Englischunterricht und Gehörlosigkeit

  • Ihr werdet es kaum glauben!


    Gestern kam ein Brief des Ministeriums, dass gehörlose Schüler nicht mehr am Hörverstehens-Teil der Prüfungen teilnehmen müssen. Dieser darf nun ersatzlos gestrichen werden. Dafür haben sich die Schulleiter der 8 Hörgeschädigtenschulen in BW stark gemacht.


    @samu: Ja, genau das ist eben das Problem. Es gibt keine Englischlehrer in Deutschland (mit Ausnahme von 2! jeweils in Hamburg und Berlin), die eine englische Gebärdensprache so beherrschen, dass sie es den Schülern beibringen können.


    In unserem Fall wäre z.B. ein "Chat" als Prüfung die optimale Möglichkeit. Das wird allerdings vom Ministerium abgelehnt, da Lautsprache flüchtig ist und ein Chat eben länger sichtbar und nachlesbar ist. Ich bin mir allerdings sicher, dass es da technische Möglichkeiten geben würde, wenn man denn wollen würde.

    • Offizieller Beitrag

    Ihr werdet es kaum glauben!


    Gestern kam ein Brief des Ministeriums, dass gehörlose Schüler nicht mehr am Hörverstehens-Teil der Prüfungen teilnehmen müssen. Dieser darf nun ersatzlos gestrichen werden. Dafür haben sich die Schulleiter der 8 Hörgeschädigtenschulen in BW stark gemacht.

    Das Ministerium liest mit!!
    :klatsch:

  • Super! Aber da finde ich, dass auch die Lehrerbildung reformiert werden sollte. Ich kenne noch den Studienaufbau von Englisch für Förderschullehramtsstudenten an meiner ehemaligen Uni und nennenswerte Seminare für Förderschulbedürfnisse wurden nicht angeboten. Ich verstehe, dass deren Organisation immer schwierig ist, da die paar Förderschulhanseln sich auf mehrere Unterrichtsfächer und Förderschwerpunkte aufteilen, aber man kann kaum erwarten, dass eine berufliche Qualifikation wie Gebärdensprache mal eben in der Freizeit erworben wird. Dafür sollte wenigstens ein Seminar mit CP pro Semester angeboten werden.

  • Das Ministerium liest mit!!
    :klatsch:

    Das Ministerium dürfte verstanden haben, dass es vernünftiger ist frühzeitig einzulenken, ehe betroffene SuS bzw. deren Eltern Klage wegen Diskriminierung einreichen und damit- selbstverständlich- auch durchkommen würden. Diese Peinlichkeit muss ja nicht sein... (schlimm genug, dass man auf die Idee nicht von alleine gekommen ist!!!). Frau Eisenmann möchte Ministerpräsidentin werden, da macht sich so eine Klage wegen Menschenrechtsverletzungen im eigenen Ressort unfassbar schlecht.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Klage gegen Menschenrechtsverletzungen? Klingt das nicht ein bisschen übertrieben ^^ ? Aus globaler Sicht gibt es Menschen, die deutlich schlimmer dran sind.

    • Offizieller Beitrag

    Das Recht auf eigene Sprache ist ein Menschenrecht.
    Das Recht auf körperliche Unversehrtheit auch und die hoffentlich mittlerweile nicht mehr existierenden Zwänge der oralen Erziehung waren körperliche Verletzung.

    Ich hoffe, du bist ein rein glücklicher, stets gut gelaunter Mensch, schließlich gibt es immer Menschen, denen es schlechter geht.

  • Klage gegen Menschenrechtsverletzungen? Klingt das nicht ein bisschen übertrieben ^^ ? Aus globaler Sicht gibt es Menschen, die deutlich schlimmer dran sind.

