echte Chancengleichheit?

    • Offizieller Beitrag

    Reden wir von Chancengleichheit oder von Chancenegalitarismus?

    Mir drängt sich auf der Basis der heutigen Bildungspolitik vorzugsweise des linken politischen Spektrums eher Letzteres auf.

    Chancengleichheit bedeutet für mich, dass Kinder, die auf der Basis dessen, was sie mitbringen, so gefördert werden, dass sie das realistisch Erreichbare auch erreichen. (Ok, definiere "ereichbar"...)

    Die bisherige Chancengleichheit ging in die Richtung, dass jeder Abitur machen müsste - und hat dadurch anteilig die Handwerksberufe nachhaltig diskreditiert. (Ein guter Gas-Wasser-Scheiße-Handwerker verdient heutzutage sicherlich mehr als ein Uniabsolvent mit M.A. Deutsch/SoWi.)

    Es gibt doch diesen Cartoon mit den zwei Formen der Chancengleichheit, wo unterschiedlich große Menschen wahlweise gleich große Leitern bekommen, um über eine Mauer zu schauen (klappt natürlich nicht) oder ungleich große Leitern, damit jeder drüberschauen kann. Vielleicht ist aber gar nicht die Größe der Leiter das Problem sondern die Höhe der Mauer...

  • Ich finde das Thema sehr schwierig. Wir sollten uns klar machen, dass Erziehung zwar viel, aber bei weitem nicht alles ist, was einen Menschen prägt. Ich kenne zu viele Adoptivkinder, um zu denken, dass man Kindern nur ein ideales Umfeld bieten muss, damit diese prächtig gedeihen.

    Natürlich sollten alle Kinder möglichst ideale Bedingungen erhalten. Aber das garantiert den Erfolg auch nicht. Chancengleichheit so allumfassend gibt es (leider!) nicht.

    Dödudeldö ist das 2. Futur bei Sonnenaufgang.

  • Chancengleichheit könnte ja auch bedeuten, dass jedes Kind die gleiche Chance bekommt, sein Potential auszuschöpfen.


    Selbst das ist aber unrealistisch. Aber nur ,weil man das Ideal nicht erreichen kann, muss man ja nicht seine Anstrengungen einstellen.


    Ich glaube aber auch, dass viel zu wenig für frühkindliche Förderung getan wird (und damit meine ich jetzt NICHT, dass man schon früher mit Schul-Artigem Lernen anfangen sollte, Details führen hier zu weit). Vermutlich, weil das Gymnasium als einziges eine nennenswerte Lobby hat (nämlich die ganzen ehemaligen oder verhinderten Gymnasiallehrer, die in die Politik gegangen sind), wird da noch am ehesten was investiert. Auch schön fü das Gymnasium (auch hier könnte man mehr tun), aber eben sehr spät.

  • Bildungspolitik [ist] in Deutschland vor allem ideologisch geprägt

    Hm, überleg... ja, ich glaube, Du hast recht:

    Frühförderung, verpflichtende Kindergartenjahre etc. sind schön und gut, aber letztendlich sollte da eher an die Vernunft der Eltern appelliert werden und auch wenn es im Brennpunkt verantwortungslose Eltern gibt, gibt es dort auch genug Eltern, die einfach Pech im Leben hatten, aber für ihre Kinder das Beste möchten und sich anstrengen, dass es diese mal besser haben werden.

    Echte Chancengleichheit gibt es nicht, aber ich will auch nicht dahin tendieren, dass man sagt: "Die Eltern sind so durch ihr Umfeld geprägt, die können nicht anders.", genauso wie die Kinder. Ein Kind kann auch in einem Alkoholikerhaushalt aufwachsen, schnell erkennen, dass Alkohol Mist ist und die Hände davon lassen.

    Die Mutter der Dummen ist immer schwanger.

  • Du kannst aber ja kaum [...] alles gesetzlich vorschreiben.

    Oh, da kenne ich aber eine Userin, die würde das total gutheißen!

