Abschaffung von Religionsunterricht/Einführung von verpflichtendem Ethikunterricht die Gesellschaft gleich toleranter und auch noch neugieriger auf Wissenschaft macht. Wobei Albert Einstein von seiner Religiösität ja nicht gerade abgehalten wurde, was die Wissenschaft angeht.

  • Geh mal nach Utah und schau, wies dir da geht, wenn du keiner christlichen Religionsgemeinschaft angehörst.
    Der gesellschaftliche Druck in punkto Religiösität ist doch in den USA DEUTLICH höher als hier. Und das hat auch einen hohen Einfluss auf das angeblich auch so laizistische Schulsystem. Da werden Schüler/innen vom Prom/der Graduation ausgeschlossen, weil sie homosexuell sind und ihre Partner mitbringen möchten. Ich möchte mal sehen, was passieren würde, wenn eine deutsche Schule das täte. Nicht mal eine katholische Schule würde vor Gericht damit durchkommen!


    1. Utah != z.B. San Francisco != Gesamt-USA
    2. Sicher ist ein Einzelfall kein Beweis für Plattenspielers Behauptungen.
    3. Der von dir beschriebene Zustand ist in jedem Fall kritikwürdig, aber sicher nicht auf einen säkularen Staat zurückzuführen.


    Und hier scheinen ja einige anzunehmen, dass die Abschaffung von Religionsunterricht/Einführung von verpflichtendem Ethikunterricht die Gesellschaft gleich toleranter und auch noch neugieriger auf Wissenschaft macht.


    Nein, das hat hier niemand behauptet! Es geht um die tatsächliche Trennung von Staat und Kirche, weltanschauliche Neutralität staatlicher Einrichtungen um Nicht-Vereinnahmung für eine bestimmte Religion, um nicht-zulassen der Erlangung von Machtpositionen durch eine Religion. Kurz, es geht um Freiheit. Das heißt nicht, dass andere Ideologien, insbesondere radikale, egal welcher Ecke, nicht gefährlich wären für eine freie, pluralistische Gesellschaft.
    Nicht-missionierender Religionsunterricht indoktriniert nicht, sondern informiert und schafft damit eine Basis für eine freie Entscheidung für eine Religion, oder eben keine.


    Grüße
    Steffen

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    Einmal editiert, zuletzt von SteffdA ()

  • Ooookay. *tiefdurchatme* Mal ein paar etwas geordnetere Gedanken meinerseits zu dem Thema, die beim Schreiben doch eine gewisse Eigendynamik entwickelt und sich etwas weiter entfaltet haben, als ich das eigentlich wollte. Hat jetzt eben doch zwei Tage gedauert...


    Wenn ich jetzt auf einzelne Beiträge antworten würde, sähe mein Text ziemlich zerfasert aus. Deshalb werde ich auf die meisten der Aspekte die in den Beiträgen aufgegriffen worden sind, eher zusammenfassend antworten und dabei einen Bogen schlagen, auch hin zu meiner eigentlichen Absicht hinter dem Comic, den ich hier gepostet habe. Ich werde zuerst das Problem der Missionierung angehen, dann die vermeintliche Neutralität des Religionsunterrichts betrachten und anschließend die Schwierigkeit der selektiven Wahrnehmung durch Gewöhnung betrachten.


    Zunächst einmal finde ich verblüffend, dass ihr Religionslehrer in diesem Thread die Missionierung als etwas halbwegs Unanständiges zu betrachten scheint; amüsant finde ich in diesem Zusammenhang, dass vor relativ kurzer Zeit Pfingsten war! Euch ist aber schon bewußt, dass in der Apostelgeschichte, die von der Ausgießung des heiligen Geistes berichtet, die wesentliche Grundlage für den christlichen Missionierungsauftrag liegt? Der durch zahlreiche Rückverweise auf alle Evangelien gestärkt wird? Die Missio ist ein integrales Merkmal des Christentums und einer der wichtigen Unterschiede zum Judentum, welches von einem nach außen hin abgeschlossenen Verständnis vom "Gottesvolk" ausgeht, während das Christentum, genau so wie der Islam als dritte der abrahimitischen Religionen, prinzipiell eine weltweite religiöse Dominanz anstrebt. Deswegen ist Pfingsten überhaupt erst ein kirchlicher Feiertag. Es ist theologisch nicht möglich, sich als überzeugter Christ zu zeigen und gleichzeitig die Missionierung abzulehnen.