    Mein Gott, was für ein Trauerspiel! Setz dich auf den Hosenboden, nimm dir dein Grundgesetz und dann lies dir nochmal durch, was dort steht über den Umgang mit Menschen mit Behinderung und fang bitte ganz unbedingt mit Artikel 1 an. Schülerinnen und Schülern gezielt ein Prüfungsversagen zuzumuten indem man ihnen eine Prüfungsleistung abverlangt, die sie infolge ihrer Behinderung niemals und unter keinen Umständen leisten können IST diskriminierend, und VERLETZT die Menschenrechte dieser Schülerinnen und Schüler. Das tritt die Würde dieser Schülerinnen und Schüler mit Füßen. Und es ist wurschtpiepegal, wem es global gerade noch schlechter geht: Das ist die eigene Haustür und hier müssen wir anfangen etwas zu ändern und Menschenrechte zu wahren, ehe wir auf andere in der Welt mit dem Finger zeigen und anzustoßen versuchen dort etwas besser zu machen.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

    • Offizieller Beitrag

    aber man kann kaum erwarten, dass eine berufliche Qualifikation wie Gebärdensprache mal eben in der Freizeit erworben wird. Dafür sollte wenigstens ein Seminar mit CP pro Semester angeboten werden.

    Geld, Geld regiert die Welt...
    Ein Sprachdozent ist nunmal furchtbar teuer. und im Sprachkurs können nur wenige Leute dabei sein (ich glaube, 8 waren es in Berlin?). und mit 2 Stunden die Woche ist es zwar ein guter Anfang, aber nicht ausreichend. Aus der Erinnerung: in Berlin sind es 6-8 Stunden die Woche während des ganzen Studiums, und soviele andere Kurse sind in Gebärdensprache, dass man wirklich lernen kann.

    Vorteil: Sprachkompetenz
    Nachteil: (neben den horrenden Kosten) soviel Aufwand, dass man keinen zweiten Förderschwerpunkt haben kann und damit ist die Flexibilität des späteren Einsatzes schwierig. (Was widerum für ein Land auch doof ist, schliesslich hat man in die Ausbildung investiert. Aber à propos Investition: ich kenne keine aktuellen Daten, ich arbeite also mit alten Daten: nur Berlin, Köln (NRW), Hamburg, Heidelberg? (BaWü) und München (BY) bilden im Förderschullehramt aus? Alle mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Schliesslich ist Schwerhörigenpädagogik nicht Gehörlosenpädagogik...

  • ...da

    Aber er spricht kein Englisch, da er nur Deutsch gebärden kann. Und ganze Sätze mit dem Fingeralphabet zu buchstabieren... geht das?

    Ja, das hab ich ja verstanden :)

    Ich versuche nur zu sagen, dass ich die Prüfung im Zweifel halt so gestalten und rechtlich auslegen würde, dass es für den Jungen machbar ist :)

    Wir müssen die Schüler auch oft regelrecht ausquetschen in den mündlichen Prüfungen und es kommen oft nur Zweiwortsätze bei raus. Das würde er mit Sicherheit schaffen zu buchstabieren... so bekloppt das auch wäre ... Aber Hauptsache er macht seine Prüfung.

  • Aber à propos Investition: ich kenne keine aktuellen Daten, ich arbeite also mit alten Daten: nur Berlin, Köln (NRW), Hamburg, Heidelberg? (BaWü) und München (BY) bilden im Förderschullehramt aus? Alle mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Schliesslich ist Schwerhörigenpädagogik nicht Gehörlosenpädagogik...

    Japp, das sind die fünf. Bei Sehen sind's sogar nur vier Unis. Die Trennung zwischen Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik gibt es als Förderschwerpunkt im schulischen Tagesgeschäft nicht mehr - das ist alles der Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation (HK). Getrennte Schulen, Abteilungen an den Förderschulen oder Klassen nur für Gehörlose gibt es nur noch sehr selten außer vielleicht in sehr großen Metropolen wie Hamburg oder Berlin. Früher gab es die Gehörlosenschule in Dortmund und die Schwerhörigenschule in Bochum, was wegen der wenigen Gehörlosen nicht mehr haltbar wurde. Die Schule in Dortmund ist jetzt eine Realschule und in Bochum gibt es mittlerweile sogar eine Abteilung für Geistige Entwicklung.