  • Wie heisst es so schön: Aus Mettwurst machste kein Marzipan. "Chancengleichheit" kann nicht sein, dass jeder Abitur/Matura machen muss. Das kann gar nicht sein, denn wir sind nicht alle gleich intelligent. Chancengleichheit kann in dem Zusammenhang nur heissen, dass es bei gleichen kognitiven Voraussetzungen nicht vom sozioökonomischen Hintergrund abhängen darf, welchen Abschluss ein junger Mensch besteht. Leider ist das aber in den meisten Ländern so, leider auch bei uns in der reichen Schweiz. Immerhin müssen bei uns alle Kinder für 1 Jahr verpflichtend in den Kindergarten, das finde ich sehr gut. Der Kanton Basel-Stadt schickt nicht-deutschsprachige Kinder noch vor dem Kindergarten verpflichtend in Spielgruppen zur Sprachförderung. Soweit ich weiss, soll daraus eine Bundesinitiative werden, auch das würde ich sehr begrüssen.


    Ich arbeite an einem Gymnasium mit sehr vielen Migrantenfamilien im Einzugsgebiet. Leider ist es so, dass trotz aller Bemühungen im Kindergarten und der Primarstufe Jugendliche bei uns ankommen, die kaum einen graden Satz auf Deutsch schreiben können. Diverse Evaluierungen (PISA wie auch landesintern) zeigen in dem Bereich auch immer wieder krasse Schwachstellen im Bildungssystem der Schweiz auf: Die Schreib- und Lesekompetenz unserer Kinder und Jugendlichen ist zum Teil unterirdisch, was sich natürlich auch auf die Leistungen in allen anderen Fachbereichen auswirkt. Man kann jetzt viel darüber diskutieren, woran das liegt. Nota bene: An der Fachmittelschule haben wir Klassen mit 100 % Migrationshintergrund, am Gymnasium hängt es sehr vom gewählten Schwerpunktfach ab aber auch in den Profilen B und W gibt es immer mal wieder Klassen mit bis zu 80 % Migrationshintergrund. Das ist aber eine sehr spezielle Situation bei uns an der Schule. Ich sehe es einfach positiv, dass diese Jugendlichen "trotzdem" bei uns sind und ihre Chance bekommen, auch wenn es mühsam ist. Mei ... man muss nicht einen schönen Aufsatz schreiben können um nachher Medizin zu studieren.


    Abgesehen davon finde ich aber, dass es einige sehr gute Regelungen bei uns gibt, die eine Chancengleichheit nach obiger Definition zumindest begünstigt: Über den Übertritt von der Primar in die Sek I und von der Sek I in die Sek II entscheidet zunächst einmal der Notenschnitt und der ist in den meisten Kantonen recht bescheiden angesetzt. Im Baselland reicht z. B. ein Schnitt von einer 4.0 um von der progymnasialen Stufe der Sek I aufs Gymnasium zu wechseln. In diesen Schnitt fliessen grundsätzlich immer alle Zeugnisnoten ein, wobei durch den Zusammenzug der NaWi-Fächer z. B. zu einer Durchschnittsnote eine gewisse Gewichtung stattfindet. Zumindest ist es aber so, dass die Kinder/Jugendlichen gewisse Defizite im Deutsch z. B. durch Noten in Begabungsfächern wie Musik oder Zeichnen wieder ausgleichen können. Bei uns am Gymnasium zählt dann jede Note exakt gleich. Überhaupt finde ich es gut, dass nach der Sek I noch mal bewusst neu über den Übertritt in die Sek II entschieden wird. Mit entsprechend guten Leistungen können die Jugendlichen aus aus dem mittleren Leistungsniveau ans Gymnasium gehen. Wer in die Berufslehre geht, kann parallel dazu oder danach die Berufsmatura machen, die für ein Studium an der FH berechtigt. Das ist ein sehr guter Ausbildungsweg vor allem auch für Jugendliche, die mit den Fremdsprachen Mühe haben.


    Was die genannten Probleme im Elternhaus betrifft ... Nun, da bin ich bei Valerianus, das ist Sache des Jugendamts. Wir sind Lehrpersonen, keine Sozialarbeiter und auch keine Psychologen.

  • Im Baselland reicht z. B. ein Schnitt von einer 4.0 um von der progymnasialen Stufe der Sek I aufs Gymnasium zu wechseln

    Jetzt wollte ich so richtig Schlaubi-Schlumpf-mäßig darauf hinweisen, dass das schweizerische Notensystem ja die 6 als Bestnote hat und die 4,0 deshalb umzurechnen sei, um dann beschämt festzustellen, dass eine Schweizer 4 fast exakt einer deutschen 4 entspricht.


    Das ist dann aber in der Tat ein äußerst großzügiger Schnitt. Da könnten ja selbst unsere Luschiländer noch was lernen.

    Die Mutter der Dummen ist immer schwanger.