    Ich verstehe sicherlich die Motivation dahinter, den Begriff der Missionierung zu vermeiden; wenn dieses Wort verwendet wird, entfalten sich sofort alle Assoziationen, die mit der schmutzigen Geschichte der christlichen Mission verbunden sind: Feuer und Schwert, Kindesentzug, Kulturraub und Zwangstaufen, die "muscular christianity" der Kolonialherren; eine Geschichte, die beileibe noch nicht Vergangenheit ist, über die man aber, wie über so vieles, in hiesigen Kirchenkreisen lieber nicht so viel spricht. Solche Bilder stehen vielleicht auch euch Religionslehrern vor Augen und natürlich distanziert ihr euch davon, wie es ein nicht-fanatisierter Mensch in unserer offenen, säkularen Gesellschaft auch gar nicht anders kann.


    Nichtsdestotrotz, auch wenn das Wort vermieden wird, das Konzept bleibt: missioniert wird in eurem Religionsunterricht und im religiös-rituellen Kontext gerade der Grundschule selbstredend. Verfolgt werden dabei positiv gefärbte Werbestrategien, um die kleinen Kinder und damit die zukünftigen Erwachsenen emotional an die Institution Kirche zu binden, sofern sie getauft sind, oder ihnen zumindest ein auf Hochglanz poliertes Bild des Christentums zu präsentieren, das mit der ganz anders gearteten Glaubenswirklich in der Geschichte und außerhalb Westeuropas wenig zu tun hat, im Gegensatz zu dieser aber für uns ertragbar ist. Letztlich unterscheidet sich diese als freundlich daherkommende Selbstpräsentation der emotionalen und sozialen Anbindung nicht von dem, was im ausgehenden 19. Jh. vom Protestanten Wichert als die "innere Missio" bezeichnet wurde, vom Katholiken Kolping ganz genau so praktiziert wurde und was in damaligen Zeiten, als die Kirchen noch ehrlicher in diesen Dingen waren, im Unterschied zur äußeren "Juden- und Heidenmission" stand. Diese Strategie funktioniert natürlich mit kleinen, prägbaren Kindern, die noch halb im magischen Alter stecken, ganz wunderbar - weswegen der Schwerpunkt des Religionsunterrichts ganz organisch in der Primarstufe liegt!


    Am Rande bemerkt - die katholische Lehrerlaubnis heißt nicht umsonst "Missio Canonica".


    Eigentlich ist dieser Zusammenhang nun nicht wirklich undurchschaubar und ist von 'der Prinz' mit "ich gebe Momente meiner Religion weiter" ja auch sehr gut auf den Punkt gebracht. Es bleibt demgegenüber die Frage, wie es gelingt, dass die meisten Religionslehrer nicht aus der Distanz ihr eigenes Tun in allen Konsequenzen erkennen; dazu weiter unten mehr.

  • Das bringt mich jedenfalls jetzt auf die Frage, ob ein Religionsunterricht neutral sein kann. Die Antwort ist einfach - der Religionsunterricht kann selbstverständlich nicht neutral sein! Er ist an den Schulen ein Monopol der beiden großen Konfessionen und wird in seinen Inhalten weitgehend von den Kirchen bestimmt. Die universitäre Ausbildung zum Religionslehrer wird von den beiden Konfessionen grundsätzlich kontrolliert, die durchaus auch die Macht haben und ausüben, unliebsamen Professoren die Venia Legendi zu entziehen und sie aus der Lehre zu entfernen, wissenschaftliche Freihheit hin oder her. Beide Konfessionen wirken unmittelbar auf die Inhalte der didaktischen Lehrbücher und Lehrpläne ein. Beide Konfessionen kontrollieren über die Missio und die Vocatio, wer zum Religionslehrer zugelassen wird, wobei sich vor allem die katholische Kirche auch anmaßt, im Privatleben ihrer Religionslehrer herumzubestimmen. Bei einem so durchdringenden Einfluss der Kirchen auf allen Ebenen ist es gar nicht anders denkbar, als dass der Unterricht von ihrer Perspektive geprägt und dass ihr Lehrpersonal ideologisch geprägt ist und damit auch in ihrem Sinne redet. Ob sich die Religionslehrer dessen bewusst sind oder nicht, ist dagegen eine ganz andere Frage. Da mag es auch wohl Abstufungen in der Umsetzung geben. Was sich allerdings immer wieder zeigt - das sieht man ja auch in den Lehrerforen - dass immer wieder die Angst empordringt, durch eine "falsche Lebensweise" für die Kirche nicht mehr akzeptabel zu sein, so dass die Missio oder die Vocatio gefährdet ist.