  • Eine Trennung zwischen gehörlos und schwerhörig macht heutzutage aus vielerlei Gründen keinen Sinn mehr.


    Zum einen betrifft das natürlich die Kinder selbst. Eine Hörschädigung ist in ihrer Auswirkung so komplex, dass man heute gar nicht mehr zwischen klassisch gehörlos und schwerhörig trennen kann, bzw. man eher nach den Auswirkungen sortiert (lautsprachlich,bilingual, gebärdensprachlich + kognitive Entwicklung):


    - Ich kenne gehörlose Kinder und Jugendliche die weitgehend lautsprachlich erzogen werden. Diese haben meist hörende Eltern und eine dermaßen schlechte Gebärdenkompetenz, dass sie gar nicht in gebärdensprachlichen Klassen unterrichtet werden können.


    - Ich kenne aber auch schwerhörige Kinder, die so wenig gefördert worden sind, dass sie ihr Hörvermögen gar nicht richtig ausnutzen können und deren Lautsprache ebenfalls mehr als schlecht ist. Wenn sie Glück haben, ist ihre Gebärdensprachkompetenz in Ansätzen vorhanden oder zumindest besser als ihre Lautsprachkompetenz. Meist haben sie zusätzlich eine Lernbehinderung oder eine geistige Behinderung.


    - Ich kenne hochgradig schwerhörige Kinder, die eine so gute Gebärdenkompetenz und eine super Lautsprachkompetenz haben, so dass die Klasse fast schon egal ist.


    Durch den technichen Fortschritt gibt es heutzutage nur noch sehr wenige wirklich gehörlose Kinder und Jugendliche. Früher galt man schon als gehörlos, wenn man nur hochgradig schwerhörig war. Heute bekommen schon Babys Hörgeräte und sind nicht mehr "gehörlos". Ich wage auch zu behaupten, dass weit über 90% der gehörlos geborenen Babys im ersten Lebensjahr ein Cochlear-Implantat bekommen.

    In den großen Hörgeschädigtenschulen haben wir dann maximal 1-2 Kinder pro Jahrgang, die ausschließlich in Gebärdensprache unterrichtet werden müssten. Wenn ich da an meine Schule denke, sitzen diese Kinder gerade in 3 Klassen der Sekundarstufe. Da diese Anzahl aber nicht für eine eigene Klasse reicht, wird es in der Praxis schwierig. Und wenn so eine Klasse tatsächlich mal zustande kommt (bei uns gerade eine 5.), dann sind diese Kinder nicht zwingend gehörlos, sondern alles von hochgradig schwerhörig bis gehörlos, schlecht lautsprachlich entwickelt und zum Großteil deutlich kognitiv eingeschränkt.


    Für uns Lehrer wird dies zum Problem. Zu den "klassisch hörgeschädigten" Schülern kommen nämlich seit vielen Jahren die Kinder mit einer auditiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung dazu. Die "hören" eigentlich normal, aber mit der auditiven Verarbeitung im Gehirn stimmt etwas nicht. Diese Schülergruppe hat jedoch oft ganz andere Bedürfnisse und eigentlich müssten sie ebenfalls wieder in eigenen Lerngruppen unterrichtet werden.


    Die Konsequenz sieht man dann in meiner Englischklasse: Da ist eben alles dabei... Kognitiv fit mit Wahrnehmungsstörung und normaler Lautsprache, kognitiv fit und völlig gehörlos und praktisch ohne Lautsprache, kognitiv eher unterdurchschnittlich aber lautsprachlich gut gefördert und gute technische Versorgung, lernbehindert mit extremer Wahrnehmungsstörung sowie körperlich massiv eingeschränkt und nichtsprechend.


    All diese Kinder sitzen nun in einer Klasse und sollen alle entsprechend im Fach Englisch gefördert werden... Ich glaube Frapper kennt meinen Frust aus dem Alltag. Da ist die Zuordnung eigentlich auch egal.

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