  • Hätte ich auch nicht erwartet, da du, @Wollsocken80, ja immer meinst, dass der Anteil an Gymnasiasten bei euch im Jahrgang recht niedrig sei. Ansonsten hätte ich aber auch nicht gedacht, dass deine Schüler sprachlich so große Schwierigkeiten hätten, das klang zuvor immer so... Ich weiß nicht, als ob deine Schüler schlichtweg Musterschüler in Bezug auf ihr Arbeitsverhalten wären.

  • Ich weiß nicht, als ob deine Schüler schlichtweg Musterschüler in Bezug auf ihr Arbeitsverhalten wären.

    Ja sind sie auch. Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.



    Jetzt wollte ich so richtig Schlaubi-Schlumpf-mäßig darauf hinweisen, dass das schweizerische Notensystem ja die 6 als Bestnote hat und die 4,0 deshalb umzurechnen sei, um dann beschämt festzustellen, dass eine Schweizer 4 fast exakt einer deutschen 4 entspricht.

    Nein, so direkt kannst Du es nicht umrechnen da alles unter 4.0 ja schon als "ungenügend" zählt. Dann ist es aber auch so, dass wirklich tiefe Noten, also 1en und 2en, im Zeugnis kaum vorkommen.

  • Ein Kind kann auch in einem Alkoholikerhaushalt aufwachsen, schnell erkennen, dass Alkohol Mist ist und die Hände davon lassen.

    Das sind Sätze, bei denen ich mich frage, wie man Bildung genießen und eine pädagogische Berufsausbildung mit erstem und zweitem Staatsexamen absolvieren kann, ohne die grundlagigsten Grundlagen von Psychologie, ach, was sage ich, von einfachstem, menschlichen Einfühlungsvermögen zu entwickeln.


    ...

    Fazit: Ist Schule hier nur wieder ein willkommener Sündenblock für vorangegangenes staatliches Versagen? Denn eine frühe Betreuung und Förderung benachteiligter Kinder kostet viel viel mehr Geld als den Schulen und Lehrern einfach die Verantwortung in die Schuhe zu schieben.

    Also keine Frage deinerseits, sondern eher ein rhetorisches Stilmittel. Deine Meinung steht schon fest.

  • @Wollsocken80: Dann kam das falsch rüber, sorry ;) .


    @samu: Das sind vlt. unterschiedliche Perspektiven. Du bist jetzt berufsbedingt näher an den "Problemfällen" dran, aber ich bin eigentlich eher so eingestellt, dass ich sage: "Du kannst es schaffen, egal wo du herkommst, aber du musst dich anstrengen.".

  • Man könnte theoretisch wohl schon, ja. Was ich bei uns aber halt beobachte ist, dass häufig die Einstellung der Eltern sehr konservativ ist und dann halt für das Kind der vermeintlich adäquate Weg entschieden wird. Der ganz krasse Unterschied zu Deutschland ist der, dass die Berufslehre hier einen sehr viel höheren Stellenwert hat. Vor allem nicht-Akademiker sind immer noch oft der Meinung, dass die eigenen Kinder dann doch auch einfach in die Lehre gehen können. Das kommt hier gar nicht so sehr von den Lehrpersonen als dann doch eher von zu Hause. Ich hab in meiner eigenen Klasse auch mehrere Jugendliche, die aus dem mittleren Niveau der Sek I ans Gymnasium gekommen sind, weil die Eltern gefunden haben "ach ... der/die soll sich mal nicht überfordern". Sowas ärgert mich, wenn ich das höre, denn diese Jugendlichen haben dann am Gymnasium oft unnötig Schwierigkeiten mit Mathe und/oder Französisch.

  • Den gegenteiligen Fall hast du dafür oft in Deutschland: "Ach, der/die schafft das schon irgendwie.". Diese Jugendlichen fahren im Prinzip jahrelang knapp an einer Wand vorbei, ehe es irgendwann zum unausweichlichen Crash kommt. Ich hatte selbst die Erfahrung im Studium machen müssen und es ist ein blödes Gefühl, das zwar durch das deutsche Bildungssystem ermöglicht wird, bei dem man aber als Lehrer relativ machtlos ist, außer man schafft es irgendwie, an die Vernunft der Eltern zu appellieren. Nicht nur aus eigener Erfahrung, sondern auch durch Erfahrung mit Mitschülern im Gymnasium, würde ich mich bei meinen eigenen Kindern im Zweifel immer (!) für die niedrigere Schulform entscheiden.