    Dazu kommt natürlich auch hier wieder ein theologischer Aspekt. Was ich im Gespräch mit Christen im Allgemeinen und Religionslehrern im Besonderen so verwirrend finde, ist, mit welcher Leichtigkeit ganz zentrale Grundsätze des Glaubens zur Seite geschoben werden. Offensichtlich ist das Christentum eine monotheistische Religion und in der christlichen Perspektive sind Glaubensinhalte nicht von einem Wahrheitsanspruch zu trennen! Auch bei einer nach außen hin neutralen Darstellung steht implizit bei der kirchlichen Lehrveranstaltung im Raum, dass der eigene Glaube wahr ist und z.B. der Islam oder der Buddhismus nicht. Das ist bei einem prinzipiell institutionell kirchlich beeinflussten Unterricht gar nicht anders möglich. In der Bibel ist die Distanzierung von als falsch betrachteten Glaubensformen wahrscheinlich mit Textstellen in der Tausendermenge zu belegen; wie tief die gegenseitige Intoleranz verankert ist, zeigt sich doch allein schon daran, dass heutzutage, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, es den beiden großen Konfessionen nicht möglich ist, gemeinsam einen Vollritus inklusive Abendmahl durchzuführen, weil sie nicht an dem Konfliktpunkt vorbeikommen, ob der Schluck Wein und das Stückchen Esspapier tatsächlich Fleisch und Blut des geschlachteten Gottes sind oder nur symbolisieren. Über diese seltsame Frage wurden Kriege geführt und noch in meiner Jugend wurden gemischt-konfessionelle Beziehungen mit scheelen Augen angesehen. Religionen sind niemals weltanschaulich neutral und deshalb natürlich auch nicht der Religionsunterricht.


    Das kann man übrigens in der Praxis leicht sehen - um nur ein Beispiel zu nehmen, das Lied für den Religionsunterricht, dass ich da oben zitiert habe, ließe sich nur unter aberwitzigsten Hirnverrenkungen als dem Christentum neutral gegenüber uminterpretieren. Hier im Forum ist es als Unterrichtsmaterial besprochen worden und es nicht einmal ansatzweise die Frage gestellt worden, wie z.B. muslimische Schüler auf die größenwahnsinnigen Behauptungen in dem Lind finden würden. (Von der Dreistigkeit, mit der biblische Inhalte den Kindern gegenüber verfälscht werden, mal ganz abgesehen.) Soviel zum Thema Neutralität. Übrigens habe ich mit der christlichen Voreingenommenheit im Religionsunterricht überhaupt kein Problem - Religionen sind ideologische Interessensverbände und es wäre absurd von ihnen eine weltanschauliche Neutralität abzuverlangen. Für mich ist der Stein des Anstoßes ja nicht, dass die Kirchen ihre eigenen Ziele verfolgen sondern dass das nicht eine staatliche Schule gehört!

  • Es ist schwierig zu fassen, warum das Selbstbild von Religionslehrern über ihren Religionsunterricht sich anscheinend in Teilen in Konflikt mit der Wirklichkeit gerät. Meiner Ansicht nach lässt sich das Problem sogar weiter fassen - nicht nur verfügen viele Christen (die Mehrzahl?) über erstaunlich geringe theologische Kenntnisse. Auch die Tatsache, dass der christliche Glaube im weitaus größeren Teil der Welt eine autoritäre und repressive Form bis hin zum Teil extremen Fundamentalismus in Nordamerika annimmt, dass die säkulare und permissive Ausformung des Christentums in Westeuropa weltweit eine völlige Sonderform darstellt, kann offenbar problemlos ausgeblendet werden. Sachverhalte wie das alttestamentarisch geprägte "Quiverfull Movement" und die dramatische Verbreitung des Kreationismus in den USA, der größten Konzentration des Christentums auf der Welt, und die bedrohliche Auswirkungen auf die Bildung, die dieser hat, ist oft nicht einmal bekannt. Von den üblen Machenschaften innerhalb der katholischen Kirche ist gerade mal der systemische Kindesmissbrauch an die Oberfläche gedrungen. Die meisten Christen hierzulande wissen weder von der erst vor wenigen Wochen angestrengten katholischen Blasphemieanklage gegen einen indischen Skeptiker, der eine rationale Erklärung für eine als wundersam erlebte "weinende" Marienstatue gefunden hat und über die der Vatikan schweigt; von dem zunehmenden Bestreben der orthodoxen Kirche in Russland und Weißrussland, die Kunst- und Meinungsfreiheit über den Rechtsweg zurückzudrängen noch davon, dass einige evangelikal geprägte Gruppierungen in Afrika nicht nur zu wortwörtlichen Hexenverbrennungen aufrufen, sondern vielleicht sogar an diesen Verbrechen beteiligt sind. Wer hat denn schon davon gehört, dass Mutter Theresa jahrelang Spenden gesammelt hat, die dem Vatikan zuflossen, während in ihrem hochgelobten Armenspital Menschen unter elendensten Bedingungen dahinvegetierten und Krebspatienten im Endstadium stärkere Schmerzmittel als Aspirin verweigert wurden mit der Begründung, dass diese durch das Leiden analog dem Leiden Christi näher bei Gott seien? Wer weiß hierzulande, dass weder Höllenstrafe noch Dämonenglaube und Exorzismus aus der theologischen Vorstellungswelt beider Konfessionen verbannt sind und letzteres durchaus auch noch heute praktiziert wird?


    Mit diesen Tatsachen konfrontiert, wird oft mit der Rhetorik reagiert, die im angloamerikanischen Sprachraum als die "true scotsman"-Entgegnung bekannt ist: "das sind keine Christen, das ist nicht mein Christentum, das ist nicht mein Gott". Für den Außenstehenden ist das Christentum natürlich die gemeinsame Menge dessen, was Christen glauben und praktizieren, und das "true scotsman"-Argument kann deshalb nur als Eskapismus verstanden werden. Nicht anders die realitätsferne, wenn nicht gar -freie christliche Rückschau auf die Geschichte, sei es die Behauptung, die katholische Kirche sei Trägerin der Aufklärung gewesen, vollkommen absurd angesichts der Tatsache, dass der index librorum prohibitorum eine konzise Sammlung des Zentralkanons der wichtigsten Werke der Aufklärung darstellt. Sei es die immer wieder erhobene Behauptung, dass unsere westeuropäischen Gesellschaftsformen so freiheitlich und tolerant seien, weil sie christlich geprägt sind - wobei der Komplex um amerikanische und französische Revolution und die ganz anderen historischen Gegenmodelle außerhalb deren Wirkungsbereichs völlig ausgeblendet werden. Sei es die wiederholte und sachlich schlicht und ergreifend falsche aber um so ärgerlichere Behauptung, die NS-Herrschaft sei durch einen angenommenen Atheismus der Nationalsozialisten erklärbar.


    Ist dieses Denken Scheuklappendenken? Auf der theologischen Ebene findet man jedenfalls eine ganz ähnliche kognitive Dissonanz, eine vermutlich schon auf unbewusster Ebene stattfindende Ausblendung von Textbefunden, die der jeweiligen Erwartungshaltung des persönlichen Glaubens widerspricht. Auffällig sind dabei die Psalmen, die als Kernkorpus für Sinnsprüche im christlichen Ritus dienen und die von Martin Luther als "Biblia im Kleinen" bezeichnet wurden. Als ich mich kürzlich angesichts meiner Bibellektüre in einem theologischen Handbuch für die Hand von Theologiestudenten über die Fachmeinung dieses Textkorpus informieren wollte, konnte ich völlig verblüfft nur ratlos feststellen, dass anscheinend die Verfasser eine völlig andere Version der Psalmen gelesen hatten als ich. In dem Lehrbuch war sorgfältig nach Gattungen differenziert, zwischen Bitt-, Lobpsalmen und anderen Psalmen unterschieden worden, kurze Zyklen herausgearbeitet. Doch wo waren die in der Mehrheit der Psalmen wieder und wieder vorkommenden Ausbrüche von Hass und Gewaltphantasien, in denen "dem Feind" im wortwörtlichen Sinne die Pest und der Tod an den Hals gewünscht wird? Wo die immer wieder Hoffnung auf eine "Gerechtigkeit", die nichts anderes darstellt als die Hoffnung auf ein gewalttätiges göttliches Strafgericht an Andersgläubigen? Trotz der Vielfalt dieser Stellen, waren sie in der theologischen Deutung völlig ausgeblendet - ebenso, wie ihnen man trotz der ständigen wenn auch bröckchenhaft eklektischen Verwendung im Ritus kaum jemals in der Kirche begegnet. Es wird auch nicht reflektiert, wie hasszerfressen im Grunde das Buch Jesaia ist, das sich strukturell und rhetorisch nicht von einer Salafisten-Predigt unterscheidet, es wird nirgendwo reflektiert, dass die Landnahme des Volkes Israel in Josua um einen göttlich befohlenen Genozid herum zentriert ist. Die fachliche Diskussion um den "Heilsplan Gottes" scheint offenbar die Textbefunde systematisch auszublenden, die nicht mit der vorhandenen Erwartungshaltung vereinbar sind. Kann, ja darf man diese eklektische Theologie tatsächlich wissenschaftlich nennen? Wohlgemerkt - es geht hier nicht um eine wie auch immer geartete Aufrechnung von "guten" und "schlechten" Bibelstellungen, es geht um eine prinzipielle hermeneutische Fehlleistung der wissenschaftlich theologischen Autoren.