  • @samu: Das sind vlt. unterschiedliche Perspektiven.

    Komm mir nicht wieder mit den angeblich konträren Sichtweisen. Schau dich an, hast du dich jemals weiterentwickelt? Menschen kommen geprägt aus ihren Familien, jede Erfahrung, jedes Trauma hängt ihnen ihr Leben lang an, ist ein Teil von ihnen. Eine Therapie ist ein langer Prozess, zu dem man erst mal bereit sein muss und der trotzdem nicht alles Erlebte ausbügeln kann. Wahrnehmen und Verarbeiten von sozialen Situationen, Beziehungen und Selbstbild erlernt man in den ersten Lebensjahren und sie sind kaum reversibel. Oder denkst du, Menschen, die in früher Kindheit Gewalt erlebt haben sagen sich einfach "hm, doof gelaufen, mach' ich selber nicht" und führen dann eine glückliche Ehe, wissen automatisch, wie man seine Kinder emotional stabil erzieht, sind grundsätzlich positiv gestimmt und haben Erfolg im Beruf? Bitte, lies deine Sätze erst durch und schicke sie dann ab, wenn sie mehr sagen als hohle Phrasen, Ignoranz macht mich wütend.

  • Nein, so direkt kannst Du es nicht umrechnen da alles unter 4.0 ja schon als "ungenügend" zählt. Dann ist es aber auch so, dass wirklich tiefe Noten, also 1en und 2en, im Zeugnis kaum vorkommen.

    Ja, ich weiß. Ich hatte diverse Umrechnungstabellen zu Rate gezogen, die auf eine Spanne von ca. 3,5 bis 4 gekommen sind.

    Die Mutter der Dummen ist immer schwanger.

  • @ samu: Das sind vlt. unterschiedliche Perspektiven. Du bist jetzt berufsbedingt näher an den "Problemfällen" dran, aber ich bin eigentlich eher so eingestellt, dass ich sage: "Du kannst es schaffen, egal wo du herkommst, aber du musst dich anstrengen.".

    Selten hatte Nuhr so recht.

  • @samu Du arbeitest mit den Ghetto-Kids, aus denen meistens nix wird. Ich arbeite mit den Ghetto-Kids, für die es meistens ein Happy End gibt. Das was wir täglich sehen, prägt unsere Wahrnehmung. Weder glaube ich an "man muss sich nur genügend anstrengen" noch teile ich Deinen Pessimismus.


    Das Spannende am Schulbetrieb in der Schweiz finde ich, dass hier die Extrema so nah beieinander liegen. Das Gymnasium Bäumlihof hat z. B. Riehen und Kleinhüningen im Einzugsgebiet, da trifft das Migranten-Ghetto dann auch mal auf die Kinder von Severin Schwan. Der seine Kinder übrigens tatsächlich an ein öffentliches Gymnasium schickt ;)

  • @samu Du arbeitest mit den Ghetto-Kids, aus denen meistens nix wird. Ich arbeite mit den Ghetto-Kids, für die es meistens ein Happy End gibt. Das was wir täglich sehen, prägt unsere Wahrnehmung. Weder glaube ich an "man muss sich nur genügend anstrengen" noch teile ich Deinen Pessimismus.

    Ich bin nicht pessimistisch, sondern sage, wie es ist. Du wirst auch auf Kinder von Alkoholiker*innen treffen. Bei uns kommt halt noch Bildungsferne und Armut hinzu, das ist aber nicht so ausschlaggebend für Resilienz. Oder wie valerianus schrieb, es Bedarf nur weniger Komponenten einer gesunden Erziehung, die fällt nicht weg, wenn Eltern lernbehindert sind, aber wenn sie suchtkrank sind.

  • Du wirst auch auf Kinder von Alkoholiker*innen treffen.

    Ja und die werden eben nicht zwangsläufig selbst zu Alkoholikern auch wenn die Wahrscheinlichkeit vermutlich höher ist. Da sage ich jetzt auch nur wie es ist.

    • Offizieller Beitrag

    Es kommt auf zentrale Werte an, um auch aus benachteiligten persönlichen Umständen nach oben zu kommen.
    Ehrgeiz, Anstrengungsbereitschaft, Anstand, Frustrationstoleranz, Reflexionsvermögen.

    Wer bereits ansatzweise mit goldenem Löffel im Mund geboren wurde, kommt auch mit deutlich weniger ausgeprägten Werten wie oben genannt aus...

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