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  • Auch in einem didaktischen Handbuch, in dem ich an diesem Wochenende geblättert habe, finden sich bizarre Umdeutungen biblischer Texte, die ich als Historiker nur als hermeneutische Fehlleistung erkennen kann, die aber auch in den Lehrerforen als konkrete Beispiel von Unterrichtspraxis ihren Niederschlag finden. Beliebt ist die Regenbogengeschichte um Noah, die Kindern gerne als Zeichen göttlicher Liebe und der Überlassung der Schöpfung mit gleichzeitigem Auftrag, die Natur zu bewahren und zu schützen vermittelt wird. Sie wird ja auch im zitierten Lied als Geschichte "göttlicher Liebe" angeführt. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass der Regenbogenepisode ganz unmittelbar ein ungeheuerlicher Massenmord durch den biblischen Gott vorangegangen ist, eine beispielslos grausame Tat, in der fast sämtliches tierisches und menschliches Leben auf der Erde ersäuft und ausgerottet wurde, was ein ethisch denkender Mensch nur als Akt tiefster Bösartigkeit und Verworfenheit verstehen kann; wenn man die entsprechende Bibelstelle selbst und nicht nur die gefilterten didaktischen Aufarbeitungen liest, findet man nichts von irgendeinem Schutzauftrag. Was dort steht ist ein Nutzungsvertrag, in dem dem Menschen ein unbeschränktes Verfügungsrecht über Pflanzen und Tiere zugestanden wird. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn der antike Mensch hatte keinerlei Bewußtsein über die Möglichkeit von Umweltzerstörung und konnte deshalb natürlich auch keine Vorstellung von der Bewahrung seiner Umwelt haben. Eine Rückprojektion heutiger ökologischer Vorstellungen in diesen Text ist ahistorisch und hermeneutisch falsch. Wie kann es dennoch so im Religionsunterricht vermittelt werden?


    Ähnlich gelagert die Novelle um Ruth. Offensichtlich ist dies die Geschichte einer nichtisraelitischen jungen Frau, die in finanzieller Not sich mit planerischer Hilfe einer anderen, erfahrenen Frau für einen älteren, solventen Mann erotisch attraktiv macht und ihn so dazu bringt, sie zu heiraten, so dass sie eine wirtschaftliche Absicherung erreicht. Dies ist sicherlich ein interessantes Beispiel für dynamisches und eigenverantwortliches weibliches Handeln in einer Zeit weitgehender Rechtlosigkeit für Frauen einer anderen Ethnie im Machtbereich des Volkes Israel. Doch wie kann diese Geschichte als Beispiel für das göttliche Willkommen auch für alle Menschen außerhalb des Judentums gelesen werden, wie es das entsprechende Vorwort in meiner Bibel und die didaktische Handreichung andeutet? Ruth ist Angehörige eines der Völker, die bei der in Josua und im Deuteronomium beschriebenen Landnahme durch einen Genozid vernichtet werden sollten, um eine "Verunreinigung" Israels zu vermeiden. Dass dies nicht vollständig geschah, wird quer durch das alte Testament als die Ausgangssünde des Gottesvolkes verstanden, die schließlich mittelbar zu seiner Unterwerfung und zum babylonischen Exil führt. Konsequenterweise wird in den nachbabylonischen Makkabäerbüchern geschildert, wie die Ehen zwischen Israeliten und Nichtisraelitinnen zur Wiederherstellung der Gesetzestreue geschieden werden. Diese Scheidungen werden von den Israeliten reuig als Demonstration der gottestreuen Reinigung des Volkes bereitwillig durchgeführt - heutzutage würde man das als ethnische Säuberung scharf kritisieren. Das Buch Ruth kann also, im weiteren Kontext des alten Testaments gesehen, ganz und gar nicht paradigmatisch für offene Arme des biblischen Gottes genommen werden kann. Bezeichnenderweise findet die Gottheit ja auch überhaupt keine Erwähnung in Ruth. Seine Aufnahme in den Kanon ist dadurch erklärbar, dass es sich hier um eine Stammbaumerzählung König Davids handelt. Doch wie kann ein Religionslehrer, von dem man ja wohl erwarten kann, dass er die Bibel im größerem Zusammenhang rezipiert hat, fachwissenschaftlich guten Gewissens die didaktisch vorgegebene Fehllesung unterrichten? Für mich ist das nicht wirklich nachvollziehbar.


    Zu diesen Beispielen ließen sich mühelos zahlreiche andere hinzustellen: die hirnzerreissende Vorstellung, dass die mörderische Bereitschaft Abrahams, seinen eigenen Sohn auf einen Wink hin abzuschlachten, ein inspirierendes Beispiel für Gottvertrauen und Glaubensfestigkeit sein könnte; die eklektische Ausblendung der Rechtsvorschriften, die dem Dekalog nachgestellt sind und diesen präzisieren, und die zeigen, dass er keinesfalls eine Allgemeingültigkeit hat, "mit der sich jeder identifizieren kann" und die ihn zur Grundlage menschlicher Moral machen könnte. Die völlig konkrete Nahzeiterwartung der Apokalypse in den Evangelien und der Aspostelgeschichte, die die Erwartung der "Rapture" im letzten Frühsommer keinesfalls absurd erscheinen lassen. Die daraus resultierenden harschen Forderungen Jesu, die keinesfalls auf menschliche Harmonie abzielten sondern jegliche tradierte Gesellschaftsstrukturen unterlaufen sollten, welche seiner Lehre eine zerstörerische Radikalität verleiht, die nichts mit dem sanftmütigen Konservativismus späterer Exegese zu tun hat etc. pp.

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  • Wenn ausnahmslos überall bei genauerem Hinsehen diese kognitiven Dissonanzen ins Auge fallen, wie kommt es dann dazu, dass diese so bereitwillig von gläubigen Christen und Religionslehrern übersehen werden? Während bei hochgebildeten ideologischen Funktionären des Christentums wie Kardinälen, die über die Aufklärung schwadronieren, oder Papst Benedikt, der über den vermeintlichen NS-Atheismus fabuliert, sicherlich von einer böswilligen vorsätzlichen Fehldarstellung ausgegangen werden kann, trifft dies im Regelfall natürlich nicht auf den völlig redlichen Alltagschristen oder die Mehrzahl der Religionslehrer zu. Sicherlich trägt bei der überwältigenden Mehrheit der Christen und bei sehr vielen Religionslehrern, vor allem denjenigen mit einer nicht dem volltheologischen Studium entsprechenden fachwissenschaftlichen Qualifikation, mangelndes Wissen in nicht geringem Umfang zu einer verschobenen Wahrnehmung bei. Was ich allerdings vermute, ist, dass dagegen hauptsächlich eine langfristige abstumpfende Strategie greift, die man vielleicht als "Strategie der Gewöhnung" bezeichnen könnte.


    Es ist die langfristige Gewöhnung von Kindesbeinen an, die Dinge normal und unspektakulär erscheinen lässt, die für den reifen Verstand, der zum ersten Mal mit solchen Aussagen konfrontiert wird, unverständlich und unerträglich erscheinen. Dazu gehören bizarre und rational nicht auflösbare Absurditäten der Theologie wie die Trinitätslehre, die Transsubstantiation, die jungfräuliche Geburt und Empfängnis. Aber auch Dilemmata wie die Theodizee, die sich für den Außenstehenden ohne gedankliche Schwierigkeit ins Nichts auflöst, wenn man die Existenz einer alliebenden, allgütigen Gottheit verwirft. Oder ein Konzept wie ein Gott, der sein eigener, unehelich mit einer jungen Frau gezeugter Sohn ist und der sich dann sich vor sich selbst von Menschen zum Opfer machen lässt (nicht, ohne zuerst mit sich selbst zu hadern und sich dabei mit "Vater" anzureden), damit diese dann von Sünden erlöst werden, die sie nie begangen haben. Oder überhaupt all jene menschenverachtenden, blutigen Geschichten der Bibel, die demjenigen normal und als unspektakulärer Teil der Alltagskultur erscheinen, dem sie von Kindesbeinen an immer wieder, am besten in klebrig versüßter Kinderversion eingeflößt worden sind.


    Aber auch andere, diesseitige Ungeheuerlichkeiten verlieren durch die schleichende Gewöhnung ihre Dramatik: warum haben Arbeitnehmer der Kirchen weniger Rechte als Arbeitnehmer säkularer Einrichtungen? Warum sind private Lebensentscheidungen, die diese Arbeitnehmer z.B. über ihre Liebesbeziehungen treffen, unter Umständen ein fristloser Kündigungsgrund, was bei weltlichen Arbeitgebern ungesetzlich wäre? Warum dürfen kirchliche Institutionen wie z.B. Krankenhäuser, die mit allgemeinen Steuergeldern und Versicherungsgeldern finanziert werden, sich ideologisch auf eine Weise definieren, die für weltliche Institutionen ungesetzlich sind? Warum arbeiten überhaupt die Finanzämter bei der Erhebung der Kirchensteuer zu, warum die Standesämter bei der Feststellung der Glaubenszugehörigkeit? Warum darf die katholische Kirche Frauen aus sexistischen Gründen aus Ämtern ausschließen, obwohl dies grundgesetzwidrig ist? Wieso werden in manchen Bundesländern Bischöfe aus allgemeinen Steuergeldern finanziert und nicht aus Kirchensteuern? Warum können sich konfessionelle Schulen anmaßen, Bewerber aus Glaubensgründen zu diskriminieren? Warum sind Kirchenvertreter qua Amt in Rundfunkbeiräten und Ethikkommissionen vertreten? Was qualifiziert einen Bischof automatisch dazu, z.B. in einer Kommission über Gentechnik oder Nuklearenergie mitzureden? Was ein so ethisch defizitäres Subjekt wie Bischof Mixa, in der Kommission zum Unwort des Jahres mitzumischen? Warum dürfen Kirchenglocken gegen das Emissionsschutzgesetz verstoßen und ein Muezzin nicht? Warum hängen Kruzifixe in Klassenzimmern und nicht die kantsche Definition der Aufklärung? Warum gibt es im "friedlichen Christentum" Militärgeistliche und -bischöfe? Wieso maßen sich eigentlich Vertreter der christlichen Konfessionen an, Schwule und Lesben zu diskriminieren? Wieso haben die Kirchen eigentlich ein Monopol und einen gesetzlich fundierten Einfluss auf den Religionsunterricht in staatlichen Schulen? Alles bloß, weil es durch den Glauben und die Tradition scheinbar legitimiert wird?


    Die Fragen nehmen kein Ende und je genauer man nachschaut, desto mehr Fragwürdigkeiten kommen an die Oberfläche. Der Mehrzahl der Christen, die sich an den kuscheligen Weihnachtsfeiern und den schönen Babyfamilienfesttaufen erfreut, ist das meiste davon nicht bewusst. Die Strategie der Gewöhnung ist offensichtlich langerprobt und höchst effizient.

  • Doch wo ist der Schaden? Man könnte doch meinen, so ein bisschen metaphysischer Feelgood-Wohlfühlzuckerguss täte gerade Grundschulkindern gut, als Ausgleich zur vermeintlich harschen Welt der Rationalität. Wenn man es doch immer gemacht hat, dann kann es doch nicht falsch sein?


    Es gibt darauf mehrere Antworten und damit kommt auch der weit geschlagene Bogen auf meinen Ausgangsbeitrag mit dem Comic zurück. Was der kursorische Überblick bislang gezeigt hat, ist, dass Religionen und darunter das Christentum keinesfalls der Garant für eine gute, freie und tolerante Gesellschaft sind. Im Gegenteil hat die Geschichte wie auch die Gegenwart gezeigt, dass der Grad von Bildungslosigkeit, Autoritätsgläubigkeit, Frauenfeindlichkeit und Hass gegen Homosexuelle immer mit dem Grad der Religiösität korreliert, soweit es die drei abrahamitischen Glaubensformen angeht. Je religiöser eine Gesellschaft ist, desto primitiver ist sie. Umgekehrt gibt es psychologische Untersuchungen, die den größten Grad an Lebenszufriedenheit bei den säkularsten Gesellschaften in Skandinavien festmachen.


    Religionen sind und waren immer höchst gefährlich; sie aus der Gesellschaft ins Private zurückzudrängen und sie zu bändigen, ist die verlässlichste Möglichkeit, sie zu disziplinieren und zur Toleranz und Friedfertigkeit zu zwingen. Die Wachsamkeit darf niemals erlahmen und dazu gehört, auch in unserer entwickelten und weitgehend säkularen Gesellschaft ihre letzten Machtbastionen anzugreifen - darunter eben auch der Religionsunterricht, vor allem in der Grundschule - und damit die schädliche Beeinflussung von Kindern über die Strategie der Gewöhnung zu beenden. Die verödeten Kirchen an normalen Sonntagen und der zunehmende Glaubenszweifel in Umfragen zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind, aber das Ziel ist, wie die obigen Fragen nahelegen, noch lange nicht erreicht.


    Ein weiterer Grund ist aber auch, dass die arbiträre Einstellung des Christentums eine potenzielle Gefahr für die Zukunft darstellt. Jede Position innerhalb der Bandbreite vom luschigen, halb pantheistischen Klampfenpfarrer bis hin zum bibelklopfenden fundamentalistischen Hassprediger ist ohne weiteres möglich und innerhalb der christlichen Mythologie theologisch begründbar. Wenn durch die Strategie der Gewöhnung es einen Gemeinplatz darstellt, dass die Kirchen qua auctoritate ideologische Aussagen mit einem Wahrheitsanspruch verkünden können, und wenn dies mittels des Religionsunterrichts in Schulen eine staatlich legitimierte Plattform erhält, dann ist schon eine erste Gefährdung der kritisch-rationalen Kompetenzen der Schüler dar. Um so bedenklicher und schlimmer bei den kleinen, intellektuell noch wenig geschulten Kindern im Grundschulalter, dem Hauptziel christlicher Agitation. Wer verhindert, dass Kinder der schleichenden Gewöhnung an die Autorität des Glaubens ausgesetzt werden, der immunisiert sie auch langfristig vor der Gefahr des religiösen Extremismus. Das ist nichts weniger als die integrale Aufgabe von Schulen in einem pluralistischen Rechtsstaats, auch der Grundschulen.


    Zuletzt muss man darauf hinweisen, dass die Grundlage für die Religiosität, die man am besten als einen emotional gefärbten, von kritischer Rationalität und empirischer Überprüfbarkeit befreiten Glaubensakt verstehen kann, nicht nur traditionellem religiösen Aberglauben einen fruchtbaren Boden bereiten. Auch andere Formen der Irrationalität und der Selbsttäuschung beruhen auf den gleichen Grundsätzen und der gleichen systematischen Ausblendung widersprüchlicher Wirklichkeit: Homöopathie, Anthroposophie, Chi-Glaube, Astrologie, Wünschelruten, traditionelle chinesische "Medizin", Akupunktur, Auraheilung, Geisterjagd, Parapsychologie, Pendeln, Verschwörungstheorien etc. pp. Wenn an einer staatlichen Grundschule durch die Autorität der offiziell bestallten Religionslehrer die Grundlagen solcher Vergewaltigungen eines klaren Verstandes als verbindlich zu verstehende Formen des Wirklichkeitsverständnisses vermittelt wird - am allerschlimmsten noch mit wohlmeinender Naivität! - dann ist die Anfälligkeit der Kinder für alle möglichen Verführer vorprogrammiert, solange diese der Religion ähnliche Strategien verfolgen. Dem muss natürlich vorgebeugt werden.


    Damit sind wir bei der Aussage des Comics. Wissenschaft und Religion sind antithetisch. Wissen und Fühlen sind verschiedene Dinge. Die Grundlage für Freiheit ist Misstrauen.


    Deshalb weg mit dem Religionsunterricht.

    2 Mal editiert, zuletzt von neleabels ()

  • hallo


    du sprichst mir aus der seele.


    ich warte sehnsüchtig auf den tag, an dem staat und religion endlich getrennt werden.


    insbesondere schule und religion!
    an dem nicht mehr der allererste schultag in der kirche beginnt, die weiteren erste schultage eines neuen schuljahr wieder in ebendieser. gerne können eltern diesen tag in der kirche feiern, so sie denn möchten.
    wenn ich aber von der schule einen brief bekomme, dass der schulgottesdienst um eine bestimmte uhrzeit beginnt und danach der reguläre unterricht (ohne uhrzeit), dann frage ich mich: wann soll mein kind kommen? um wie viel uhr beginnt die schule?
    geht man davon aus, dass alle in der kirche erscheinen?


    das gleiche im studium in bawü:
    studierende des lehramtes an grund- und hauptschulen studieren ein grundlagenpflichtfach (theologie). dieses wird gem. § 12a der studienordnung ... als einführung in die g- und hs als christliche gemeinschaftsschule mit 2 sws im fundamentum studiert.
    warum muss ich als grundschullehrerin zwei semesterwochenstunden theologie studieren???


    Die Zustimmungen der Kirchenleitungen gemäß § 74 Abs. 2 LHG stehen noch aus. dieser satz steht unter der studienordnung.
    wer ist denn für die lehrerausbildung zuständig: kirche oder staat?


    dies nur zu kirche und schule.
    ich persönlich habe es bei meinen kindern nicht als neutralen religionsunterricht erlebt. nein: es wurde gott gesprochen, der uns alle liebt, seine hände beschützend über uns hält und die entspechende liedchen gesungen.


    lg emmemm

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